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       # taz.de -- Senior:innen und die Coronakrise: Alter, da geht was!
       
       > Seit Corona existieren alte Menschen nur noch als Risikogruppe. Dabei ist
       > Altsein so viel mehr. Sechs Protokolle von Berlinern zwischen 74 und 82.
       
   IMG Bild: Raus und bewegen, egal welches Wetter: die 82-jährige Karin Schilff läuft auch Marathon
       
       Das Alter gehört zum Leben wie Geburt und Tod. Keiner entgeht ihm. Und
       trotzdem ist keine Lebensphase so tabubesetzt. Selbst Hochbetagte
       unterliegen noch dem gesellschaftlichen Jugendwahn, hat Elke Schilling
       festgestellt. „In eine Begegnungsstätte für Senioren gehe ich nicht,“
       hätten ihr 87-Jährige erzählt. „Da sind ja nur alte Leute.“
       
       Schilling, mittlerweile selbst 76, war Seniorenvertreterin im Bezirk Mitte.
       2018 hat sie Silbernetz ins Leben gerufen – ein telefonisches
       Gesprächsangebot für alte Menschen. Zunächst hieß das Telefon
       Einsamkeitstelefon. Aber da rief kaum jemand an. Einsam? Ich doch nicht!
       Dann könnten Leute ja denken, man habe ein soziales Defizit. Erst die
       Coronapandemie und das Zurückgeworfensein auf die eigenen vier Wände hat
       Einsamkeit bei Jung und Alt gesellschaftsfähig gemacht. 40.000 Anrufe hat
       Silbernetz seit März dieses Jahres verzeichnet.
       
       Aber auch das hat Covid-19 bewirkt: Alte Menschen existieren vorrangig als
       Risikogruppe. Von den vielen Dingen, die das Altsein eigentlich ausmachen,
       spricht niemand mehr. Die taz hat sechs Berlinerinnen und Berliner zwischen
       74 und 82 aus unterschiedlichen Milieus gefragt, wie es sich anfühlt, alt
       zu sein. Ist es wirklich so, wie es einem die Alten erzählt haben, als man
       jung war? Was ist von Belang, und wie wird man von der Umgebung
       wahrgenommen?
       
       Berichtet wird in den Gesprächen auch von körperlichen Veränderungen und
       Gebrechen und von angsteinflößenden Erlebnissen in der unmittelbaren
       Nachbarschaft. Einsam, vergessen, tot: Dass zwei alte Leute wochenlang in
       ihrer Wohnung gelegen haben, bis es auffällt. Wie oft in Berliner
       Haushalten Menschen verwesen, darüber wird offenbar keine Statistik
       geführt. Weder die Polizei noch die Senatsverwaltung für Gesundheit konnte
       der taz darüber Auskunft geben.
       
       Berlinweit haben 19,1 Prozent der Bevölkerung die 65 überschritten. Nach
       Hamburg ist die Hauptstadt das zweitjüngste Bundesland. In Sachsen-Anhalt
       gibt es mit 27 Prozent am meisten Alte.
       
       ## „Je ärmer, umso kränker“
       
       Glück und Zufriedenheit im Alter hängen von unzähligen Faktoren ab. Eine
       große, wenn nicht die größte Bedeutung für das Wohlbefinden im Rentenalter
       spielen die materielle Situation und die Gesundheit. Das Bezirksamt Mitte
       hat in seinem 2020 veröffentlichten Sozialbericht die Altersarmut
       untersucht: In Mitte beziehen 12,5 Prozent der über 65-Jährigen
       Altersgrundsicherung – was Hartz IV entspricht. Das sind mehr als doppelt
       so viele wie im Berliner Durchschnitt, der 6,1 Prozent beträgt.
       
       Die finanzielle Lage hat große Auswirkungen auf das gesundheitliche
       Befinden. „Grundsätzlich gilt: Je ärmer, umso kränker“, sagt der Soziologe
       Jeffrey Butler, der den Sozialbericht regelmäßig erstellt. Unabhängig davon
       nehmen chronische Erkrankungen im Alter grundsätzlich zu. Berlinerinnen
       haben mit 83,4 Jahren im Durchschnitt eine um 5 Jahre höhere
       Lebenserwartung als Berliner. In der Altersgruppe der 85- bis 90-Jährigen
       ist das männliche Geschlecht laut Statistischem Landesamt
       Berlin-Brandenburg nur noch mit 36 Prozent vertreten. Ab 95 wird es für die
       Frauen richtig einsam: In dieser Altersgruppe gibt es nur noch 19 Prozent
       Männer.
       
       Folgt man einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge, fühlen
       sich die Deutschen im Schnitt allerdings 10 Jahre jünger, als sie sind.
       Mehrheitlich werden erst über 70-Jährige als „alt“ angesehen. Große
       Unterschiede gibt es bei den Berufsgruppen. Während ungelernte Arbeiter am
       häufigsten sagen, dass das „Alter“ schon mit 60 Jahren einsetzt, beginnt es
       für jeden fünften Freiberufler sogar erst ab 80 Jahren.
       
       Der Ausstieg aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand ist für die meisten ein
       großer Sprung. Man muss sich neu definieren. Die einen empfinden das als
       Freiheit, andere fallen in ein tiefes Loch. Nicht jeder ist in einer
       Partnerschaft aufgehoben, hat Familie und/oder Freunde.
       
       Dazu kommt die große Frage: Was passiert, falls wir nicht mehr so können,
       wie wir wollen, oder gar nicht mehr wissen, wie wir heißen und wer wir
       sind? Wer sorgt für uns, wo finden wir ein Zuhause?
       
       ## Der Lebensort Vielfalt
       
       Noch immer gibt es viel zu wenige Angebote, die sich an den individuellen
       Bedürfnissen der Bewohner:innen ausrichten, sagt Dieter Schmidt vom
       Netzwerk Anders Altern der Berliner Schwulenberatung. Für den Lebensort
       Vielfalt etwa, in dem seit acht Jahren vor allem schwule ältere Männer
       wohnen und auch gepflegt werden können, gibt es eine Warteliste von 400
       Menschen – bei gerade mal 24 Wohnungen und einer Pflege-WG. Weitere
       Angebote sollen nun folgen.
       
       „Es geht uns hier aber nicht um eine Extrawurst für unsere Community“, sagt
       Schmidt. „Sondern generell um diversitätssensible Pflege, um gelebte
       Vielfalt.“ Wenn man diese Vielfalt in den Fokus nehme, werde es plötzlich
       ganz leicht, sagt Schmidt. „Dann kann man wirklich anders altern.“
       
       Dass sich die meisten Menschen mit diesen Fragen erst beschäftigen, wenn
       sich das Alter nicht mehr leugnen lässt, mag Verdrängung sein. Als ob die
       eigene Vergänglichkeit erst wahr würde, wenn man sich mit ihr befasst. Die
       Beschäftigung mit dem Alter und mit alten Menschen macht doch nicht alt,
       sagt die 82-jährige Karin Schilff. „Da wirste jung dabei.“
       
       Elke Schilling von Silbernnetz geht noch weiter. Es gebe einfach Dinge, die
       könne man nur als alter Mensch tun. „Wenn ich das nicht sehe, weil mir
       meine Vorurteile im Weg stehen, versäume ich ganz viel.“
       
       ## „Ich laufe Marathon, um anzugeben“
       
       Von Karin Schilff lässt sich wahrlich etwas lernen über innere Jugend. Die
       82-Jährige ist viel mehr als nur Berlins älteste Marathonläuferin 
       
       1938 wird Karin Schilff geboren. Aus dem kleinen Dorf hinter Posen fliehen
       Großeltern, Mutter und drei Kinder im Winter 1944 in einem
       Flüchtlingstreck, die Familie wird um ein Haar erschossen. Ein Zimmer in
       Prenzlauer Berg wird zum Gefängnis der drei kleinen Schwestern, die Mutter
       schließt sie stundenlang ohne Essen und Trinken dort ein. Als der Vater aus
       der Kriegsgefangenschaft kommt, verschwindet die Mutter. Der Vater ist so
       gewalttätig, mit Siebenstriemer und Gürtel, dass die Kinder bei der Polizei
       bitten, ins Heim zu kommen. Ohne Erfolg. 
       
       Einen Schulabschluss wird Schilff nie machen, mit 16 beginnt für sie die
       jahrzehntelange Akkordarbeit in der Fabrik. Mit 17 begegnet Schilff dem
       Mann, der sie aus dem Haus des Vaters holt. 53 Jahre leben sie zusammen,
       bekommen einen Sohn, ziehen an den Rand des Grunewalds. Sie reisen in alle
       Welt, Indien, Südafrika, Brasilien, Ägypten. Gemeinsam trainieren sie für
       den Berliner Marathon, sind im Wanderverein. Vor 13 Jahren stirbt der
       Ehemann. Karin Schilff wollte in diesem Jahr eigentlich ihren 23.
       Berlin-Marathon laufen. 
       
       Heute bin ich losgelaufen, mit H. in den Grunewald, bei trübem Wetter, was
       soll’s. Und dann brechen da die Wolken auf, die Sonne kommt raus, und ich
       denke, was bin ich glücklich. Aber dann haben wir uns doch tatsächlich
       verlaufen im Grunewald, so was! Zurück beim Rad bin ich mit 100 Sachen
       hierher, sonst wäre ich doch zu spät gekommen, halb im Stehen bin ich
       gefahren. Und da freue ich mich. Mensch, was du noch machst mit deinen 82
       Jahren! Dann bin ich auch ein bisschen stolz.
       
       Laufen, um fit zu bleiben, den Gedanken habe ich bis heute nicht. Ich laufe
       Marathon, um anzugeben. Ja wirklich. Aber jetzt kommt es: Wenn die anderen
       immer sagen, wo sie überall studiert und gearbeitet haben, erste Tür vorm
       Chef. Haben ja auch alle zwei Autos. Und dann fragen die mich: „Wo haben
       Sie denn mal gearbeitet, was haben Sie denn gelernt?“
       
       ## Mit offenen Augen, offenen Ohren
       
       „Ich bin nur eine Fabrikarbeiterin, immer im Akkord“, sage ich dann. „Aber
       sind Sie schon mal Marathon gelaufen?“ Das ist das Einzige, wo ich denke,
       ich kann mich hervortun. So schlimm das klingt, ich habe doch sonst nichts
       vorzuweisen. Alles, was ich gelernt habe … das Leben ist meine Schule. Mit
       offenen Augen, mit offenen Ohren und immer nachdenken, bevor ich etwas
       sage.
       
       Ich nehme alles wahr, und ich kriege auch alles mit. Weil ich selber mal
       eine Gebeutelte war, haben sich alle meine Sinne erhalten. Diese kindliche
       Neugier, weil ich nicht erwachsen werden konnte. Und mich interessiert
       alles: Geschichte, Bilder, alte Bauwerke. Das ist auch meine Erklärung,
       warum ich trotz allem, trotz des Verlusts meines Manns, trotz dessen, dass
       mich niemand so richtig wahrnehmen will, so einen Spaß habe am Leben.
       
       Ich bin ja ein Außenseiter geworden, weil ich kein Internet habe. Im
       Fernsehen sagen die dann: „Wenn sie mehr wissen wollen, dann schauen sie
       unter www …“ Ich könnte mir das kaufen, will ich aber nicht. Das ist doch
       einer der Gründe, warum mein Umfeld behindert wird. Die sitzen nur noch vor
       ihrem Smartphone und bewegen sich nicht mehr. Ich will nicht überall Fotos
       machen, und ich will auch nicht überall welche kriegen. Wenn ich das sehe:
       Auch im Wald, da laufen die schon so rum, mit dem Bildschirm vorm Gesicht.
       Ich höre beim Laufen das Vogelzwitschern. Ich will doch alles wahrnehmen.
       
       Wenn ich was wissen will, dann google ich das hier in meinem Brockhaus. Hat
       mein Mann schon immer gesagt: „Du musst nachschlagen, Puppe!“ Der Brockhaus
       ist von 1957, das ist das Jahr, in dem wir geheiratet haben. Die da
       drinstehen, die leben ja alle nicht mehr.
       
       ## Heute klingelt keiner mehr spontan
       
       Ach, wenn ich daran zurückdenke, wie ich meinen Mann kennengelernt habe,
       manchmal wenn ich allein im Schlafzimmer liege, da ist er ja auch
       verstorben. Dann will ich das doch alles noch mal fühlen. Das war so schön,
       bleibt schön. Ewig schön.
       
       Wir hatten früher immer volles Haus, unsere Tür war immer offen. Jemanden
       einladen, das mussten wir doch gar nicht. Wenn es geklingelt hat, schnell
       alles, was rumlag ins Schlafzimmer, das räumen wir später auf. Hauptsache,
       rein die Leute, und schon saßen wir da zu acht in der kleinen Wohnung. Ich
       fand das gemütlich.
       
       Heute klingelt keiner mehr spontan, das ist vorbei. Der eine sagt, ach, da
       muss ich so weit fahren. Der andere macht Punkt 12 Mittag. Die andere kommt
       nicht mehr, weil ich Witwe bin und sie noch einen Mann hat, was soll der
       denn dann machen …
       
       Ich hätte gern jemanden, der mit mir ins Museum geht. Ich kenne viele
       Menschen, aber kaum jemanden, der meine Interessen teilt. Ich mit meiner
       romantischen Art. Wenn ich mir Bilder anschaue, dann sehe ich mich darin.
       Aber alleine, nee. Ich muss doch sagen können: Guck mal, findste dit nich
       schön?!
       
       ## Da ist Licht, und da sind Leute
       
       Einsamkeit spielt eine Rolle, ja. Ab 16 Uhr ist es dunkel, dann ist die
       Nacht so lang, ich geh nicht vor eins schlafen. Es gibt da diesen Spruch:
       „Das Bewusstsein ist nur ein Tropfen, aber das Unterbewusstsein ist der
       Bodensee.“ Alles, was man mit sich rumschleppt, das ganze Leben, alles, was
       ich verdrängt habe – ich bin doch eine Verdrängungskünstlerin, das war mein
       Überleben.
       
       Aber manchmal kommt ein Bläschen hoch, dann geh ich raus, dann sitze ich
       hier nicht alleine rum. Mit dem Fahrrad über die Brücke, nach Halensee. Da
       ist Licht, und da sind Leute. Und dann fühle ich mich wohl. Dann kaufe ich
       da auch was, Kartoffeln oder Brot oder was, nur noch Gesundes. Und dann
       sehe ich, wie sich da eine ältere Dame am Regal reckt, und ich sage:
       „Kommen Sie, ich hole Ihnen das runter.“ Und dann schaut die mich an und
       sagt: „Sie? Sie können doch selber nicht mehr.“ Doch, ich kann. Ich
       vergesse dann, dass ich alt bin.
       
       Wenn ich dieses Jahr noch mal den Marathon hätte laufen können … Ich hätte
       auf Teufel komm raus trainiert, dass ich das schaffe. Nach mir sind ja
       immer noch 2.000 Läufer reingekommen, ich war nicht die Letzte mit dem
       Besenwagen, obwohl ich so alt bin. Nächstes Jahr? Ich glaub nicht, dass das
       noch mal was wird. Irgendwann ist vielleicht doch Schluss.
       
       Ich laufe immer in Weiß, von oben bis unten. Bin ich die Einzige. Auf dem
       Rücken steht dann: „Karin läuft jetzt den soundsovielten Marathon.“ Ganz
       groß, ab dem 10. Berliner Marathon steht das da. Und wenn mich welche von
       hinten überholen, da sehen die doch nicht, dass ich über 80 bin: Schlank,
       ganz in Weiß, blonder Zopf, 22. Marathon. Und dann, wenn die vorbeikommen
       und mich von vorn sehen – diese Überraschung! Ich muss jedes Mal so lachen.
       Soll man ja eigentlich nicht, weil man dann aus dem Tritt kommt.
       
       ## Bewegen, bewegen, bewegen
       
       Der Gedanke, dass ich gebrechlich werden könnte, der hat bei mir noch
       keinen Raum genommen. Gebrechlich, was heißt das überhaupt? Die Leute
       werden krank, brechen sich ein Bein oder was, und dann bewegen sie sich
       nicht mehr. Dann nehmen sie zu und dann bewegen sie sich noch weniger. Dann
       fahren sie nur noch Rolltreppe und überall mit dem Auto hin. Du musst dich
       aber bewegen, bewegen, bewegen.
       
       Das war auch das Erste, was ich in der Altenpflege gelernt habe. Nach der
       Wende war ich arbeitslos, die Fabrik ist ja weggezogen. Da habe ich in der
       Altenpflege angefangen, ambulant bei den Leuten zu Hause. Haben alle
       gesagt: „Was, mit den alten Leuten? Da wirste doch selber alt.“ Stimmt ja
       gar nicht, da wirst du jung dabei. Da kommst du rein, und die sagen:
       „Mädchen, komm mal her, du Jungspund.“ Ich war da über 50, aber bei denen
       war ich unglaublich jung.
       
       Und ich habe den Leuten so gern zugehört. Irgendwann hieß es dann von der
       Einsatzleitung: „Karin, die fragen immer alle nur noch nach ‚Zöpfchen‘“ –
       so nannten sie mich wegen dem langen Zopf. „Was machst du da eigentlich mit
       den alten Leuten“, hat die Einsatzleitung gefragt. „Ich mache doch nichts,
       ich höre einfach nur zu“, habe ich gesagt. Die hatten immer ganz rote
       Bäckchen, wenn ich gegangen bin.
       
       Und ich bin so froh, dass ich das gemacht habe, weil jetzt weiß ich, wie
       wichtig das ist. Die Geschichten, die will doch sonst keiner hören. Und
       wenn ich jetzt mal erzählen kann, dann bin ich auch froh. Wenn unser
       Gespräch heute zu Ende ist, bin ich erschöpft. Aber angenehm erschöpft. Mit
       roten Bäckchen. Protokoll: Manuela Heim
       
       ## „Wenn die Zeit kommt, herzlich willkommen!“
       
       Hassan Fayez, Jahrgang 1946, hat eine Fluchtgeschichte. Das Wichtigste für
       ihn sind die Familie und Freunde und seine ehrenamtliche Arbeit 
       
       Hassan Fayez wird 1946 in einem Dorf in Galiläa nahe der libanesischen
       Grenze geboren. Seine Eltern gehören zu rund 850.000 Palästinensern, die
       1948 im Zuge des sogenannten israelischen Unabhängigkeitskrieges vertrieben
       werden. Die Palästinenser sprechen von Nakba – Katastrophe. In einem
       Flüchtlingslager im Nordlibanon wächst er auf. In Beirut verdingt er sich
       mit Jobs, flüchtet 1973 mit seiner Frau und zwei Kindern nach Berlin.
       Obwohl er einen Job auf dem Bau hat, wird er 1981 abgeschoben. 
       
       Über den Flughafen Berlin-Schönefeld (DDR) reist er illegal wieder ein und
       kommt erneut in Abschiebehaft. Eine Aufenthaltserlaubnis ermöglicht es ihm,
       weiter auf dem Bau zu arbeiten. 1990 erhält er die deutsche
       Staatsbürgerschaft. Die Baufirma macht pleite, auch die Pizzeria, mit der
       er sich selbstständig machte, läuft nicht. Die letzten zehn Jahre seines
       Berufslebens verdingt er sich mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und
       1-Euro-Jobs. Fayez lebt von Altersgrundsicherung. 
       
       Ich bin ein glücklicher Mensch, Gott sei Dank. Das Wichtigste in meinem
       Leben sind meine Frau und meine Familie und meine Freunde und Bekannten.
       Die meisten meiner Freunde sind alte Palästinenser – so wie ich. Wir
       treffen uns immer mittags im Nachbarschaftsladen in Schöneberg, trinken Tee
       oder Kaffee und quatschen. Der Jüngste ist 62, ich bin mit meinen 74 Jahren
       der Älteste. Solange wir unter uns sind, sprechen wir arabisch. Wenn jemand
       anderes dazukommt, sprechen wir deutsch, niemand soll sich ausgeschlossen
       fühlen.
       
       Ich lebe von meiner Rente und Altersgrundsicherung. Wenn das Geld nicht
       reicht und ich eine neue Hose oder Schuhe brauche, springen meine Kinder
       ein. Alle leben in Berlin und sind mit Palästinensern verheiratet. Ich habe
       drei Töchter, zwei Söhne und 15 Enkel.
       
       ## Es zieht mich raus
       
       Mit meinen Kindern bin ich sehr zufrieden, Gott sei Dank. Alle haben Arbeit
       und können gut davon leben. Ich hoffe, dass sie niemals arbeitslos werden,
       damit sie, wenn sie alt sind, eine gute Rente haben und keine
       Sozialempfänger werden müssen. Dass viele alte Leute einsam sind, liegt
       wahrscheinlich daran, dass sie keine Familie haben und keine Cousinen und
       Cousins. Das ist nicht ihre Schuld. Wenn man als Einzelkind geboren wird,
       hat man keine Verwandten. Das ist traurig.
       
       Mit meiner Frau lebe ich in einer Zweizimmerwohnung. Um 5 Uhr morgens stehe
       ich auf. Ich bin ein Frühaufsteher. Ich schleiche mich aus dem Haus, um
       meine Frau nicht zu wecken. Es zieht mich raus. Ab 7 Uhr bin ich immer im
       Nachbarschaftsladen in der Steinmetzstraße in Schöneberg. Ich räume auf,
       kümmere mich um die Pflanzen in den Rabatten, sammele den Müll auf der
       Straße auf. Über Nacht wird es hier immer ziemlich schmutzig. das mache ich
       alles ehrenamtlich.
       
       Die Nachmittage verbringe ich meistens mit meiner Frau. Wir sitzen zusammen
       und bequatschen alles. Meine Frau fährt vormittags oft zu den Kindern. Eine
       meiner Töchter ist schwer krank. Abends passiert nicht mehr viel.
       Spätestens um 21 Uhr bin ich im Bett.
       
       Früher habe ich auf dem Bau gearbeitet. Ich war Werkzeugverwalter, aber ich
       habe auch Schubkarre geschoben und Beton gegossen. Gott sei Dank hat mir
       das körperlich nicht geschadet. Ich habe keine Rückenschmerzen, alles gut!
       
       ## Das kann man nicht ändern
       
       Unter meinen deutschen Kollegen gab es welche, die sind ganz früh
       gestorben, kurz vor der Rente oder kurz danach. Mehrere … „Jens ist
       gestorben, Johnny, Frank“ – auf der Baustelle hast du das oft gehört. Das
       waren sehr gute Menschen. Ich habe immer lieber mit den Deutschen
       gearbeitet, weil – einer hilft dem anderen. Sie waren nicht krank, das ist
       es ja gerade. Im Gegenteil. Sie waren stabil wie eine Eiche. Sie hatten
       nichts mehr von ihrem Alter und ihrer Rente – leider. Das hat mir im Herzen
       wehgetan. Aber das kann man nicht ändern.
       
       Kürzlich hatten wir bei uns im Nachbarschaftszentrum eine Trauerfeier, der
       Vater eines Freundes ist gestorben. Wir haben den Trauernden mit anderen
       Geschichten abgelenkt, damit er seinen Kopf frei bekommt. Natürlich redet
       man auch über das Sterben. Meine Eltern sind im Libanon gestorben. Mein
       Vater war Mitte 60, er hatte Krebs. Meine Mutter ist 95 geworden und meine
       Oma, die Mutter von meinem Vater, sogar 110.
       
       Ich bin bei Tripoli im Libanon in einem Flüchtlingslager aufgewachsen.
       Meine Eltern wurden 1948 von den Israelis aus Galiläa vertrieben, da war
       ich zwei. Die ersten Jahre haben wir im Libanon in einem Zelt gelebt. Wir
       hatten es mit Lehm abgedichtet, damit das Wasser im Winter nicht reinläuft.
       Wie fast alle Palästinenser waren wir arm, aber wir konnten überleben.
       
       Als Jugendlicher habe ich bei meiner Cousine in Beirut gelebt und in Cafés
       und Tankstellen gearbeitet. Meine Eltern haben meine Frau für mich
       ausgesucht. 1973 sind wir zusammen nach Berlin gegangen.
       
       ## Das ist das normale Leben
       
       Ich glaube an Gott, an Allah, weil das Leben nicht von allein gekommen ist.
       Ich bete auch regelmäßig. Ich habe keine Angst vor dem Tod, um Gottes
       willen. Man wird geboren, wird erwachsen, und am Ende geht es unter die
       Erde. Das ist das normale Leben. Man darf darüber nicht traurig sein. Wenn
       die Zeit kommt, herzlich willkommen!
       
       Niemand bleibt übrig, selbst die Propheten nicht. Noah ist 950 Jahre alt
       geworden, die anderen waren 100, 200 oder 300 Jahre alt. Aber am Ende sind
       sie alle gestorben.
       
       Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Jungsein und Altsein. Als
       junger Mensch war ich voller Kraft. Jetzt sitze ich manchmal lieber rum.
       Aber ich laufe jeden Tag mindestens zwei Stunden, immer alleine. Manche
       alte Leute hocken den ganzen Tag zu Hause vor dem Fernseher, statt
       rauszugehen und sich zu bewegen. Ich erledige eigentlich fast alles zu Fuß.
       Laufen ist gut für den Körper. Ich denke dabei an nichts Besonderes.
       Nachdenken über Probleme macht das Herz kaputt. Probleme schiebe ich weit
       von mir weg. Da rein, da raus (zeigt auf seine Ohren).
       
       Meine Frau ist meine Liebe und mein Leben. Sie hatte ein hartes Leben. Sie
       hat fünf Kinder groß gezogen und als Reinigungskraft gearbeitet. Weil sie
       immer viel zu viel gemacht hat, hat sie Bluthochdruck und Probleme mit
       ihrer Schulter. Ich habe Angst, dass ich den Verstand verliere, wenn sie
       vor mit stirbt. Protokoll: Plutonia Plarre
       
       ## „Ich mache mir keine Illusionen über das Alter“
       
       Annelore W., Jahrgang 1945, ist von Beruf Kinderkrankenschwester. In den
       Sommermonaten arbeitet sie als Toilettenfrau in einem Biergarten – und hält
       sich auch sonst fit
       
       Anne W. wird 1945 in Berlin geboren. Mit 18 macht sie eine Ausbildung zur
       Kinderkrankenschwester. Nachdem ihre Ehe zerbricht, zieht sie mit ihrer
       kleinen Tochter 1970 nach Italien. Dort arbeitet sie in Krankenhäusern und
       als Sekretärin. 1999 kehrt sie nach Berlin zurück. Nicht nur um die schmale
       Rente aufzubessern, arbeitet sie in den Sommermonaten als Toilettenfrau in
       einem Biergarten. Ihre Tochter lebt nach wie vor in Italien. Ihre Mutter
       ist im Alter von 100 Jahren gestorben. 
       
       Die alten Leuten hatten recht: „Du wirst schon sehen. Das wird dir auch mal
       so gehen“, haben sie immer gesagt. Ich wollte es auch nicht glauben, als
       ich jung war. Alles stimmt. Alles!
       
       Du wirst ja nicht von heute auf morgen alt. Das ist ein langsamer Prozess.
       Du hörst nicht mehr so gut, die Zähne klappern, du kannst nicht mehr so gut
       beißen. Man muss aufpassen, dass man sich nicht überfordert, weil man sich
       etwas beweisen will. Da fällt man immer auf die Schnauze.
       
       Ich nehme es so, wie es ist. Das ist am besten. Und ja, es stimmt: Ich habe
       einsame Momente. Natürlich liegt es auch an einem selbst.
       
       ## Wie kann so was passieren?
       
       Ich hatte eine Nachbarin, die ist verstorben, die lag drei Wochen in ihrer
       Wohnung. Wie kann einem so was passieren in einem Seniorenwohnhaus? Zwei
       Türen weiter, auf meinem Flur. Ich hatte sie oft gefragt: „Wenn Sie was
       brauchen, sagen Sie mir bitte Bescheid“! Das war im Sommer, ich musste zur
       Arbeit. Ich habe zu der Hauswartsfrau gesagt, dass das stinkt auf unserer
       Etage wie Gorgonzola. Hier wohnen vor allem alte Männer. Die riechen ja
       nichts.
       
       Hey, das hat mir Angst gemacht! Ich habe zwar Kontakt zu Leuten im Haus,
       aber davor bin ich auch nicht geschützt. Ab und zu gehe ich mal einkaufen
       oder fahre auf den Friedhof nach Steglitz. Und eigentlich habe ich meine
       Gruppen: die Walking-Gruppe und die Gymnastik-Gruppe, aber die finden wegen
       Corona jetzt leider nicht statt.
       
       Um meine Rente aufzustocken, arbeite ich im Sommer immer als Toilettenfrau
       in einem Biergarten. Der Körper verändert sich, man lernt seine Grenzen
       kennen. In diesem Sommer habe ich zum ersten Mal nur samstags und sonntags
       gearbeitet. Früher war ich jeden Tag da. Ich habe den Job seit 2003. Mit
       800 Euro Rente kommste nicht weit. Schon allein die Miete kostet 350 Euro.
       Wenn ich die Festkosten abziehe, bleibt kaum was übrig. Ich könnte
       natürlich Sozialunterstützung beantragen, Wohngeld und so. Aber das wollte
       ich bisher nicht. Ich habe immer gesagt: Vater Staat ist nicht mein Vater.
       Ich muss selbst für mich sorgen, solange ich kann. Außerdem kann ich nur so
       meine Reisen finanzieren.
       
       In dem Biergarten habe ich vier Fußball-Weltmeisterschaften mitgemacht. Der
       Job als Toilettenfrau gibt mir das Gefühl, dass ich noch gebraucht werde.
       Wenn ich da mittags angekommen bin und hatte Rückenschmerzen und jemand
       rief „Hallo Anne!“ waren die Schmerzen sofort weg. Und ich habe eigentlich
       immer Schmerzen. Ich hatte viele Operationen. Du wirst abgelenkt, du kannst
       nicht dasitzen und die Füße hochlegen, dann kriegst du auch kein Trinkgeld.
       Manchmal habe ich vor dem Toilettenhäuschen Kerzen angezündet und ein
       bisschen Musik aufgedreht.
       
       ## Mein Leben war sehr turbulent
       
       Nee, Klo putzen ist nicht unter meiner Würde, auf keinen Fall. Ich komme
       aus dem Krankenhausbereich. Da habe ich Windeln wechseln müssen und
       Nachttöpfe geschleppt. Wobei ich sagen muss, die Leute haben eigentlich
       keinen Respekt mehr. Sie sehen, dass ich mit der Bürste über der
       Kloschüssel hänge, und machen direkt neben mir Dreck. Das wird immer
       schlimmer.
       
       Mein Leben war sehr turbulent, ich habe wahrscheinlich mehr erlebt als
       viele andere. Ich war 30 Jahre in Italien, ich spreche fließend
       italienisch. Meine Tochter ist in Italien geblieben, sie lebt und arbeitet
       dort. Weihnachten fahre ich immer zu ihr. Da tanke ich Wärme und soziale
       Kontakte. Aber jetzt, wegen Corona, weiß ich gar nicht, ob ich meine
       Tochter besuchen kann. Da habe ich ein bisschen Angst, was die Zukunft
       betrifft.
       
       Bei mir zu Hause läuft der Fernseher von morgens bis abends. Da bin ich
       ganz ehrlich. Damit sich was bewegt und eine Geräuschkulisse da ist. Ich
       gucke nicht richtig, natürlich habe ich meine Serien. Ich habe auch ein
       Tablet. Wenn einer sagt, der Fernseher läuft bei mir nicht, glaub ich das
       nicht, oder er hat viel zu tun.
       
       Mein Leben war nicht immer einfach, aber viele Probleme machen sich die
       Leute doch selbst. Was wirklich schlimm war: Ich konnte meiner Mutter nicht
       helfen, als meine Brüder verstorben sind. Wir waren drei Geschwister. Erst
       ist mein kleiner Bruder mit 18 bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.
       Mein großer Bruder ist mit 45 zu Tode gekommen. Er hatte mich oft in
       Italien besucht. Das war schon ein Schicksalsschlag. Ich frage mich immer,
       wie meine Mutter das weggesteckt hat. Sie ist ja 100 Jahre alt geworden. Im
       Sommer 2018 ist sie verstorben.
       
       ## Das schwarze Schaf
       
       Die letzten Jahre habe ich mich intensiv um sie gekümmert. Meine Mutter hat
       allein gewohnt, ich bin immer zu ihr nach Nauen gefahren, auch wenn wir nie
       ein gutes Verhältnis hatten. Ich war das schwarze Schaf, weil ich so weit
       weg in Italien war.
       
       Ich mache mir keine Illusionen über das Alter. Das sehe ich ganz nüchtern.
       Die Schwächephasen kommen, auch wenn man das nicht zugeben mag. Mittags
       lege ich mich manchmal ein, zwei Stunden auf die Couch. Danach muss ich
       mich zum Teil richtig aufraffen. Wenn du merkst, du bist heute schon den
       zweiten Tag zu Hause, obwohl die Sonne scheint, musst du aufpassen. Dann
       musst du dich zwingen: Lore, jetzt ist Schluss. Jetzt gehst du raus, eine
       Stunde Walken, auch alleine. Danach geht’s wieder besser, auch wenn es nur
       Einkaufen ist.
       
       Wenn du Glück hast, triffst du draußen jemanden, dass du wenigstens ein
       paar Worte wechselst. Ich bin sehr kontaktfreudig, Begegnung mit anderen
       Menschen fehlen mir sehr. Wenn es mir mal nicht so gut geht, muss ich
       aufpassen, dass sich meine Tochter keine Sorgen macht. Wir erzählen uns
       jeden Abend am Telefon, wie der Tag war. Das ist sehr schön, aber sie merkt
       sofort, wenn ich nicht so fröhlich bin wie sonst.
       
       Ich kann verstehen, dass alte Leute auf den Enkeltrick reinfallen: Es ist
       das Gefühl, gebraucht zu werden, auch wenn du nur Geld gibst. Manche
       wünschen sich wirklich, dass auf einmal ein Enkel auftaucht. Die
       Trickbetrüger haben das so gut drauf. Die haben sich genau informiert und
       erzählen dann Sachen, die eigentlich nur dein Enkel wissen kann.
       
       ## Eine Win-win-Situation
       
       Ich brauche immer was, worauf ich mich freuen kann: Koffer packen, in
       Urlaub fahren. Meine letzte Reise war im Januar nach Ägypten, ich bin
       gerade rechtzeitig vor Corona zurückgekommen. Aber im Moment weiß man gar
       nichts. Ohne Pläne, ohne Wünsche, was ist denn das für ein Leben?
       
       Bei einem Urlaub in Kenia, das ist noch nicht so lange her, hatte ich einen
       ständigen Begleiter. Das ist da überhaupt kein Problem. Viele Touristen
       machen das so, das sind meistens ältere Damen. Gesellschaft und Zuneigung
       durch Geld erkaufen. Jeder hat was davon. Für beide Seiten ist das eine
       Win-win-Situation.
       
       Manchmal schreibt mir der Kenianer noch: Mein Vater ist krank, mein Sohn
       ist krank, ich brauche 200 Euro. Manchmal schreibe ich zurück, ich habe
       selber kein Geld, und dann ist es gut. Man muss auch nein sagen können. In
       Kenia, das muss ich sagen, werden die älteren Leute viel respektvoller
       behandelt. Hier wirst du zum Teil schief angeguckt, dass du überhaupt noch
       lebst. Dass du eigentlich nicht mehr da sein solltest. Protokoll: Plutonia
       Plarre
       
       ## „Den Rollator mal ich golden an“
       
       Klaus Becker ist 76 und im Lebensort Vielfalt zu Hause, einem Wohnprojekt
       vor allem für schwule ältere Männer. Er sagt: „Es kommt ja immer noch etwas
       Neues“ 
       
       Klaus Becker wird 1944 in einer holsteinischen Kleinstadt geboren, die
       Mutter bleibt nach dem Krieg allein mit vier Kindern. In Marburg, München
       und Kiel studiert er Medizin und promoviert, beschließt Frauenarzt zu
       werden. Die erste Stelle findet er in Berlin und zieht von dort weiter an
       den Kilimandscharo, Tansania, Ostafrika. Drei Jahre bleibt er, dann geht
       Becker nach San Francisco und bringt von dort seinen Freund mit nach
       Berlin. Anfang der 1980er übernimmt er eine Praxis im Wedding, die er 1999
       aufgeben muss. Seit 21 Jahren ist Klaus Becker in Rente.
       
       Wenn ich in den Spiegel gucke, morgens, entspreche ich nicht meinem
       Schönheitsideal. Ich sehe, dass ich alt bin. Das hat nicht irgendwann
       abrupt angefangen, das ist etwas Schleichendes. Ja, schleichend, das passt
       gut.
       
       Ich habe mir in den Achtzigern schon einmal Gedanken über Vergänglichkeit
       und den Tod gemacht – machen müssen. Ich bekam die Diagnose HIV, das hieß
       damals: Sterben.
       
       Freunde von mir sind gestorben. Ich wollte gern noch zwei Jahre haben. Aber
       selbst wenn ich sofort tot umgekippt wäre, hätte ich damals sagen können,
       das war ein volles Leben. Sie müssen sich vorstellen, in den Fünfzigern war
       der Krieg gerade mal 10 Jahre vorbei, das ist nicht viel. Ich habe mir mit
       16 selbst einen Austausch nach Frankreich arrangiert und bin nach Poitiers
       gefahren. Dort habe ich fürs ganze Leben gelernt: Anderswo funktionieren
       die Dinge anders, aber sie funktionieren auch.
       
       ## Gewaltiges Glück
       
       Zwei Jahre nach der HIV-Diagnose habe ich in den Spiegel geschaut und
       gedacht, Mensch, du bist ja immer noch da. Ohne die Medikamente, ohne den
       medizinischen Fortschritt säße ich nicht hier. Und ich war mir dessen immer
       bewusst. Verdient hatte ich es nicht, das war Glück, gewaltiges Glück.
       
       Meine Arztpraxis konnte ich lange halten, da war ich eingespannt von
       morgens bis abends und abends bis morgens. Als es mir dann immer schlechter
       ging, war klar, das geht nicht mehr. Ich habe dann alles durchgespielt: Was
       mache ich mit der Praxis, kann ich von der Rente leben, was mache ich mit
       den Angestellten? Und dann bin ich in Rente gegangen. Mit 55. Nicht sehr
       alt.
       
       Ich habe auf das Loch gewartet. Eine Woche, einen Monat. Aber es kam kein
       Loch. Ich habe schon immer gemalt, also habe ich mir ein Atelier genommen.
       Es ging mir auch körperlich besser, die Medikamente wurden ja immer besser.
       
       Aber irgendwann habe ich gemerkt, ich werde wirklich älter. Ich habe damals
       in Zehlendorf gewohnt, eine schöne Wohnung. Aber sie war im dritten Stock
       und ich konnte immer schlechter laufen. Und Zehlendorf ist wunderbar, aber
       da kommt auch nicht mal eben jemand spontan vorbei. Außerdem endete meine
       Freundschaft, 20 Jahre waren wir zusammen gewesen. 69 war ich da und
       dachte: Jetzt ist es aus. Vorbei das Leben. Ein Jahr habe ich mich
       verkrochen.
       
       ## Als schwuler Mann leben
       
       Aber nee, das ging auch nicht. Also habe ich geschaut, was gibt es, wenn du
       Ende sechzig bist und unter Leute willst als schwuler Mann. Ich bin dann in
       eine schwule Sportgruppe und in eine deutsch-französische Gruppe, und dann
       hörte ich von diesem Haus hier, Lebensort Vielfalt, ein Wohnprojekt vor
       allem für schwule ältere Männer, mit eigenen Wohnungen, aber auch einer
       Pflege-WG. Das fand ich toll. Ein Ort, an dem man auch bleiben kann, wenn
       man nicht mehr weiß, wie man heißt, und an dem man nicht erklären muss, was
       es bedeutet, als schwuler Mann zu leben. Das Haus wurde damals noch
       umgebaut, und ich habe mich auf die Warteliste setzen lassen.
       
       Als ich als junger Arzt in Afrika gelebt habe, gab es einen großen Komplex,
       in dem die Ärzte, alle Angestellten gewohnt haben. Da kannten sich alle, da
       hat man mal den besucht und mal den. Das war eine tolle Gemeinschaft, aber
       ohne Verpflichtungen. Das hatte ich im Hinterkopf, als ich vor fünf Jahren
       hierher gezogen bin. Und so hat es sich für mich auch erfüllt.
       
       Am Eingang zu meiner Wohnung ist ein kleiner Abreißkalender. Jeden Tag
       reiße ich dort ein Blatt ab. Und wenn meine Nachbarn sehen, dass das Blatt
       nicht abgerissen ist – einmal war ich verreist, da haben sie mich gleich
       angerufen. So ist das hier.
       
       Und dann passieren Dinge im Alter, die sind ganz unerwartet. Dass man
       plötzlich den Handlauf benutzt beim Treppensteigen. Oder dass man sich
       verliebt. Ja, das kam ganz unerwartet. Ich bin seit fünf Jahren
       verheiratet. Ja, wirklich! Das erste Mal.
       
       ## Risikogruppe – das ist neu
       
       Dass ich jetzt in der Coronakrise zur Risikogruppe gehöre, ist auch
       unerwartet und neu. Während der Aidskrise gab es die vielen Selbsthilfe-
       und Unterstützungsgruppen, da war ich sehr aktiv. Ich gehörte zu einer
       Gruppe von Frauenärzten, die sich speziell um Frauen mit HIV gekümmert
       haben. Ich war immer bei denen, die Hilfe anboten und gaben. Und nicht bei
       denen, auf die man Rücksicht nehmen muss. Wenn ich heute bei der
       Ärztekammer oder beim Gesundheitsamt anrufe und sage, ich bin Arzt, wenn
       ihr Bedarf habt, ich komme – da kommt keine Reaktion, weil ich zur
       Risikogruppe gehöre. Das stört mich auch ein bisschen.
       
       Dass ich weniger schmecke und rieche. Dass ich vier oder fünf Lesebrillen
       brauche, damit ich immer eine habe. Dass ich den Schlüssel immer in die
       Hand nehme, damit ich ihn nicht vergesse. Dass ich mir in den Mantel helfen
       lasse, das sind die kleinen, unerwarteten Dinge. Auch da muss ich mich dran
       gewöhnen.
       
       Wie ich meinen Mann kennengelernt habe? Ja, das passt sehr gut zu dem Thema
       hier. Ich bin in einer Gruppe schwuler Männer für gemeinsame Aktivitäten.
       Einmal sind wir auf den Alten Sankt-Matthäus-Friedhof. Die Gebrüder Grimm,
       Virchow, Hochhuth und vor allen Dingen viele Leute, die an Aids gestorben
       sind, liegen dort. 2013 war ich im Krankenhaus, ich bin fast gestorben. Und
       da dachte ich, wenn es so weit ist, dann wäre doch der
       Sankt-Matthäus-Friedhof was.
       
       Ich habe mit den anderen aus der Gruppe gesprochen und es kristallisierte
       sich eine Handvoll Menschen heraus, die mitmachen wollten. Der Roland war
       auch dabei in der Grabgruppe. Er hatte mir gleich gefallen. Wir wollten uns
       umeinander kümmern, haben wir beschlossen. Vor fünf Jahren waren wir beim
       Standesamt, seitdem trägt er meinen Namen.
       
       ## Hier gehörst du hin
       
       Das mit dem Grab war mir wichtig. Klar, wenn du tot bist, bist du tot. Aber
       es ist ähnlich wie mit dem Einzug hier im Lebensort Vielfalt: ein Gefühl,
       angekommen zu sein. Hier gehörst du hin. Das ist ein sehr angenehmes
       Gefühl.
       
       Mein amerikanischer Freund damals in den Achtzigern, der wollte nicht älter
       als 40 werden. Er ist ja tatsächlich nur 43 geworden. Aber woher wusste er
       das? Man muss das Leben doch erfahren. Und wenn es dann Mist war, dann hat
       man eben das erfahren. Aber es kommt ja immer noch etwas Neues. Manches ist
       unerfreulich, vieles witzig. Aber alles überraschend. Mir passiert es ja
       auch das erste Mal, dass ich 76 bin.
       
       Es hängt viel mit der Einstellung zusammen. Es gibt Leute, die sich darüber
       ärgern, was sie nicht haben. Dazu gehöre ich nicht. Damals nach der
       kritischen Phase mit HIV, da habe ich mich gefreut, dass ich noch da bin.
       Ich habe mich nicht geärgert, dass ich HIV habe. Mit dem Alter ist es das
       Gleiche.
       
       Ich hatte nie Angst vorm Alter. Ich bin jetzt 76 und ich hadere nicht,
       nein. Man wird alt, so ist es. Und dass man es sieht, das gehört so.
       Darüber braucht man nicht zu reden. Der Schritt zur Gebrechlichkeit ist
       noch einmal ein anderer. Nicht nur Hilfe zu nehmen, sondern darauf
       angewiesen zu sein. Der Schritt zum Rollator, das finde ich ganz
       schrecklich. Wenn es so weit ist, na gut, dann male ich den golden an.
       Immerhin. Protokoll: Manuela Heim
       
       ## „Ein großer Vorteil des Alters: Ich muss nichts mehr müssen“
       
       Peter G., Jahrgang 1942, ist Buddhist, lebt in Gemeinschaft und hat keine
       materiellen Sorgen 
       
       Peter G. wird 1942 in Stettin geboren, zum Kriegsende flieht er mit der
       Mutter als Heimatvertriebener nach Süddeutschland. Er macht eine Ausbildung
       zum Chemotechniker. 1960, kurz vor Mauerbau, geht er nach Berlin, holt das
       Abitur nach und studiert unter anderem Indologie und Philosophie. 1963 wird
       Peter G. Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Während
       und nach der Studienzeit, die in die Zeit der Studentenbewegung fällt,
       betätigt er sich politisch. Peter G. übt in seinem Leben viele Tätigkeiten
       aus, unter anderem als Handwerker, PC-Trainer und Unternehmensberater; seit
       2007 ist er in Rente. Als Autor und Übersetzer widmet er sich
       buddhistischen Texten.
       
       Ein Glück, dass ich das nicht mehr erleben muss – als ich jung war, habe
       ich diesen Satz von alten Menschen des Öfteren gehört. Ich sage das
       inzwischen auch manchmal, was die Zukunft und unsere Umweltkatastrophen
       betrifft. Nicht ständig, aber ich merke, dass ich mich in der Welt nicht
       mehr so zu Hause fühle.
       
       Ich lebe sehr gerne! Aber Leben heißt nun mal, älter zu werden. Und es
       heißt natürlich auch, dass du dem Tod immer näher kommst. Auf Retreats habe
       ich mir das bewusst gemacht: Mit jedem Atemzug rücke ich dem Tod näher. Ich
       bin Buddhist und meditiere viel, aber ich glaube nicht an Wiedergeburt, ich
       gehe also davon aus, dass der Tod wirklich das Ende meiner Existenz ist.
       
       Wenn du weitab von zu Hause diese Art von Meditation machst, schaltet es
       irgendwann in dir um. Plötzlich siehst du, wie großartig und zugleich auch
       schrecklich Leben ist. Du siehst Menschen, die sich offenbar lieben, aber
       auch welche, die streiten. Du siehst Kinder spielen, du siehst eine Art von
       Schönheit …
       
       ## Der Tod rückt langsam näher
       
       Und du siehst auch, wie Sterben und Tod ununterbrochen auch um dich herum
       stattfindet. Wenn du unterwegs bist, siehst du auf dem Weg überfahrene
       Regenwürmer oder tote Mäuse am Straßenrand. Oder – das fand ich besonders
       beeindruckend – da war ein Baum, es war im späten Herbst, ein Ast war
       abgerissen, hing aber noch mit ein paar Fasern am Stamm. Der Ast war das
       Einzige am ganzen Baum, was Knospen ausgetrieben hatte. Ich sah: Der Ast
       versucht vergeblich am Leben zu bleiben. Genau das tun wir ja auch, wir
       versuchen am Leben zu bleiben.
       
       Der Tod rückt langsam näher. Du merkst es auch daran, dass immer mehr
       Menschen in deinem persönlichen Umfeld sterben, nicht nur ältere. Ein guter
       Freund, den ich vor 60 Jahren auf dem Bau kennengelernt habe, ist dieses
       Jahr gestorben. Ich war die letzte Zeit viel mit ihm zusammen. Er hatte
       seit fünf Jahren Krebs. Der Tod eines nahestehenden Menschen ist immer ein
       Verlust. Er reißt ein Loch ins Leben.
       
       Zurzeit fühle ich mich noch ziemlich fit. Mir ist aber klar, dass das
       weniger werden wird. Wenn ich überhaupt vor irgendetwas richtige Angst
       habe, dann vor einem geistigen Verfall. Das könnte geschehen. Mir geht dazu
       durch den Kopf, was wahrscheinlich viele denken: Wenn es schlimm wird,
       bringe ich mich lieber um. Wie ich das genau machen könnte, habe ich
       ziemlich klar. Die Frage ist nur: Kriege ich rechtzeitig die Kurve?
       
       Es gibt viele Beispiele von Menschen, die so ähnlich dachten, aber die
       Kurve nicht bekommen haben. Etwa weil sie dement geworden sind und
       vergessen haben, dass sie es wollten. Bei Walter Jens war das wohl so.
       Seine Geschichte hat mich sehr beeindruckt. Genau in diesen Zustand, in dem
       er dann war, wollte er nie kommen.
       
       ## Materielle Sorgen haben wir nicht
       
       Ich lebe mit meiner Lebensgefährtin und einer sehr guten Freundin zusammen.
       Unsere Kinder wohnen in der Nähe, wir haben eine sehr gute Beziehung.
       Völlig allein zu leben, wie es ja viele tun, kann ich mir nicht vorstellen.
       Auch materielle Sorgen haben wir nicht. Das alles ist ein großes Privileg.
       
       Mit dem Alter kommt natürlich auch der Rückblick auf das eigene Leben. Ich
       habe sehr viele unterschiedliche Dinge in meinem Leben ausprobiert. Unter
       anderem war ich – der Reihe nach – Chemotechniker, Abendschüler, Student,
       Handwerker, PC-Trainer, Unternehmensberater, immer links orientiert. Ich
       bin nach wie vor der Überzeugung, dass der Kapitalismus eine Katastrophe
       ist, aber gleichzeitig erkenne ich auch, dass wir Menschen in der Mehrheit
       es wohl nicht anders wollen. „Kein Kommunismus ist eben auch keine Lösung.“
       
       Mein Leben verläuft nicht besonders strukturiert. Ich gebe hier und da
       Nachhilfe, übersetze buddhistische Texte aus dem Pali und dem Sanskrit, ein
       bisschen aus dem Tibetischen. Ich möchte ein Buch, das ich schon mal
       veröffentlicht habe, überarbeiten und neu herausbringen. Ich möchte bereits
       erschienene Übersetzungen überarbeiten. Das Gleiche gilt für Texte, die
       noch nirgends erschienen sind. Ob mir dafür die Zeit noch bleibt, weiß ich
       natürlich nicht.
       
       Manches am Alter ist ein bisschen anstrengend. Wir wohnen im fünften Stock.
       Ich komme noch sehr gut die Treppen hoch, aber vor zehn Jahren ging das
       noch besser. Auch dass ich schwerhörig bin, macht mir Probleme. Ich habe
       ein Hörgerät, aber wenn bei unserem Familienessen zehn Leute
       durcheinanderreden, komme ich nicht mehr mit. Die vielen Stimmen und der
       Nachhall machen mir zu schaffen. Ich fühle mich nicht ausgeschlossen, aber
       es ist schade. Andererseits nimmt mir keiner übel, wenn ich den Tisch
       verlasse und etwas anderes mache. Sich das erlauben zu können ist ein
       großer Vorteil des Alters: Ich muss nichts mehr müssen. Protokoll: Plutonia
       Plarre
       
       ## „Zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Herrin meiner selbst“
       
       Elke Schilling, Jahrgang 1944, hat das Seniorentelefon Silbernetz in Berlin
       gegründet. Sie ist ein Workaholic, lebt allein und versucht, jeden Tag
       etwas Sinnvolles zu tun 
       
       Elke Schilling wird 1944 in Leipzig geboren. Die Diplom-Mathematikerin ist
       von 1994 bis 1998 Staatssekretärin für Frauenpolitik in Sachsen-Anhalt
       (B90/Grüne); danach arbeitet sie freiberuflich als Beraterin und
       Mediatorin. Seit 2009 ist sie Rentnerin. Schilling ist Gründerin und Motor
       des Seniorentelefons Silbernetz: Ein dreistufiges Angebot für Menschen ab
       60 mit Einsamkeitsgefühlen. In Berlin ging die Hotline im Herbst 2018 ans
       Netz, seit dem Frühjahr 2020 existiert sie bundesweit und ist unter der
       kostenlosen Rufnummer 0800 4 70 80 90 zu erreichen – dort haben seit März
       bislang rund 40.000 Menschen angerufen.
       
       Ich bekomme öfter zu hören, dass ich eine junge Stimme habe. Für meinen
       Begriff liegt das daran, dass ich sehr gern lache. Das hält die Stimme
       frisch. Meine Enkeltöchter sagen: Oma, du bist ganz anders als andere Omas.
       Es freut mich natürlich, dass sie so positiv auf mich reagieren.
       
       Von Hause aus bin ich Diplom-Mathematikerin, habe aber auch in etlichen
       anderen Berufen gearbeitet. Von der Erwerbstätigkeit in die Rente, das war
       für mich ein ungeheuerlicher Gewinn an Freiheit. Zum ersten Mal in meinem
       Leben war ich wirklich Herrin meiner selbst. Vorher war ich immer von
       irgendwelchen Notwendigkeiten abhängig: Gebraucht, gedrängt, eingeengt. Das
       ist jetzt anders.
       
       Ich habe eine Rente, die nicht üppig ist, aber leben lässt. Das ermöglicht
       mir, das zu machen, wozu ich Lust habe. Das heißt auch, was ich an
       Kenntnissen und Fertigkeiten erworben habe, sinnvoll einzusetzen.
       
       ## Wow, eine neue Herausforderung
       
       Als Erstes bin ich von Sachsen-Anhalt nach Berlin zurückgezogen. Drei
       Monate später habe ich am Rathaus Wedding den Aushang gesehen:
       Seniorenvertreter werden gewählt. Da habe ich gedacht: Wow, eine neue
       Herausforderung. Als Seniorenvertreterin kann ich nutzen, was ich kenne –
       IT, Verwaltung, Strukturen des öffentlichen Lebens, Umgang mit den Medien.
       Neu war die Auseinandersetzung mit Alter.
       
       Ich war sieben Jahre Senioren-Vertreterin. Da ist mir das Thema Einsamkeit
       bewusst geworden. Mir fiel auf, dass ein nicht unerheblicher Anteil der
       Alten aus der Öffentlichkeit verschwindet, einfach nicht mehr erreichbar
       ist. Den letzten Anstoß erhielt ich, als mein alter Nachbar drei Monate tot
       in seiner Wohnung gelegen hat. Ja, mein unmittelbarer Nachbar, Wand an Wand
       mit mir.
       
       Als ich merkte, wie er sich zurückzog, hatte ich ihm Hilfe angeboten, was
       er abwehrte. Er wurde gefunden, nachdem ich den Vermieter anrief, weil in
       meiner Wohnung immer mehr Fliegen waren. Danach bin ich aktiv geworden. Ich
       bin nach London gefahren und habe mir das Seniorentelefon Silverline
       angeschaut. Und dann habe ich ein solches Telefon in Berlin gegründet:
       Silbernetz. Damit ältere Menschen nicht dieses Ende nehmen: einsam,
       vergessen, tot.
       
       Ich bin immer ein Mensch gewesen, der in der Gegenwart lebt. Der das Hier
       und Jetzt genießt. Die Zeit rennt, aber sie läuft mir nicht davon. Mein
       Gefühl ist, dass ich jeden Tag irgendetwas mache, was Sinn hat. Oftmals bin
       ich viel zu erschöpft, um abends Bilanz zu ziehen. Ich bin ein Workaholic.
       
       ## Ich fahre Rad, sooft ich kann
       
       Es gibt natürlich Dinge, die sind nicht mehr so easy wie vor zwanzig
       Jahren. Meine 81 Stufen renne ich nicht mehr ganz so schnell hoch. Aber
       geistig und auch, was die Reaktionsschnelligkeit angeht, habe ich noch
       keine Veränderungen festgestellt. Ich fahre Rad, sooft ich kann, 10 oder 15
       Kilometer am Tag. In Berlin muss man ja höllisch aufpassen. Neulich kam mir
       ein Autofahrer in die Quere, ich kam vor ihm zum Halten.
       
       Wenn ich mich in der Öffentlichkeit umschaue, gibt es nur zwei Bilder von
       den Alten: Die pflegebedürftigen Multimorbiden und die topfitten,
       hochgestylten Power-Alten. Es gibt kein Dazwischen; ich bin dazwischen. Die
       Vielfalt wird nicht sichtbar.
       
       Ich habe zwei Töchter und fünf Enkel. Wenn ich sie wirklich brauche, sind
       sie da. Aber ich bin froh, dass ich sie noch nicht brauche. Ich selbst lebe
       allein, auch das ist ein Teil dieser Autonomie, die ich sehr schätze. Nach
       drei Trennungen von unterschiedlichen Partnern und Partnerinnen habe ich
       festgestellt, dass ich zu nahen Beziehungen nicht fähig bin.
       
       Natürlich gibt es Momente, wo ich denke, es wäre schön, gerade jetzt mal in
       den Arm genommen zu werden. Und dann gucke ich mir den Preis dafür an und
       sage mir: ach, lieber nicht. Es gibt einfach Gewohnheiten, auf die ich um
       einer engen Beziehung willen nicht mehr verzichten würde. Ich bin
       glücklich, dass ich viele gute Bekannte habe und auch zwei Freundinnen. Der
       einen bin ich seit 57 Jahren verbunden.
       
       ## Jede Medaille zwei Seiten hat
       
       Wenn ich über den Tod nachdenke, dann in diesem Sinne: Ich lebe mit aller
       Leidenschaft, die mir zur Verfügung steht, und wenn es zu Ende ist, dann
       ist es auch gut so. Ich bin froh, wenn ich im Bekanntenkreis von einem
       Todesfall höre, wo jemand von jetzt auf gleich gegangen ist.
       
       Ich bin eine, die Konsequenzen zieht, wenn es unerträglich wird. Ich ziehe
       Grenzen und bin sehr neugierig. Als Mathematikerin war mir Logik immer
       wichtig. Das Soziale hat sich mir eigentlich erst später erschlossen. Dazu
       gehört auch die Erkenntnis, dass immer auch Gutes im Schlechten ist und
       umgekehrt. Dass jede Medaille zwei Seiten hat. Das zu erkennen ist ein
       Geschenk.
       
       Als alter Mensch bestimmt sich mein Wert nicht mehr aus dem, was ich mit
       Arbeit verdiene. Es geht um Sinn und Selbstwert. Was kann ich? Was will
       ich? Was macht mich glücklich? Wenn jemand den Drang verspürt,
       gesellschaftlich sinnvoll tätig zu sein – ja!
       
       Alter ist ein Tabu. Als Senioren-Vertreterin bin ich innerlich
       zusammengezuckt, als eine Dame von 87 zu mir sagte: „Wissen Sie, in eine
       Begegnungsstätte gehe ich nicht. Da sind nur alte Leute.“ Viele Alte hängen
       in solchen negativen Stereotypen, das ist schade. Dahinter verbirgt sich
       der Jugendwahn unserer Gesellschaft und die Ignoranz gegenüber den
       Reichtümern des Alters.
       
       Es gibt einfach Dinge, die kann ich nur als alter Mensch tun. Wenn ich das
       nicht sehe, weil mir meine Vorurteile im Weg stehen, versäume ich ganz
       viel. Ich erlebe keinen Generationenkonflikt – ganz im Gegenteil: Nicht nur
       beim Silbernetz wollen Junge und Alte miteinander reden. Protokoll:
       Plutonia Plarre
       
       6 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Plutonia Plarre
   DIR Manuela Heim
       
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