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       # taz.de -- Die Wahrheit: Schrill, heiser und elegant
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (110): Die Seeschwalbe
       > wird gern von Forschern besendert, um ihr folgen zu können.
       
   IMG Bild: Sterna paradiseae im Anflug
       
       Bekanntlich fliegt die Küstenseeschwalbe zwischen Arktis und Antarktis hin
       und her und legt damit von allen Zugvögeln die größte Strecke zurück:
       40.000 Kilometer alljährlich. Unterwegs leben sie von Heringen; ihre
       Jungen, die sie im Sommer im Norden zur Welt bringen, ernähren sie mit
       jungen Heringen.
       
       Wenn wir nun einen Blick nach vorne, ins Jahr 2030 wagen, dann ist die
       Überfischung der Meere so weit gediehen, dass es nur noch eine
       Seeschwalben-Brutkolonie gibt – auf Grönland. Dort beginnt der Roman der
       irisch-australischen Autorin Charlotte McConaghy, „Zugvögel“. Ihre
       Icherzählerin ist in Seeschwalben vernarrt. In Grönland gelingt es ihr,
       drei Jungvögel zu besendern. Sie will die drei verfolgen, wie sie sich in
       die Antarktis aufmachen. Dazu muss sie sich ein Schiff suchen, das den mit
       Sendern ausgerüsteten Seeschwalben folgt.
       
       Sie kann den Kapitän eines Heringfangschiffs überreden, der immer weniger
       fängt und deswegen geneigt ist, der Icherzählerin zu glauben, dass die
       Seeschwalben, die sich unterwegs von Heringsschwärmen ernähren, ihn zu
       guten Fängen führen werden. Und die Richtung zeigen ihnen die drei
       besenderten Vögel in Form von sich bewegenden kleinen roten Punkten auf
       Google Maps an. Eine Seeschwalbengruppe nimmt die Route entlang der
       Westküste Amerikas, eine andere Gruppe fliegt über den Atlantik.
       
       Das Schiff mit Namen „Rabe“ folgt zunächst der einen besenderten
       Seeschwalbe, die entlang der Westküste fliegt, aber in einem Sturm geht
       diese mit ihrem Schwarm unter. Sie entschließen sich, umzukehren und dann
       irgendwo im Atlantik auf den Schwarm mit den anderen besenderten
       Seeschwalben zu stoßen.
       
       ## In der Amundsensee
       
       Unterwegs erfahren sie, dass weltweit ein generelles Fangverbot erlassen
       wurde und kein Fischerboot mehr seinen Hafen verlassen darf. Sie sind von
       da an illegal unterwegs, während sie sich dem Rand der Antarktis nähern. In
       der Amundsensee gibt ihr Schiff den Geist auf, sie gehen an Land und übers
       Eis, klettern eine Steigung hoch – und da sind sie, die letzten
       Seeschwalben: „Vor mir ist das Eis bedeckt von vielen Hundert
       Küstenseeschwalben. Schrill und heiser ertönt ihr Kreischen, sie tanzen mit
       ihren Gefährten durch die Luft, jubeln vor Freude“, stürzen sich ins Meer,
       wo es von Fischen wimmelt.
       
       Der Roman greift wie gesagt vor; noch sieht man überall an den nordischen
       Küsten Seeschwalben. Im friesischen Nationalpark Wattenmeer machen sie
       nicht nur Rast auf ihren langen Flügen, sie brüten auch dort – zum Beispiel
       an der Eidermündung, einen Meter von den Touristen entfernt. Nur eine dünne
       Kette trennt die Menschen von den dicht nebeneinander gebauten Nestern der
       Küsten-, Zwerg- und Flussseeschwalben. Die Nationalparkbesucher machen die
       Vögel zwar nervös, dafür halten sie ihnen aber die Füchse und andere
       Eiräuber vom Leib. Während die Weibchen brüten, sind die Männchen
       ununterbrochen damit beschäftigt, sie und die Jungen mit kleinen Heringen
       zu füttern.
       
       Wir gingen einige Stufen zum Stauwerk hoch und auf eine kleine Plattform,
       hinter der Sperrkette erstreckte sich ein Betondeich, auf dem sie brüteten.
       Gelegentlich beschimpfte uns laut ein beunruhigtes Männchen, das über
       unsere Köpfe flog und uns warnte, ja nicht über die Kette zu steigen und
       den Nestern zu nahe zu kommen. Aber dann gesellte sich ein Mitarbeiter der
       Nationalparkverwaltung zu uns, versteckte sich quasi in der Menge. Aber die
       Seeschwalben erkannten ihn trotzdem und griffen ihn ununterbrochen an.
       
       ## Besenderungsscheiß
       
       Er war eigentlich ihr Beschützer, aber in den Augen der Seeschwalben war er
       ihr Feind: Er hatte wiederholt ihre Jungen beringt, und das war für die
       Eltern ein eindeutiger Angriff, den sie nicht hinnahmen. Zwar waren in
       diesem Jahr 2012 die Jungen noch nicht geschlüpft, aber die Seeschwalben
       warnten den Nationalparkmitarbeiter, nicht wieder mit dem
       Besenderungsscheiß anzufangen, indem sie ihn schon vor dem Schlüpfen ihrer
       Jungen quasi vorbeugend attackierten.
       
       Dem Leiter der Nationalparkverwaltung, Detlef Hansen, war das aber egal.
       Für ihn zählten Zahlen – ihr Bruterfolg: „Insgesamt haben rund 3.500 Paare
       Küstenseeschwalben und 3.000 Paare Flussseeschwalben in diesem Jahr im
       Nationalpark gebrütet.“
       
       Sie begannen spät mit dem Nestbau, aber als die Jungen schlüpften, war
       ausreichend Nahrung vorhanden: „Massen von Jungfischen“. Hansen sieht darin
       den Beweis, dass der Fortbestand der Seeschwalben vor allem von geeigneter
       Nahrung abhängt: „Die meisten Küken sind in den ersten Lebenstagen
       verhungert, weil Nahrung in schnabelgerechter Größe fehlte.“
       
       ## Elegante Flieger
       
       Der Naturschützer nimmt an, dass der Rückgang an Jungfischen während der
       Brutzeit mit dem Klimawandel zusammenhängt, das heißt „mit den wärmeren
       Wassertemperaturen vor allem im Winter. Selbst Austernfischer und
       Eiderenten konnten mehr Junge aufziehen, obwohl sie keine Fische fressen:
       Ihre Jungen wurden weniger von Möwen gejagt, weil auch denen genug
       Jungfische als Nahrung zur Verfügung standen.“ Junge Heringe nehmen also
       eine „Schlüsselposition“ in der Wattfauna ein: „Ihr Vorkommen oder Fehlen
       entscheidet über das Schicksal vieler anderer Arten.“
       
       Im Jahr 2020 scheinen die zunehmenden Restriktionen für die Heringsfischer
       gegriffen zu haben, denn die Nationalparkverwaltung meldete: „Die
       Flussseeschwalben kommen. Im Wattenmeer werden im Jahreslauf circa 35.000
       dieser eleganten Flieger gezählt, etwa ein Drittel davon brütet hier in
       Kolonien auf den Inseln und an der Festlandküste. Bis Ende September sind
       sie im Wattenmeer zu beobachten, dann brechen die letzten in ihre
       Winterquartiere auf.“
       
       Die Seeschwalbenkolonie hat sich also vergrößert, und außerdem überwintern
       viele laut Nationalparkverwaltung in Westafrika und in Australien, also
       nicht nur in der Antarktis, wo der „Sommer“ anfängt, wenn er hier vorbei
       ist. Die Seeschwalben fliegen ihr ganzes Leben lang dem Sommer hinterher.
       
       ## Helgoländer Institut für Vogelforschung
       
       Die Nationalparkverwaltung folgt ihnen nicht mit Schiffen zu ihren
       Winterquartieren, sondern lässt das Helgoländer Institut für Vogelforschung
       die Seeschwalben gemütlich im Büro vom Computer aus verfolgen: „Seit 1992
       werden alle dort flügge gewordenen Küken und einige Altvögel mit einem
       Mikrochip markiert, der von den installierten Antennen und
       Wiegeplattformen erkannt wird. Computergestützt und ergänzt durch
       Beobachtungen der Mitarbeiter wird für jedes Individuum zum Beispiel
       ermittelt, ob und wann es in die Kolonie zurückkehrt, wie sich sein Gewicht
       entwickelt und, langfristig, wie viele Nachfahren es schon gezeugt hat.“
       
       Anders die Berliner Vogelforscherin Barbara Geiger: Sie folgt den
       (unbesenderten und unberingten) Schwalben auf ihrem Flug nach – und durch
       Afrika quasi zu Fuß. Dabei bekam sie heraus, „dass die Rauschwalben sich
       auf dem Weg durch die Sahara in alten Treibstofffässern, die als Wegweiser
       in der Wüste stehen, vor Sandstürmen in Sicherheit bringen und dass sie
       sich im Flug von ‚Luftplankton‘ [im Wind treibenden Insekten] ernähren“.
       
       7 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
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