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       # taz.de -- Weihnachten mit Corona: Feiern oder verschieben?
       
       > Viele hängen gerade jetzt an der Idee vom Weihnachtsfest, wie sie es
       > kennen. Ein Pro und Contra
       
   IMG Bild: Weihnachten ist Besinnlichkeit – und möglicherweise ein Superspreader-Event
       
       Noch einen Monat bis Heiligabend. Auch was das Weihnachtsfest angeht, ließe
       sich umplanen, neu denken, anders machen – [1][wie bei fast allem im Jahr
       2020]. Aber viele hängen am Fest, so wie sie es kennen. Wir diskutieren:
       Sollte das Weihnachtsfest unverhandelbar bleiben? 
       
       ## Lasst uns feiern, sagt Ambros Waibel
       
       Eigentlich ist Weihnachten ja nichts anders als ein Lockdown. Die Geschäfte
       sind zu, die Museen an den Feiertagen auch, Familien schließen sich ein, um
       zueinanderzukommen, was immer dann dabei herauskommen mag. Renitente
       Singles und andere Weihnachtsmuffel nutzen die Zeit für den Großputz oder
       die Sichtung der harten Alkoholika, die sich so das Jahr über angesammelt
       haben. Das ist nicht abwertend gemeint, ich habe das auch schon so gemacht.
       
       Mittelalte Menschen werden an Weihnachten auch gern mal [2][melancholisch
       und traditionell, gehen in die Christmette] und finden, dass ihre Kinder
       unbedingt am Krippenspiel teilnehmen müssen. Viele alte Menschen, die ich
       kenne, haben für den ganzen Aufwand keine Lust und keine Kraft mehr und
       sind ganz zufrieden, wenn die Enkel anrufen und ein Liedlein durch den
       Hörer quäken. Ich denke, alle machen aus Weihnachten halt das Beste, das
       Wichtige ist das „halt“: Keine Zeitungen werden konsumiert oder produziert
       – sehr wichtiger Punkt –, die Außenwelt bleibt mal draußen und neben genug
       Ente, Edeltofu und Plätzchen ist auch genug Klopapier da.
       
       Weihnachten abzusagen wäre grausam. Auf Facebook habe ich aus Italien den
       Spruch gefunden: „45-jährige Frau: ‚Dieses Weihnachten wird schwierig.‘
       Francesco, 89: ‚1944 war schlimmer‘“. Da ist natürlich was dran. Aber es
       ist halt nicht 1944, trotz der vielen Hundert Toten täglich. Das Virus ist
       nicht der Nazi, der anderen Menschen ihr Lebensrecht abspricht. Das Virus
       gehört zu der Kategorie des Existierenden, mit dem wir Menschen leben
       müssen, an das wir uns anpassen können.
       
       Wer sich etwa an Weihnachten immer schon emanzipieren wollte vom seit
       Jahrzehnten eingespielten Ablauf, der hat nun Gelegenheit dazu, seine
       eigenen Rituale zu etablieren. Wenn Weihnachten für viele die Zeit ist, wo
       wir die Computer unserer Eltern vom sich übers Jahr angesammelten Müll
       säubern, dann begibt es sich eben 2020, dass Ausreden nicht mehr gelten und
       sich die verbliebenen analogen Älteren selbst mit der digitalen
       Überlebenstechnik vertraut machen müssen.
       
       Doch das schlechteste, traurigste, einsamste Weihnachten ist immer noch
       besser als gar keines. Denn die trotzige Entscheidung, Weihnachten bewusst
       zu ignorieren, fußt auf der unbedingten Haltung der vielen, es keineswegs
       ausfallen zu lassen: Der säkularisierte Weihnachtsverweigerer lebt von
       Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Die Details regelt
       dann eben die Politik.
       
       Es ist klar, dass die moralische Latte immer die sein muss, die Schwächsten
       zu schützen. Es ist klar, dass diese Latte gerissen worden ist, wenn, wie
       Lehrerinnen mir erzählen, für eine gesamte Schule drei CO2-Messgeräte zur
       Verfügung stehen. Und jeder hat eigene, schlimmere Beispiele, was die
       politischen Zumutungen, was die – längst drängende, aber in der Pandemie
       verschärfte – Verteilungsfrage angeht. Aber nun das für Kinder zentrale
       Fest zu kippen, ist fantasielos. Wenn in ein paar Jahren Halloween dem
       Christkind endgültig den Rang abgelaufen haben wird, dann können wir gern
       nochmal reden.
       
       ## Lasst uns verschieben, sagt Tobias Schulze
       
       Es stimmt schon: Beschränkte Weihnachten sind eine Zumutung. Die Feiertage
       am Ende des Jahres haben für viele Menschen einen hohen Wert, vor allem für
       diejenigen, die Familie und Verwandte nicht im Alltag um sich haben. Das
       Zusammenkommen zu Weihnachten ist ein Ritual, im Grunde unverrückbar, und
       damit im [3][Seuchenjahr 2020] eigentlich noch wertvoller als zu
       Normalzeiten. Mal alle Abgeklärtheit zur Seite: Ein paar Tage zum
       Durchatmen nach Pandemiemonaten voll Stress, Sorge und Einsamkeit – das
       wäre schön. Und trotzdem falsch.
       
       Das Virus macht an Sonn- und Feiertagen schließlich keine Pause. Wenn die
       MinisterpräsidentInnen für die Weihnachtstage tatsächlich die
       Kontaktbeschränkungen lockern, wenn Zehntausende unentdeckt Infizierte
       durchs Land reisen und sich zur Verwandtschaft ins Wohnzimmer setzen,
       könnten die Festtage zum Super-Spreader-Event schlechthin werden. Das wäre
       tragisch für alle, die sich während der Bescherung anstecken und spätestens
       zu Dreikönig auf der Intensivstation liegen. Und es wäre ungerecht für eine
       große andere Gruppe.
       
       Für all diejenigen nämlich, für die Weihnachten viel weniger Bedeutung hat
       und die sich bei anderen, für sie wichtigen Anlässen einschränken, um die
       Infektionszahlen zu senken. Der Rentner ohne Familie zum Beispiel, der
       sonntags seit Wochen nicht am Sportplatz stehen kann, obwohl der
       Fußballverein eigentlich sein zentraler sozialer Treffpunkt ist. Der urbane
       Single, der Entspannung und Gesellschaft eigentlich in der Clubszene
       findet, aber noch auf Monate nicht legal feiern darf. Das junge Paar aus
       der türkischen Community, das noch nie Weihnachten gefeiert hat, aber in
       diesem Jahr eigentlich groß heiraten wollte. Nicht nur, dass all sie von
       Weihnachtslockerungen nichts haben. Sie werden schlimmstenfalls sogar unter
       den Folgen leiden, wenn die dritte Welle im Januar umso heftigere
       Einschränkungen erfordert oder auf Umwegen ihnen selbst das Virus beschert.
       
       Eine Zumutung für die einen steht somit gegen eine Zumutung für die
       anderen. Ein Dilemma, auf das die falscheste Antwort ein Schulterzucken
       ist, ein „Stellt euch nicht so an“ zur einen Seite oder zur anderen.
       
       Aber wie wäre es denn damit: Bund und Länder rufen nach ihrer [4][nächsten
       Coronakonferenz] dazu auf, Weihnachten nur im kleinsten Kreis zu feiern.
       Sie halten die Kontaktbeschränkungen auch über die Festtage aufrecht. Dafür
       bringen sie aber einen einmaligen gesetzlichen Feiertag für das Jahr 2021
       auf den Weg, vielleicht für den 21. Mai, den Freitag vor Pfingsten.
       Weihnachten wäre in diesem Fall für viele Menschen einsam, das stimmt.
       
       Aber dazu käme ein bisschen Hoffnung, eine tröstende Aussicht auf ein
       langes Wochenende in einem halben Jahr, wenn die Großeltern geimpft, die
       Temperaturen gestiegen und die Infektionszahlen gesunken sind. Ganz
       unzynisch: Dann kann jeder nachholen, was er will. Das Familientreffen mit
       Baum oder ohne, das Fußballspiel oder die drei Tage im Club. Und wenn es
       denn sein muss: sogar mit Böllern.
       
       23 Nov 2020
       
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