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       # taz.de -- Humanitäre Krisen 2021: Nigerias Killing Fields
       
       > Das Massaker an Reisbauern in Nigeria ist kein isoliertes Ereignis.
       > Vielmehr ein Baustein der globalen humanitären Krise, die die UN für 2021
       > erwartet.
       
   IMG Bild: Der Gouverneur von Borno betet für die Menschen, die bei dem Angriff getötet wurden
       
       Als die Hilfe kam, war es zu spät. Diese Woche schickte Nigerias Regierung
       Hilfsgüter nach Zabarmari im Nordosten des Landes, in dessen Reisfeldern
       die islamistische Terrorgruppe Boko Haram am 28. November ihr bisher
       blutigstes Massaker des Jahres begangen hatte: 76 Tote, vielleicht 110 oder
       noch mehr Vermisste. „Einige Opfer waren geköpft und ihre Köpfe standen auf
       ihren Körpern“, berichtete ein Überlebender. Die Bilder von 43 in schlichte
       weiße Tücher gehüllte Leichen bei der staatlichen Trauerfeier am Sonntag
       gingen um die Welt.
       
       Zwei Tage später legten die Vereinten Nationen ihren Jahresausblick für
       humanitäre Hilfe im Jahr 2021 vor. Darin wird Nordostnigeria zu einem
       Brennpunkt der schwersten humanitären Krise der Welt seit dem Zweiten
       Weltkrieg erklärt, mit 7,8 Millionen Menschen, die mit dem Allernötigsten
       zu versorgen sind – von 235 Millionen weltweit.
       
       Global drohe 2021, so Matt Lowcock, der UN-Untergeneralsekretär für
       humanitäre Hilfe, das „Jahr des großen Rückschritts“ zu werden, „des
       Zerbröselns von vierzig Jahren Fortschritt“. Grund: die verheerenden
       ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie. „Zum ersten Mal seit den 1990er
       Jahren wird extreme Armut zunehmen und die Lebenserwartung sinken. Die
       jährliche Todeszahl von Aids, Tuberkulose und Malaria dürfte sich
       verdoppeln. Wir fürchten nahezu eine Verdopplung der Anzahl von Menschen,
       denen der Hungertod droht. Viele Mädchen, die nicht mehr zur Schule gehen,
       werden nie dorthin zurückkehren.“
       
       UN-Generalsekretär Antonio Guterres bilanzierte: „Konflikte, Klimawandel
       und Covid-19 haben die größte humanitäre Herausforderung seit dem Zweiten
       Weltkrieg geschaffen. Wir müssen gemeinsam Ressourcen mobilisieren und in
       Solidarität mit den Menschen in ihrer düstersten Stunde stehen.“
       
       Konflikte, Klimawandel und Covid-19 – in Nigeria, mit über 200 Millionen
       Menschen Afrikas bevölkerungsreichstes Land, kommen diese drei Probleme
       zusammen. Der Bürgerkrieg im Nordosten wütet seit über zehn Jahren, weite
       Landstriche sind lebensgefährlich, große Bevölkerungsteile haben ihre
       Lebensgrundlage verloren. Nordostnigeria ist zugleich Teil der
       Tschadsee-Region, wo aufgrund von Austrocknung und Wüstenbildung das
       Nebeneinander von Vieh- und Bauernwirtschaft aus den Fugen geraten ist. Und
       der Nordosten ist der ärmste Teil eines ohnehin armen Landes, in dem die
       Jugendarbeitslosigkeit bei 40 Prozent liegt und dessen Wirtschaft dieses
       Jahr bereits um über 9 Prozent schrumpfte.
       
       ## Bildungsfeindliche Terrorgruppe
       
       Eine Generation ohne Bildung, ohne Chancen und ohne Lebensunterhalt wächst
       heran. Die Terrorgruppe Boko Haram, was soviel heißt wie „Westliche Bildung
       ist schlecht“ oder auch einfach „Bücher verboten“, erscheint da wie ein
       Zerrspiegel dieser ausweglosen Lage. Sie entstand ursprünglich 2002 in
       Maiduguri, Nordostnigerias größter Stadt, als Miliz von
       radikal-konservativen Predigern. Gründer Mohammed Yusuf kritisierte damals
       die korrupte politische Elite. Der damalige Gouverneur Ali Modu Sheriff
       paktierte anfangs mit der Gruppierung und sah die jungen Männer als
       willkommene Wahlkampfhelfer. Als Versprechen jedoch nicht eingehalten
       wurden, zerbrach das Bündnis schnell, und Boko Haram radikalisierte sich
       weiter.
       
       2009 stürmte die Polizei ihre Zentrale in der Stadt, bis zu 1.000 Anhänger
       kamen dabei ums Leben. Boko Haram zog sich in die Dörfer zurück und wurde
       zu einem hochgerüsteten und rachsüchtigen islamistischen Untergrundstaat,
       der weite Teile des nordostnigerianischen Bundesstaates Borno unter seine
       Kontrolle brachte.
       
       2015 wurde Exgeneral Muhammadu Buhari zum Präsidenten Nigerias gewählt und
       brach den Islamisten mit Militärschlägen das Genick; sie galten danach als
       versprengte Terrorgruppe. Aber bis heute bleiben weite Landstriche
       unsicher, Millionen von Menschen sind vertrieben, Zehntausende von Menschen
       wurden getötet. Überfälle sind dieses Jahr wieder zur Normalität geworden
       und nun zeigt Boko Haram: Wir sind wieder da, und zwar genau da, wo es weh
       tut: zurück am Rande von Maiduguri.
       
       Die zwei Millionen Einwohner zählende Hauptstadt des Bundesstaates Borno
       liegt am Ngadda-Fluss, der in den Bergen nahe Kamerun entspringt und in
       einem weiten Bogen durch Nordostnigeria in Richtung Tschadsee fließt. Kurz
       unterhalb der Stadt ufert er in eine fruchtbare grüne Ebene aus, das
       Jere-Becken, seit Kolonialzeiten für den Reisanbau genutzt.
       
       Die Reisfelder von Jere sind ein Prestigeprojekt, das beweisen soll, dass
       Maiduguris Umland wieder sicher ist und dass es genug zu essen gibt. Aus
       über 1.000 Kilometer Entfernung kommen Bauern, um hier zu arbeiten. Dieses
       Jahr war das besonders wichtig: Seit dem fünfwöchigen Coronalockdown im
       Frühjahr sind in Nigeria Lebensmittel knapp und teuer. Im September gab es
       schwere Regenfälle und Überschwemmungen, viele Bauern haben die
       bevorstehende Ernte verloren.
       
       Die Reisbauern in Jere fielen nun Boko Haram zum Opfer, deren Führung sich
       zu dem Massaker bekannte. Die Augenzeugenberichte von Überlebenden in
       lokalen Medien ähneln sich: Anwohner, manche davon selbst Bauern, riefen
       kleine Gruppen der Feldarbeiter am 29. November von der Reisernte weg an
       entlegene Orte in den Feldern, wo sie von Bewaffneten gefesselt und einzeln
       hingerichtet wurden, „geschlachtet wie Tiere“, wie einer erzählte.
       
       Wer die Entwicklung in Nordostnigeria seit Beginn der Covid-19-Pandemie
       verfolgt hatte, konnte nicht überrascht sein. „Banditentum, Geiselnahmen
       und kommunale Konflikte dauern an auf einem höheren Niveau als in den
       Vormonaten, was Fluchtbewegungen antreibt“, bilanzierte kurz vor dem
       Massaker das US-amerikanische Hunger-Frühwarnnetzwerk FEWS. „Gekoppelt mit
       den Fluten läuft das auf unterdurchschnittliche Ernten hinaus, während
       viele von Konflikten betroffene Haushalte auf die Märkte für Nahrung
       angewiesen sind“ – weil sie nicht mehr selbst ihre Felder bestellen.
       
       ## 75 Prozent der Bevölkerung sind verarmt
       
       Die Inflationsrate ist zweistellig und steigt. „Die Zahl der dringend
       Hilfsbedürftigen in Nordostnigeria ist seit dem Beginn von Covid-19 von 7,9
       auf 10,6 Millionen gestiegen“, berichtete Ende November das humanitäre
       UN-Koordinationsbüro OCHA. Im Sommer 2021 drohe „kritische
       Ernährungsunsicherheit“ für 5,1 Millionen Menschen.
       
       Die Unterentwicklung Nordostnigerias ist älter als der Krieg. Nach dem
       letzten nationalen Entwicklungsbericht von 2015 lag die Armut bereits 2010
       bei 75 Prozent der Bevölkerung. Mädchen und Jungen gehen im Schnitt nur
       vier Jahre zur Schule. Historisch war Borno im gesamtnigerianischen
       Zusammenhang einfach nur weit weg. Maiduguri war verschlafen, kein
       Vergleich mit Nigerias anderen quirligen Metropolen.
       
       Selbst die wichtigen Handelsstraßen Richtung Kamerun und Tschad waren immer
       extrem schlecht und in der Regenzeit unpassierbar. Straßenbanditen gab es
       lange vor Islamisten. Durch zahlreiche Checkpoints, an denen eine illegale
       Maut eingetrieben wird, werden Überlandfahrten teuer und nervenaufreibend.
       
       Ein Lkw-Fahrer hat der taz vor Jahren vorgerechnet, dass er bis in die über
       800 Kilometer entfernte nigerianische Hauptstadt Abuja mitunter umgerechnet
       100 Euro an Bestechungen zahlen muss. Das ändert niemand, da davon vor
       allem Sicherheitskräfte profitieren, die die Bevölkerung ja eigentlich
       schützen sollen. Schon vor Boko Haram kritisierte die Zivilbevölkerung oft,
       dass bei Überfällen niemand zu Hilfe kam. „Es ist doch egal, ob Boko Haram
       kommt oder die Armee. Das Ergebnis ist gleich“, hat es in Interviews häufig
       geheißen. Die Sicherheitskräfte schüren selbst Angst, da sie meist wahllos
       junge Männer beschuldigen, Terroristen zu sein, sie mitnehmen, foltern,
       verhaften, verschwinden lassen, hinrichten.
       
       Die Wut auf den Staat ist deshalb groß, entsprechend einfach ist es für
       [1][Gruppen wie Boko Haram], Zulauf zu gewinnen. Erst zwei Monate ist es
       her, da wurde Nigeria von einer Welle von Massenprotesten gegen
       Polizeigewalt erschüttert – aus der Forderung #EndSARS für die Auflösung
       einer besonders brutalen Polizeieinheit entwickelte sich eine breite
       Bewegung gegen die Unfähigkeit des Staates. Der brach die Proteste auf
       bewährt brutale Weise. Am 20. Oktober eröffnete die Armee das Feuer auf
       eine friedliche Sitzblockade in Nigerias größter Stadt Lagos; zahlreiche
       Menschen starben.
       
       ## Die Armee schützt die Bevölkerung nicht
       
       Keine sechs Wochen später erweist sich die Armee als unfähig, Bauern in
       einem Reisfeld zu schützen – obwohl am Tag davor ein Boko-Haram-Kämpfer auf
       dem Markt von Zabarmari festgenommen, entwaffnet und an die Polizei
       übergeben worden war und danach jeder vor einem Racheangriff zitterte.
       
       Die Regierung hat jetzt [2][Hilfsgüter zu den Reisbauern] geschickt: elf
       Lastwagen voller Bohnen, fünfeinhalb voller Mais, dazu Speiseöl,
       Dosentomaten, Salz – und Reis, fünfeinhalb Lastwagen voll. Und sie
       verkündet stolz, sie habe für 12,5 Millionen Euro einen Kampfhubschrauber
       in Serbien gekauft, zum Einsatz gegen Terroristen.
       
       In Zabarmari ist die Grabstelle mit der säuberlichen Reihe von Erdhaufen,
       die die Beisetzung der Reisbauern markiert, derweil menschenleer.
       
       5 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Terror-in-Nigeria/!5728799
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Gänsler
   DIR Dominic Johnson
       
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