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       # taz.de -- Obdachlos in Zeiten der Pandemie: Kein Zuhausebleiben ohne Zuhause
       
       > In Hannover wächst die Ungeduld, weil die Stadt die Obdachlosigkeit nicht
       > energisch genug angeht. Aktivist*innen besetzen kurzzeitig Häuser.
       
   IMG Bild: Protest gegen Leerstand: Vier Stunden lang waren die Häuser der „Roten Reihe“ besetzt
       
       Hannover taz | Die Situation von [1][Menschen ohne Obdach] und Wohnung
       beschäftigt die hannoversche Stadtgesellschaft jetzt schon seit Monaten. Im
       März, ganz zu Beginn der Coronapandemie, hatte die Stadt noch rund 100
       Obdachlose in der Jugendherberge, später in [2][einem Hotel und dem
       Naturfreundehaus untergebrach]t. Niemand verstand, warum das gelobte
       Projekt ausgerechnet im Herbst auslaufen musste. Und recht schnell
       formierten sich zwei Gruppen, die Druck machten.
       
       Zum einen ist da die private Stiftung des Ehepaares Niedergerke, die früh
       ankündigte, Spendengelder für eine Fortführung des Projektes zur Verfügung
       zu stellen. Und zum anderen ist da ein Bündnis aus linken Aktivist*innen
       und Betroffenen, die Anfang November damit begannen, in Hannover
       großflächig die Kampfansage „Sonst besetzen wir!“ zu plakatieren und der
       Stadt auch ein Ultimatum setzten: Entweder es gebe menschenwürdigere
       Unterkünfte oder man werde eben selbst dafür sorgen.
       
       In den vergangenen Wochen stellte die Stadt Hannover tatsächlich ein paar
       eigene Projekte vor: Einen neuen Tagestreff am Stadtrand in Ahlem zum
       Beispiel. Oder das Housing-First-Projekt „Plan B – OK“. Bald sollen 21 und
       später bis zu 70 Menschen eine Unterkunft bekommen, in der in Ruhe und mit
       Begleitung durch Sozialarbeiter geklärt werden kann, wie es weitergeht.
       
       Doch bei vielen Akteur*innen hat sich längst der Eindruck festgesetzt: Das
       ist zu wenig, zu langsam, zu spät. Vor allem weil die Betroffenen die
       Massenunterkünfte und Notschlafstellen meiden, auch wenn die Stadt darauf
       beharrt, diese Corona-gerecht umstrukturiert zu haben. Betroffene berichten
       aber, dass diese Orte für sie keinen Schutz böten, man könne keinen Abstand
       halten. Viele bleiben deshalb lieber auf der Straße.
       
       ## Besetzung angekündigt
       
       Ende November tauchten neue Plakate mit den Worten „Jetzt besetzen wir!“ in
       Hannovers Straßen auf. Aktivist*innen der Kampagne hängten ein Banner
       „Wohnen für alle!“ in Sichtweite des Wohnungsamts auf. Im Stadtteil
       Hainholz hing ein Transparent mit den gleichen Worten an einem Baukran. Die
       Initiative kündigte an: Am 5. Dezember wird besetzt.
       
       Mehr als 800 Menschen beteiligten sich dann am Samstagnachmittag an einer
       friedlichen Demonstration durch die Innenstadt. In Redebeiträgen wurde für
       eine „radikale Solidarität“ geworben und Betroffene sprachen. Es war
       bereits die fünfte Demo, die in den vergangenen Monaten in Hannover auf die
       Situation für wohnungs- und obdachloser Menschen aufmerksam gemacht hat.
       Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort.
       
       Michael Stahl, Sozialarbeiter des Kontakt- und Ruheraums „Kompass“, hat den
       Protestzug beobachtet, als dieser vor seinem Laden vorbeizog und wäre gern
       mitgelaufen, sagt er. Aber er habe Betroffene versorgen müssen.
       
       Es enttäusche ihn, dass die Menschen mit „Flickschusterei“ und
       „Scheinprojekten“ hingehalten würden. „Wir haben bereits zwei Todesfälle.
       Sollen wir hier dann irgendwann tatsächlich nur noch Strichlisten führen,
       über die Erfrorenen?“ Es sei wichtig, dass es nicht bei einer Demonstration
       bleibe.“ Das Leben ist mehr wert als das Eigentum“, sagt er über das Mittel
       der Hausbesetzung.
       
       Als die Demo eine Zwischenkundgebung an der Lutherkirche in der Nordstadt
       abhielt, hieß es dann über Lautsprecher: „In der Schulenburger Landstraße
       197 wurde ein Haus besetzt.“ Eine größere Gruppe entfernte sich zügig.
       Daraufhin schritt die Polizei mit Faustschlägen ein, um zu verhindern, dass
       die Demonstrierenden zur Besetzung gelangen konnten.
       
       An dem besetzten Häuserkomplex hatten derweil rund ein Dutzend beteiligte
       Aktivist*innen ein Transparent mit der Aufschrift: „Stay at Home geht nur
       mit Zuhause!“ aus dem Fenster gehängt.
       
       Bilder zeigen, wie sie die Türen mit Werkzeug geöffnet und Lebensmittel und
       Möbel in die Häuser getragen haben. Rund um den weitläufigen
       Backsteinkomlex sammelten sich weitere Aktivist*innen, die auch Pyrotechnik
       abbrannten. Die Polizei sperrte das Gelände weitläufig ab, auch
       Journalist*innen wurden nicht durchgelassen.
       
       Der denkmalgeschützte Gebäudekomplex der sogenannten „Roten Reihe“ gehört
       der Stadt. Er entstand in den 1920er-Jahren und diente über viele
       Jahrzehnte als Siedlung für Bedürftige. Noch bis Mitte 2019 kamen Menschen,
       die ihre Miete nicht zahlen konnten, hier kostenfrei unter. Eigentlich
       sollte er renoviert werden, geschehen ist seither aber nicht viel.
       
       Der Sprecher der Kampagne „Sonst besetzen wir“ sagte am frühen Samstagabend
       noch, man hoffe, die Stadt öffne die Gebäude angesichts der Kälte und der
       Pandemie nun dauerhaft für Wohnungs- und Obdachlose. Aber um 18:05 Uhr
       schlugen Polizist*innen schließlich mit Rammen die Glastüren ein und
       stürmten mit Schildern die Häuser.
       
       Einzelne Aktivist*innen berichteten von der Anwendung von Schmerzgriffen.
       Im Großen und Ganzen ging die Räumung nach Angaben von Beobachter*innen
       aber zügig und ohne größere Zwischenfälle vonstatten. Den Besetzer*innen
       droht nun eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs.
       
       ## Private Stiftung hilft
       
       Die Stadt hätte als Eigentümerin der Gebäude auf eine Räumung und eine
       Anzeige verzichten können, denn Hausfriedensbruch ist ein Antragsdelikt.
       Aber die Stadt findet: „Hausbesetzungen sind kein geeignetes Mittel der
       politischen Auseinandersetzung.“ Auch andere Organisationen der
       Wohnungslosenhilfe kritisierten die Besetzung als den falschen Weg.
       
       Einig sind sich die Akteur*innen aber darin, dass man nicht länger auf die
       Stadt Hannover warten wolle. Bereits am Freitag hatten zwei private
       Stiftungen zum Pressegespräch in die Kreuzkirche eingeladen. Die
       [3][Niedergerke-Stiftung] hatte aufgrund der Presseberichte im Oktober
       angekündigt, eine Hotelunterbringung von Obdachlosen unterstützen zu
       wollen.
       
       Damals waren die letzten 17 Teilnehmer*innen des Modellprojektes aus dem
       Naturfreundehaus wieder auf die Straße gesetzt worden – zum Entsetzen der
       beteiligten Sozialarbeiter*innen, denen es gelungen war, für fast alle
       anderen eine Perspektive zu erarbeiten. Die großen Player der
       Obdachlosenhilfe in Hannover – Diakonie, Caritas, AWO und SeWo – wollen
       diese Arbeit gern fortsetzen.
       
       ## Hilfsbereite Zivilgesellschaft
       
       Eine Welle der Hilfsbereitschaft habe die Stiftung erreicht, erzählt Udo
       Niedergerke. Die zur Verfügung stehende Summe wurde mehrfach aufgestockt.
       Gemeinsam mit der Mut-Stiftung hat sie nun zwei zentral gelegene Hotels
       gefunden. Da das von der Stadt als Anschlussprojekt vorgestellte Housing
       First „Plan B – OK“ erst im Januar beginne, hätten die Geldgeber*innen
       entschieden, sofort Hotels zu mieten und zur Verfügung zu stellen.
       
       Er habe große Hochachtung vor Hannovers zivilgesellschaftlichem Netzwerk,
       sagte Niedergerke. In kurzer Zeit sei es mit Hilfe der Caritas und der
       Diakonie gelungen, diese Idee umzusetzen. Für die Hoteliers gehe es bei dem
       Projekt aber nicht um Wohlfahrt. Für sie zähle der Überlebenskampf wegen
       der anhaltenden Coronakrise, sagte Andreas Schubert von der Caritas.
       
       „Viele Menschen macht das neue Angebot sehr glücklich“, sagte Axel
       Fleischhauer von der Selbsthilfe für Wohnungslose, der die Menschen im
       Hotel als Sozialarbeiter begleitet. Der Erfolg sei nicht verwunderlich,
       denn seien die Menschen erst mal von der Straße weg, könnten sie zur Ruhe
       kommen und eigene Perspektiven entwickeln.
       
       ## Finanzierung für vier Monate
       
       „Ein Betroffener kam mit einem Ordner, der davor oft verloren ging oder vom
       Regen durchweicht war, und erzählte stolz, er habe endlich seine Unterlagen
       sortiert.“ Es müsse aber auch klar sein: Das Hotel sei nur eine
       Zwischenlösung. Hunderte weitere Menschen bräuchten eine Unterbringung,
       sagt Fleischhauer. Die Listen seien lang.
       
       Für vier Monate ist die Finanzierung des Hotel-Projekts gesichert. Das
       dürfe aber nicht dazu führen, dass die Stadt Hannover das Problem
       aufschiebe, sagte Schubert von der Caritas. Auch Uwe Thomas Carstensen von
       der Mut-Stiftung hofft, dass die Stadt langfristig Verbesserungen plane.
       
       Unterdessen haben die Aktivist*innen vom Bündnis „Sonst besetzen wir“
       angekündigt, weiter machen zu wollen: „Die Stadt Hannover macht sich etwas
       vor, wenn sie glaubt, sie könne verhindern, dass sich Wohnungslose und
       solidarische Menschen zusammentun.“
       
       6 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Unterwegs-mit-Sozialarbeiterinnen/!5729156
   DIR [2] /Obdachlose-in-der-Corona-Krise/!5723668
   DIR [3] https://www.niedergerke-stiftung.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Trammer
   DIR Nadine Conti
       
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