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       # taz.de -- Die Wahrheit: Beschäftigt wie die Bären
       
       > Dienst fürs Vaterland: Immer mehr speziell ausgebildete staatliche
       > Einsatzkräfte füttern die Empörung der Bevölkerung im Lockdown.
       
       Nicht von ungefähr erscheint der zweite Lockdown weitaus deprimierender als
       der erste. Es ist grau, es ist dunkel, es ist kalt. Und wir haben noch den
       ganzen Winter vor uns.
       
       Am lautesten klagen wieder jene, denen der Teufel eh schon Gold ins warme
       Nest geschissen hat. Im Gegensatz zu alleinerziehenden Müttern haben sie ja
       auch alle Zeit der Welt zum Jammern. Leander Haußmann darf vor dem
       Restaurant seinen Wein nicht austrinken, und Daniel Kehlmann zeigt sich im
       unwirtlichen Montauk bedrückt darüber, in welche Ferne seine Freunde in Rom
       gerückt sind. Skypen findet er doof.
       
       Damit, dass jeder Mensch „auch Rituale braucht“, hat der Großdichter
       allerdings recht. Das hat ebenso die Bundesregierung erkannt. Den
       unausgefüllten Bürgern fehlen die Routinen, Ventile und Ablenkungen wie
       Sport, Kino, Restaurant oder Theater. Nun gilt es, ihre überschüssige
       Energie in geeignete und harmlosere Bahnen zu lenken, damit sie nicht
       anfangen, aus lauter Unterforderung Migranten zu ermorden oder den
       Reichstag zu stürmen – das muss ja nun wirklich nicht sein.
       
       Unsere Zoos haben es vorgemacht. „Behavioral Enrichment“ heißt das
       Zauberwort und meint in etwa „künstliche Beschäftigung“. Affen, Bären,
       Hamster, Kanarienvögel: Ihnen allen verschafft man Reize, wie Baumstämme
       zum Klettern, Schaukeln, Futterautomaten und Loopings, um den Input des
       Überlebenskampfes und der Nahrungssuche in der freien Natur wenigstens
       halbwegs adäquat zu ersetzen.
       
       ## Russische Trolle auf Montage
       
       Ein Großteil der Beschäftigungstherapie für die Menschen in der Pandemie
       erfolgt dagegen virtuell. Aufgrund der Lage sitzen sie ohnehin die meiste
       Zeit über an ihren Brummkästchen. Dort trollen russische Saisonarbeiter im
       Auftrag der Bundesministerien für Familie, Gesundheit und Soziales die
       Kommentarspalten voll. Sie schaffen einen gemeinsamen Feind, „die
       Unvernünftigen“, gegen die man so herrlich den Schulterschluss der
       Gerechten vollziehen kann.
       
       Die Abteilungen „Nur eine Grippe“, „Die da oben“ und „Falsche PCR-Tests“
       arbeiten Tag und Nacht auf Hochtouren. „Es ist Wahnsinn“, stöhnt der völlig
       erschöpfte Iwan Rebrow (31) auf Coronamontage, „ich muss in stundenlangen
       Diskussionen so tun, als wäre ich komplett bescheuert. Aber dafür bekomme
       ich während nur eines Lockdowns hier ein Jahresgehalt wie daheim in
       Nowosibirsk.“ Dort wartet die 27-jährige Tamara zusammen mit Lajka (7),
       Igor (5) und Katjuscha (1 ¾) sehnsüchtig auf die Rückkehr des jungen
       Familienvaters.
       
       Aufwendiger sind analog angelegte Unterhaltungsnummern wie der inzwischen
       sattsam bekannte Stunt von „Jana aus Kassel“, die sich im Rahmen einer
       „Demo von Coronaleugnern“ auf offener Bühne mit der Widerstandskämpferin
       Sophie Scholl verglich. Bei der „Studentin“ handelte es sich in Wahrheit um
       eine Praktikantin aus dem Bundesgesundheitsministerium. Verständlicherweise
       möchte die Performerin ihren wahren Namen hier nicht preisgeben: „Natürlich
       denken die Leute nun“, so „Jana“, „diese Jana gebe es wirklich. Das ist ja
       eigentlich auch der Sinn der Sache. Leider reagieren sie dann derart aggro
       auf den Reiz, dass der ursprüngliche Zweck der Aktion ins Gegenteil
       umschlagen kann. Das ist echt ein negativer Nebeneffekt.“
       
       Hut ab jedenfalls, das muss sich eine erst mal trauen. Klar, sie hatte auf
       der Bühne die Haare anders, aber es kann trotzdem immer passieren, dass man
       erkannt wird. Und was dann los wäre; da hätte „Jana“ wahrscheinlich keine
       ruhige Minute mehr. So etwas ist schon ein harter Dienst fürs Vaterland.
       
       Nicht vergessen sei hier auch der Nachwuchsschauspieler Hilmar Gerber, der
       kongenial den protestierenden Ordner gab und seine Weste demonstrativ
       fortwarf, aber das ist immerhin auch sein Beruf. Viele seiner darbenden
       Kollegen wären in diesen Zeiten froh, bekämen sie wie er die Gelegenheit,
       sich ein paar Groschen aus dem Corona-Unterhaltungsetat des Bundes
       hinzuzuverdienen.
       
       ## Partypeople ohne Zollstock
       
       Doch am wertvollsten sind die vielen kleinen Heinzelmännchen, die uns
       jederzeit und allerorten mit verhaltensanreichernden Momenten versorgen. So
       komme ich auf dem Rückweg vom Gespräch mit der Jana-Darstellerin Lisalara
       Löffelstiel in der Berliner Brünnstraße 112, wo sie im dritten Stock
       Vorderhaus wohnt, am Neuköllner Reuterplatz vorbei. Dort stehen, mit Bier
       oder Club Mate in den Händen, sieben junge Menschen im Kreis und
       unterhalten sich. Um zu sehen, dass die Abstände zum Teil weniger als 1.200
       Millimeter betragen, brauche ich keinen Zollstock.
       
       Sofort bin ich hellwach. Ich starre sie grimmig an. Endlich kann ich mich
       wieder über asoziale Partypeople echauffieren. Ein Kreis von sieben
       Personen! Und dass das zwei Haushalte sein sollen, können sie ihrer an
       Covid verstorbenen Oma erzählen! Diese Lügenwichte mit ihrem krankhaften
       Trieb zum ständigen Socializing! Ich hab es doch gewusst! Haut uns doch
       einfach gleich die Axt über den Schädel, das geht wenigstens schneller! Ist
       auch ehrlicher und nicht so hintenrum!
       
       Herrlich rege ich mich auf. Den ganzen Tag über war ich in Lethargie
       versunken, doch nun schießt wieder Energie durch meinen Körper: Zorn,
       Empörung, Selbstgerechtigkeit. Das funktioniert wirklich bestens. Danke,
       Merkel!
       
       Süße Sekunden lang kann ich so verdrängen, dass sich hier
       selbstverständlich Mitarbeiter des Ordnungsamts mit Schlumpfmützen und
       Wegbierflaschen als hippe junge Leute verkleidet haben. Auch das Englisch
       ist erstaunlich gut gefakt. Ich fahre mit dem Rad auf dem Bürgersteig
       direkt an ihnen vorbei, doch die gut geschulten Unterhalter lassen sich
       davon nicht aus ihrer Tarnung locken.
       
       Schlimm, dass die Staatsdiener so spät noch arbeiten müssen. Aber es geht
       wohl nicht anders, denn abends ist ihr Einsatz nun mal am wichtigsten.
       Gerade wenn es dunkel wird, die Leute Feierabend haben, stechen ihnen die
       reduzierten Ablenkungsmöglichkeiten besonders ins Auge und die Nerven
       liegen blank. Dann sprengen sie wieder Gesundheitsämter in die Luft oder
       machen anderen Quatsch. Ohne Behavioral Enrichment wäre unsere Gesellschaft
       längst schon implodiert.
       
       5 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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