URI: 
       # taz.de -- Streit um das EU-Budget: Rauchzeichen aus Budapest
       
       > Ungarns Premier Viktor Orbán deutet die Möglichkeit eines Kompromisses
       > an. Doch der Verdacht liegt nahe, dass er damit nur Zeit gewinnen will.
       
   IMG Bild: Die EU ist nicht nur schlecht für Ungarn und Victor Orban, solange das Geld fließt
       
       Brüssel/Budapest taz | Im erbitterten Streit um das EU-Budget und den
       Rechtsstaat hat Ungarn erstmals Kompromissbereitschaft erkennen lassen.
       „Viele verschiedene Lösungen sind möglich, es ist nur eine Frage des
       politischen Willens“, sagte Ministerpräsident Viktor Orbán in einem am
       Freitag veröffentlichten Interview.
       
       Für Ungarn und Polen seien Einigungen akzeptabel, „die auf der Grundlage
       rechtlicher Standpunkte und nicht durch politische Mehrheiten“ erzielt
       würden, erklärte Orban. „Die Gespräche müssen weitergehen und am Ende
       werden wir eine Einigung erreichen, so läuft es normalerweise.“
       
       Ungarn und Polen hatten am Montag ihr Veto gegen das 1,8 Billionen Euro
       schwere EU-Budget und den Corona-Hilfsfonds eingelegt. Sie widersetzen sich
       damit dem Plan, EU-Gelder bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundsätze
       künftig zu kürzen oder ganz zu streichen.
       
       Den so genannten Rechtsstaats-Mechanismus hatte das Europaparlament mit dem
       deutschen EU-Vorsitz ausgehandelt. Eine nachträgliche Änderung komme nicht
       infrage, sagte der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund der taz. Kanzlerin
       Angela Merkel dürfe Orban [1][keine Zugeständnisse] machen, sondern müsse
       dafür sorgen, dass der Mechanismus schnell in EU-Recht umgesetzt werde.
       
       ## Nur 20 Minuten
       
       Eine schnelle Beilegung des Streits ist jedoch nicht in Sicht. Die Staats-
       und Regierungschefs befassten sich bei einer Video-Konferenz am
       Donnerstagabend nur kurz mit dem Thema. Die Beratungen dauerten nur 20
       Minuten und brachten keine Lösung. Merkel sprach danach von einem „sehr
       ernsthaften Problem“. Sie sah die Lösungssuche mit Budapest und Warschau
       „noch ganz am Anfang“.
       
       Die Telefone laufen zwar schon seit Tagen heiß. Bisher wiederholen die
       Beteiligten aber immer nur dieselben Argumente. „Ohne objektive Kriterien
       und eine Chance auf Berufung kann man die Bestrafung einzelner
       Mitgliedstaaten nicht einführen“, so lautet die Begründung Orbáns, warum er
       den [2][Rechtsstaatsmechanismus] verhindern will.
       
       Um seine Ziele zu erreichen, riskiert er mit seinem Veto die Lähmung
       Europas. Dabei geht er äußerst rational vor. Orbán weiß, dass aus der
       Möglichkeit einer Bestrafung ganz schnell ein tatsächliches Einfrieren der
       Fördergelder im Falle Ungarns werden könnte.
       
       Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat das Land bereits mehrfach
       verurteilt, Budapest setzt aber die Richtersprüche nur schleppend um. Dafür
       könnte das Land schon im kommenden Januar bestraft werden.
       
       ## Objektive Kriterien
       
       Wer aber Orbáns Begründung aufmerksam liest, erkennt einen Weg zu einem
       Kompromiss. Die Mitgliedstaaten könnten sich auf „objektive Kriterien“
       verständigen, wie das zum Beispiel der Think Tank „European Stability
       Initiative“ vorschlägt. Strafen könnten im Rahmen eines sogenannten Artikel
       19-Verfahrens nur dann verhängt werden, wenn ein Staat sich weigert, einem
       EuGH-Urteil zu folgen.
       
       Die Idee stammt vom dem Vorsitzenden der „European Stability Initiative“
       Gerald Knaus, der in Ungarn als „Dirigent des George Soros Orchestra“
       beschimpft wird. Der US-Milliardär Georges Soros fördert die
       Zivilgesellschaft in Ungarn und ist daher für Orbán ein Hassobjekt. Dennoch
       erfährt Knaus mit seinem Vorschlag Rückendeckung aus Budapest. Eine zweite
       Lösungsmöglichkeit wäre eine Einigung der Mitgliedsländer auf einen
       Rechtsweg, der sanktionierten Ländern offen stehen würde, um das Urteil
       anzufechten.
       
       Orbán hat auch schon mögliche Fristen für ein Berufungsverfahren vor dem
       Europäischen Gerichtshof genannt. Ein derartiges Prozedere würde ein
       rechtskräftiges Einfrieren der Fördergelder verzögern. Damit will Orbán vor
       allem eins erreichen: Zeit gewinnen. Er muss sich im April 2022 dem Votum
       der Wähler*innen stellen. Anders als in der Vergangenheit, muss er gegen
       eine Rezession und die Folgen der Corona-Pandemie ankämpfen.
       
       Doch nicht nur das: Verliert Orbán die Macht, dürfte es zu einer
       juristischen Aufarbeitung seiner korrupten Amtszeit kommen. Kann er aber
       Strafen bis zur Wahl hinauszögern, hat er weiterhin Geld für seine Kampagne
       und einen hervorragenden Sündenbock, der die Misere verschuldet hat:
       Brüssel.
       
       ## Illusionen verflogen
       
       In Ungarn rechnen auch Oppositionspolitiker*innen nicht damit, dass Orbán
       ohne weiteres den Kampf aufgibt. Sie haben oft gehofft, die EU werde
       Ungarns Ministerpräsidenten stoppen. Aber diese Illusionen sind verflogen.
       Die Menschen in Ungarn glauben, Orbán werde Angela Merkel schon zum
       Nachgeben bewegen, um sich dann zum Sieger zu erklären. Und so bliebe alles
       beim Alten.
       
       Der heimliche Chef der ungarischen Opposition ist der Oberbürgermeister von
       Budapest. Gergely Karácsony hat jetzt einen offenen Brief an Orbán
       geschrieben, in dem er ihn bat, Europa nicht zu ruinieren. Viel Hoffnung
       hat er wohl nicht, dass Orbán tatsächlich einlenkt.
       
       Aber auch er ist schon im Wahlkampfmodus. Karácsony verkündete auf seiner
       Facebook-Seite die Ergebnisse der aktuellen Sonntagsfrage. Danach liegt die
       Opposition nach langer Zeit erstmals vor der Regierungspartei Fidesz. Wer
       fragt, warum Orbán so erbittert gegen Brüssel kämpft, findet die Antwort in
       eben dieser Umfrage. Es könnte für Orbán eng werden.
       
       20 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Blockierte-EU-Haushaltsverhandlungen/!5729626
   DIR [2] /Geldstrafen-fuer-EU-Rechtsstaatssuender/!5726522
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eric Bonse
   DIR Gergely Márton
       
       ## TAGS
       
   DIR Ungarn
   DIR Viktor Orbán
   DIR Europäische Union
   DIR EU-Budget
   DIR Europäische Union
   DIR Schwerpunkt Angela Merkel
   DIR Europäische Union
   DIR EU-Haushalt
   DIR EU-Budget
   DIR EU-Budget
   DIR Rechtsstaatlichkeit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Nach Nazi-Vergleich von Europapolitiker: Maulkorb für Fidesz-Mann
       
       Der Ungar bekommt keine Redezeit mehr im Europaparlament, wird aber nicht
       aus der EVP-Gruppe geworfen. Mancher glaubt, Berlin habe interveniert.
       
   DIR Streit vor EU-Gipfel: Merkel muss um ihre Bilanz bangen
       
       Auf dem letzten EU-Gipfel unter deutschem Vorsitz droht viel Ärger. Beim
       Haushaltsstreit mit Polen und Ungarn scheint jedoch ein Kompromiss in
       Sicht.
       
   DIR Streit um Rechtsstaatlichkeit in EU: Patt in Brüssel
       
       Der Budgetstreit geht weiter, Ungarn und Polen bestehen auf ihrem Veto. Das
       Europaparlament ist in Rage, Merkel scheut bislang vor einem Bruch zurück.
       
   DIR EU-Haushaltsstreit: Eine populistische Erpressung
       
       Der EU-Haushalt 2021–2027 ist tatsächlich in Gefahr. Die Bürger:innen in
       Polen und Ungarn müssen erfahren, was ihnen das Rechtsstaatsverfahren
       bringt.
       
   DIR Budgetkrise in der EU: Am besten „aussitzen“
       
       Nach dem Veto Ungarns und Polens gegen den EU-Haushalt muss der deutsche
       Ratsvorsitz einen Weg aus der Blockade finden. Nur wie?
       
   DIR Blockierte EU-Haushaltsverhandlungen: Auch Merkels Fehler
       
       Die EU muss gegenüber Ungarn und Polen klare Kante zeigen. Für die
       Eskalation ist aber auch die passive Rolle der Kanzlerin im Sommer
       verantwortlich.
       
   DIR Streit um Rechtsstaat und EU-Haushalt: Ungarn und Polen blockieren
       
       Der Streit um die Bindung von EU-Geldern an Rechtsstaatsprinzipien
       eskaliert. Ungarn und Polen legen ein Veto gegen die Corona-Aufbaufonds
       ein.