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       # taz.de -- Mord an Samuel Paty und der Säkularismus: Glauben wechseln wie Unterhosen
       
       > Unsere Autorin lebt in Frankreich, und wundert sich: Die Schüler*innen
       > dort interessierten sich für Religion in Deutschland.
       
   IMG Bild: Der französische Premierminister in einer Schule: Schweigeminute für den getöteten Lehrer Paty
       
       „Das ist für die Schüler hochinteressant“, erklärt die Lehrerin mit Blick
       auf meinen entgeisterten Gesichtsausdruck. „Alles, was mit Religion zu tun
       hat. Das existiert in Frankreich nicht.“ Die Schüler:innen wollen alles von
       mir wissen. Kann man in Deutschland auch keine Religion haben und zur
       Schule gehen? Dürfen nichtkatholische Kinder auf katholische Schulen gehen?
       Wenn ja, was machen sie während des Religionsunterrichts? Und was ist mit
       den Protestanten?
       
       Vieles hätte ich erwartet, jedoch nicht, dass das Thema Religion
       zehnjährige Schüler:innen derart in Aufruhr versetzt. Wie es denn bei mir
       war, fragt mich die Lehrerin vor der Klasse. Ich bin auf einem katholischen
       Gymnasium gewesen, sage ich. Dort hatte es auch evangelischen
       Religionsunterricht gegeben. Meine Freundin sei evangelisch gewesen. Groß
       interessiert habe uns das allerdings nicht. Unsere Eltern hatten die
       Entscheidung für uns getroffen.
       
       Ob wir morgens auch immer gebetet hätten, will eine Schülerin wissen. „Ja“,
       sage ich, „vermutlich.“ Ich erinnere mich nicht wirklich. Aber ich erinnere
       mich, dass ich den morgendlichen Gottesdiensten oft ferngeblieben bin. Und
       froh war, mich noch mal eine Stunde auf die andere Seite zu drehen.
       
       „In meinem Land“, sagt ein Junge, er hat sich sogar vom Stuhl erhoben. „In
       meinem Land“, welches Land, denke ich, „muss ein Mensch, der seine Religion
       wechselt, zwanzig Tage allein im Haus bleiben. Das ist so etwas wie eine
       Strafe.“ „Ja“, sagt die Lehrerin, „weil Algerien ein muslimisches Land
       ist.“ „Wie ist das in Deutschland?“, will der Junge wissen. „Kann ein
       Mensch dort einfach so seine Religion verleumden?“ „Ja, Madame“, schaltet
       sich ein anderer ein, „wie geht das, was macht einer, wenn er seine
       Religion wechseln will?“
       
       ## Wie wechselt man die Religion?
       
       Mein Gott, denke ich, diese säkularen Schüler stellen viel zu viele
       religiös motivierte Fragen. „Vermutlich zum Rathaus gehen“, sage ich,
       „einen Antrag ausfüllen.“ „So einfach geht das?“ Er glaubt mir nicht. Recht
       hat er. Ich bin eine Hochstaplerin. Habe nicht die geringste Ahnung, wie
       man eine Religion wechselt.
       
       Ich weiß, wie man in der Bundesrepublik aus der Kirche austritt. Man
       marschiert zum Amtsgericht, bezahlt 30 Euro, erhält einen Zettel mit der
       Mahnung, ihn ein Leben lang aufzubewahren, und freut sich, dass man von nun
       an keine korrupte Institution mehr unterstützt und Steuern spart. Aber das
       verrate ich ihnen hier lieber nicht.
       
       Zu Hause google ich später: Wie wechselt man seine Religion? Den Glauben,
       steht da, wechselt man nicht wie eine Unterhose.
       
       [1][Samuel Patys Tod] hat die Gemüter in Frankreich nachhaltig erzürnt. Die
       Lehrer:innen gingen auf die Straße, weil Bildungsminister Blanquer die
       Hommage an Paty auf eine kümmerliche Schweigeminute reduzierte. Eine Minute
       schweigen und dann weiter im Programm. Keine Aufarbeitung im Unterricht,
       häufig kein Reden darüber, kein Versuchen, zu verstehen.
       
       ## Mehr Reflexion in Schulen über Säkularismus ist wichtig
       
       „Unser Kollege“, sagt die Sekundarschullehrer:innen-Gewerkschaft,
       „ist von einem islamistischen Terroristen ermordet worden, weil er seine
       Aufgabe erfüllt hat, das Bewusstsein für die Fragen der Meinungsfreiheit zu
       schärfen.“ Sie fordert eine stärkere schulische Reflexion über Themen wie
       Freiheit, Säkularismus und Respekt vor dem anderen.
       
       „In Frankreich“, so hatte ich es in meinem Bewerbungsgespräch für die
       Stelle als Fremdsprachenassistentin angeführt, nach den Unterschieden
       zwischen Deutschen und Franzosen gefragt, „existiert noch eine
       Streitkultur, die mir mit Blick auf mein eigenes Land nahezu völlig
       abhandengekommen scheint.“ Ob ich an Anti-Corona-Demonstrationen
       teilnehmen würde, fragt mich der Geschichtslehrer. Würde ich nicht, sage
       ich. „Madame Durand“, sagt eine Schülerin, „hat heute Morgen gar keine
       Schweigeminute gemacht.“
       
       „Nee?“, fragt die Lehrerin mit gekünstelter Stimme, „hat sie wohl
       vergessen.“ Als handle es sich bei Samuel Patys Tod um so etwas wie das
       Wechseln einer Unterhose.
       
       9 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-ueber-Islamismus-in-Frankreich/!5720820
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marielle Kreienborg
       
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