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       # taz.de -- Clarice Lispector, Autorin aus Brasilien: Die hässlichen Seiten des Lebens
       
       > Ein neuer Band mit Erzählungen von Clarice Lispector lässt ihre
       > Modernität erkennen. Am 10. Dezember vor 100 Jahren wurde sie geboren.
       
   IMG Bild: Clarice Lispector wird zu ihrem 100. Geburtstag mit einer Vielzahl an Publikationen geehrt
       
       „Es gibt irgendetwas“, schreibt Clarice Lispector über Brasília, „das mir
       Angst macht. Wenn ich herausfinde, was mich erschreckt, werde ich auch
       wissen, was ich hier liebe. Die Angst hat mich immer zu dem geführt, was
       ich will.“
       
       Die Hauptstadt Brasiliens, von Lúcio Costa und [1][Oscar Niemeyer] in den
       1950er Jahren auf dem Reißbrett geplant, ist für die am 10. Dezember 1920
       in der Ukraine geborene, im Nordosten Brasiliens aufgewachsene Autorin ein
       Spiegel. Ein Spiegel, der ihr Inneres wie im Traum verdichtet und
       verschoben ausdrückt. In einem beeindruckenden Feuerwerk an Assoziationen
       entfaltet Lispector in der Erzählung „Brasília“ das Panorama einer Seele,
       die zu fassen sie letztlich scheitert. Brasília ist wie ein „hingestreckter
       Stern“, schreibt sie, „das Scheitern des spektakulärsten Erfolgs der Welt“.
       
       Auch alle anderen Erzählungen in „Aber es wird regnen“, [2][dem jetzt
       vorliegenden zweiten Band sämtlicher Erzählungen,] sind vom Scheitern
       gekennzeichnet. In „Bericht vom Ding“ ergeben sich die Schwierigkeiten, das
       zu beschreiben, was wir unter „Zeit“ verstehen, gleich am Anfang, als der
       Blick der Ich-Erzählerin zufällig auf ihren elektrischen Wecker fällt, auf
       dem „Sveglia“ steht – das italienische Wort für „wecken“. „Wir unterteilen
       die Zeit, dabei ist sie nicht teilbar.“ Und: „Du träumst nicht … Man kann
       nicht sagen, dass du,funktionieren' würdest: Du bist kein Funktionieren, du
       bist einfach nur.“ Am Ende bleibt ihr nur die Erkenntnis, dass es die Zeit
       ist, die sie tötet: „Sterben ist Sveglia“.
       
       In dem „Bericht vom Ding“ gibt es keine wirkliche Geschichte. Es ist aber
       auch keine philosophische Abhandlung. Die Erzählung unterstreicht mit ihrer
       Überschreitung von Genregrenzen, dass Clarice Lispector bis zum Ende ihres
       Lebens der literarischen Moderne treu geblieben ist. Bereits in ihrem
       ersten Roman von 1944, „Nahe dem wilden Herzen“, hatte sie der
       sozialrealistischen Tradition der brasilianischen Literatur eine Absage
       erteilt.
       
       ## Bigotterie und Repression
       
       Literarisch beeinflusst wurde sie dagegen von Virginia Woolf und James
       Joyce. So sind die Erzählungen aus dem 1974 erschienenen Band „Kreuzweg des
       Leibes“ von der, wie Herausgeber Benjamin Moser im Anhang schreibt,
       „zunehmend konservativen Haltung in den repressivsten Jahren der
       brasilianischen Diktatur“ wie Joyce’ „Ulysses“ als „pornografisch“
       angesehen worden.
       
       Die offene Thematisierung von Sexualität und die Kritik an der bigotten
       Haltung der katholischen Kirche erinnern aber nicht nur an den irischen
       Autor, sondern gleichzeitig an die Idee der literarischen Moderne, das
       ganze Leben – auch in seinen als hässlich und ekelhaft empfundenen Aspekten
       – zum Gegenstand von Kunst zu machen.
       
       Clarice Lispectors Protagonisten sind Frauen. Wobei die Tatsache, dass ihre
       Erzählungen auch für männliche Leser verständlich und mit Gewinn zu lesen
       sind, darauf hinweist, dass letztlich die erfolgreiche Vermittlung von
       Empathie für eine literarisch überzeugend geschriebene Geschichte
       entscheidend ist. In einer gelungenen Erzählung lassen sich Gefühle und
       Gedanken auch für das jeweils andere Geschlecht nachvollziehen. Nur dass
       Lispector von Frauenschicksalen erzählt, für die sich ihre männlichen
       Avantgarde-Kollegen meist nicht interessiert haben.
       
       In „Brasília“ nennt sich Lispector eine „demütige Dienerin der Wahrheit“.
       In allen Erzählungen ist diese Haltung zu spüren. Immer geht es ihr darum,
       eine „wahre“ Geschichte zu erzählen, die Wirklichkeit möglichst genau
       auszudrücken.
       
       Das macht ihre Erzählungen interessant und spannend, obwohl sie auch hier
       immer wieder an ihrem Anspruch scheitert. Darin unterscheidet sich
       Lispector auch von Autorinnen und Autoren, die zwar gut erzählte
       Geschichten schreiben, aber aus Angst zu scheitern nichts riskieren. Dabei
       sind es gerade die gescheiterten Versuche, die überzeugen. Auch ein Marcel
       Proust war letztlich mit seinem Versuch gescheitert, in der „Suche nach der
       verlorenen Zeit“ seine Kindheit zu rekonstruieren.
       
       Als Motto der Erzählung „Die Abfahrt des Zuges“ zitiert sie den englischen
       Arzt und Anatomen William Harvey. Er entdeckte im 17. Jahrhundert den
       Blutkreislauf und schrieb: „Was ich kundtun werde, ist so neu, dass ich
       befürchte, mir die gesamte Menschheit zum Feinde zu machen, so tief
       verwurzelt sind auf der Welt die Vorurteile und Lehren, die einmal
       angenommen wurden.“ Für den heutigen Leser ist vieles an den Erzählungen
       Lispectors zwar nicht mehr neu. Aber vielleicht ist gerade deshalb ihre
       Zeit gekommen, eine Zeit, in der wir ihre Texte erst wirklich verstehen.
       
       Clarice Lispector: „Aber es wird regnen“. Aus dem Portugiesischen von Luis
       Ruby. Penguin, München 2020. 288 Seiten, 22 Euro
       
       10 Dec 2020
       
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