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       # taz.de -- Die Wahrheit: Mission Schnuffi
       
       > Menschenfreund Raimund weiß: Nimm einem Kind den schmutzigen, alten
       > Teddy, und ein Schurke der Zukunft ist geboren.
       
       Ich saß auf dem Goetheplatz in der Sonne, als Raimund sich näherte.
       „Amigo!“, rief er und schwenkte einen kleinen schmutzigen Sack: „Hol die
       Pferde, wir müssen los!“
       
       „Alright!“, sagte ich. „Worum geht es?“ – „Wir suchen ein Kind!“ – „Ein
       Kind? Oha! Wie alt? Wie groß?“ – „Keine Ahnung!“ – „Junge? Mädchen?“ –
       „Keine Ahnung!“ – „Öh … und was wissen wir von dem Kind?“ – „Dass es
       Schnuffi verloren hat“, sagte Raimund und hielt mir den Sack vor die Nase.
       „Und dass die Welt in größter Gefahr ist.“
       
       Der Sack war in Wahrheit ein dreckverkrusteter Stoffhase, und Raimund hatte
       ihn unten am Fluss im Schlamm gefunden. „Woher weißt du, dass er Schnuffi
       heißt?“, fragte ich. „Teddys heißen ‚Teddy‘, und Hasen heißen ‚Schnuffi‘,
       ist doch klar“, sagte er. „Verstehe. Und wieso weißt du, dass der globale
       Kollaps droht?“ – „Weil“, sagte er, „ich fast selbst ein Monstrum geworden
       wäre, als meine verbrecherischen Cousinen …“
       
       Er erzählte von dem Stoffhasen, den er besessen hatte, als er noch ein
       Dreikäsehoch war. „Es war kein richtiger Stoffhase, meine Oma hatte ihn
       gestrickt: Er besaß statt der Augen zwei Knöpfe und war ganz verfilzt. Aber
       ich liebte ihn – und plötzlich war er weg!“
       
       Raimund suchte ihn überall – im Haus, im Garten: „Plötzlich stieß ich
       hinter dem Kompost auf einen kleinen Scheiterhaufen. Daneben standen meine
       Cousinen: Sie hatten Schnuffi, und sie wollten ein teuflisches Ritual
       abhalten!“
       
       Raimund atmete tief durch. „Reiner Zufall“, fuhr er fort, „dass der starke
       Olli vorbeikam, der kein Problem damit hatte, den fiesen Girls eine zu
       scheuern und ihnen Schnuffi zu entreißen. Ich garantiere dir, ich wäre ein
       gewissenloser Superschurke geworden, hätte ich zusehen müssen, wie Schnuffi
       in Flammen aufgeht. Noch heute strolche ich im Traum manchmal über den
       Flohmarkt von Krasnojarsk – auf der Suche nach Atombombenresten aus
       sowjetischen Beständen und beseelt von dem Verlangen, die ganze Menschheit
       für das Verbrechen meiner Cousinen büßen zu lassen.“
       
       Plötzlich hörten wir neben uns eine Kinderstimme. „Bazzo!“, rief sie und
       gehörte einem strohblonden Pöks, der in einem Buggy saß und auf den
       schmutzigen Hasen zeigte. Er quietschte vor Begeisterung und streckte
       kreischend die Arme aus. Seine Mutter indes war weniger als wenig erbaut.
       „Uuh“, machte sie, „der ist aber schmutzig! Den krieg ich ja nie wieder
       sauber, was meinst du, wie viele Coronabazillen da drinsitzen?“ Sie
       schob den Buggy weiter. „Bazzo!“, jammerte der Pöks. „Du kriegst einen
       neuen Bazzo.“ – „Bazzo!!“ – „Einen größeren, schöneren …“ – „Bazzo!!!“
       
       Die beiden entfernten sich langsam. Am Ende aller Tage aber wird die
       Menschheit trotz Abstandsregeln und Mundschutzpflicht doch noch ausradiert
       werden. Denn in dreißig, vierzig Jahren wird ein strohblonder Schurke unter
       irrem Gelächter einen roten Knopf drücken und die Erde in einem atomaren
       Lichtblitz verglühen lassen.
       
       8 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
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