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       # taz.de -- DDR-Staatsdoping: Nicht nur Opfer
       
       > Vor Gericht wird über die Lebensgeschichte einer Dopingopfer-Aktivistin
       > gestritten. Dabei wird auch die Rolle der Sportler im DDR-System
       > verhandelt.
       
   IMG Bild: Betrüger oder Betrogener: Olympiasieger Christian Schenk wusste, was er 1988 eingenommen hatte
       
       BERLIN taz | Seit mehr als zweieinhalb Jahren gibt es heftige Kritik am
       Doping-Opferhilfe-Verein (DOH), dessen Beratungsstelle kürzlich von
       Berlin-Mitte in die ehemalige Stasi-Zentrale nach Berlin-Lichtenberg
       umgezogen ist. Der Verein war 1999 gegründet worden, um sich für Opfer des
       DDR-Dopings einzusetzen. Langjährige, dem Verein eng verbundene Experten
       wie der Molekularbiologe Werner Franke oder der Sportlehrer Henner Misersky
       [1][wandten sich im Jahr 2018 ab].
       
       Sie werfen dem Verein und der von 2013 bis Ende 2018 amtierenden
       Vorsitzenden Ines Geipel unter anderem vor, die Zahlen der DDR-Dopingopfer
       in die Höhe zu treiben und von Spätfolgen des DDR-Dopings zu sprechen,
       obwohl diese wissenschaftlich unzureichend begründet seien. Die
       Auseinandersetzungen der Protagonisten beider Lager beschäftigen die Justiz
       in Berlin bis heute.
       
       Der eine Fall betraf eine Auseinandersetzung zwischen dem seit Dezember
       2018 amtierenden DOH-Vorsitzenden Michael Lehner (66) und dem
       Doping-Aufklärer Werner Franke (80). Bei einer Pressekonferenz des
       Doping-Opferhilfe-Vereins im Haus der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
       SED-Diktatur in Berlin im August 2019 wollte Lehner [2][mit körperlichem
       Einsatz] den Zutritt von Franke zur Pressekonferenz verhindern.
       
       Es kam zu Rangeleien. Wochen später stellte Jurist Lehner Strafanzeige
       gegen Franke. Der Vorwurf: Körperverletzung. Nachdem das Amtsgericht
       Berlin-Tiergarten zunächst einen Strafbefehl gegen Franke verhängt hatte,
       stellte das Gericht nach einem Einspruch von Franke das Verfahren ein.
       Dessen „etwaige Schuld“ wäre gering, öffentliches Interesse an der
       Verfolgung bestehe nicht. Lehner erklärte auf Anfrage, er wolle die
       Entscheidung des Gerichts nicht kritisieren.
       
       ## Überzogene Opferdarstellung
       
       Der zweite Fall, der vor dem Landgericht Berlin landete, betrifft die
       Auseinandersetzung zwischen Ines Geipel, damals noch Vorsitzende des DOH.
       Diese hatte im Juni 2018 den Antidopingkämpfer Henner Misersky, der sich
       bereits in der DDR als Skilanglauftrainer dem Staatsdopingsystem
       verweigerte, verklagt, nachdem dieser Kritik an der Personalie Geipel
       geäußert und Widersprüche in der Darstellung ihrer eigenen Biografie und
       der von weiteren vermeintlichen Dopingopfern aufgezeigt hatte.
       
       In fünf von insgesamt sieben konkreten Aussagen, die Ines Geipel ihrem
       Kritiker Henner Misersky gerichtlich verbieten lassen wollte, entschied das
       Landgericht Berlin inzwischen zugunsten von Misersky. In zwei noch nicht
       abschließend geklärten Punkten, die die DDR-Biografie Geipels betreffen und
       den von ihr beanspruchten politischen Opferstatus infrage stellen, steht
       die Entscheidung des Berliner Kammergerichts noch aus.
       
       Misersky war Gründungsmitglied des Doping-Opferhilfe-Vereins und wirkte bis
       zu seinem Austritt wegen des völligen Vertrauensverlusts zur Vorsitzenden
       im Mai 2018 als Experte im Beirat für Ethik. Der 79-jährige Trainer und
       Hochschulsportlehrer war in den 1960er Jahren einer der besten
       3.000-Meter-Hindernisläufer. Später war er erfolgreich als
       Skilanglauftrainer im DDR-Sportclub Motor Zella-Mehlis tätig. Er und sein
       Trainerkollege Helmut Rothämel lehnten konsequent die Vergabe des anabolen
       Steroids Oral-Turinabol an junge, ausgewählte Kadersportlerinnen ab. 1985
       wurde Misersky deshalb entlassen. Aus dieser Trainingsgruppe gingen später
       fünf Olympiateilnehmerinnen hervor.
       
       Misersky will zudem „nicht mehr die unbestätigte These tolerieren, die
       heute immer noch verbreitet wird, es sei flächendeckend, unwissentlich
       zwangsgedopt worden unter strengster Geheimhaltung“. Es sei Panikmache,
       wenn heute behauptet wird, in das DDR-Vitaminpräparat Dynvital seien
       männliche Steroide gemischt worden, weil es sich um ein harmloses
       Getränkepulver handelt, das unkontrolliert verwendet wurde und für das es
       keinerlei Absetzfristen gab. Auch nach der Wiedervereinigung habe es in
       Trainingsstätten zur Verfügung gestanden.
       
       Deshalb sieht er „bei der Mehrzahl von ehemaligen erwachsenen
       DDR-Reisekader-Sportlern eine Mitverantwortung wegen der meist verordneten
       Schweigeverpflichtung zur Einnahme von Dopingmitteln. „Auch durch die
       obligatorischen Urin-Ausreisekontrollen zur Verschleierung des Dopings, um
       bei internationalen Wettkämpfen nicht positiv getestet zu werden, war ihnen
       bewusst, dass sie sich in ein System des organisierten Sportbetrugs
       integriert hatten.“
       
       Misersky ist zudem der festen Überzeugung, „auch aus eigener Erfahrung,
       dass man als Trainer, Arzt, als erwachsener Athlet, definitiv Nein zum
       Doping in der DDR sagen konnte“. „Ich habe es genauso getan als Athlet und
       später als Trainer wie auch meine Tochter Antje als DDR-Meisterin im
       Skilanglauf 1984 und 1985. Sie wurde 1992 in Albertville erste
       gesamtdeutsche Olympiasiegerin im Frauen-Biathlon. Es gibt genügend
       Beispiele von weiteren Trainern, Athleten und Medizinern, die sich in der
       DDR ebenso dem Doping verweigert haben.“
       
       ## Unberechtigte Selbstentschuldung
       
       Um so mehr ist ihm eine Differenzierung bei der Thematik wichtig. Er hält
       es für eine Legende zu behaupten, dass einst gedopte, erwachsene
       DDR-Sportler vornehmlich nur Opfer sein könnten. Der Fall des
       [3][DDR-Zehnkampf-Olympiasiegers Christian Schenk] von 1988, der drei
       Jahrzehnte später, im Jahr 2018 in seiner Autobiografie zugab, Dopingmittel
       in der DDR eingenommen zu haben, und dies nach dem Mauerfall jahrelang
       geleugnet hatte, sei nur ein Beispiel für diejenigen, die wissentlich
       betrogen haben und sich Jahrzehnte später als Opfer darstellen und einen
       Systemzwang zur Selbstentschuldung für ihr unfaires Verhalten vor sich
       hertragen. Deshalb plädiert er gemeinsam mit seinem Mitstreiter Franke für
       eine genaue Einzelfallprüfung unter Einbeziehung von Experten.
       
       Bei der langjährigen Fürsprecherin und ehemaligen Vorsitzenden der
       DDR-Dopingopfer, Ines Geipel, die Mitglied der SED war und bis 1985 als
       Sprinterin im Sportclub Motor Jena aktiv gewesen ist, sieht Misersky
       aufgrund intensiver Recherchen starke Anhaltspunkte für selbstbestimmtes,
       wissentlich praktiziertes Doping unter dem Jenaer Sprinttrainer
       Horst-Dieter Hille. Dies bestätigen auch mehrere Zeitzeugen.
       
       Und auch Geipel, die an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst als
       Professorin für deutsche Verssprache lehrt und [4][als Publizistin] zu
       Themen der DDR-Geschichte erfolgreich ist, hat dies in einer Vernehmung im
       Rahmen der Ermittlungen zum DDR-Doping Ende der 1990er Jahre so angegeben:
       „Mir war, wie wahrscheinlich jedem anderen Sportler auch, von Anfang an
       klar, dass die Tabletten ein Dopingmittel darstellen.“ Es handelte sich um
       Oral-Turinabol.
       
       Insofern stellt Misersky die Frage, wieso Geipel dann eine finanzielle
       Entschädigung nach dem im Jahr 2002 verabschiedeten Dopingopferhilfe-Gesetz
       erhalten habe, obwohl laut Gesetz nur Betroffene mit erheblichen
       Körperschäden durch unwissentliches, gegen ihren Willen verabreichtes
       Doping antragsberechtigt gewesen seien. Hinter den persönlichen
       Auseinandersetzungen, die vor Berliner Gerichten gelandet sind, liegt ein
       grundsätzlicher Streit über die Interpretation der Dopinggeschichte im
       DDR-Sport.
       
       7 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
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