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       # taz.de -- Buch „Atlas of Brutalist Architecture“: Evolutionäre Bewegung
       
       > Als der Phaidon Verlag den „Atlas of Brutalist Architecture“
       > veröffentlichte, war der schwere Band schnell ausverkauft. Jetzt wurde er
       > neu aufgelegt.
       
   IMG Bild: Poplavok Café, Oscar Grigorievich Havkin, Dnipro, Ukraine, 1976
       
       Das hätte sich damals sicher auch niemand träumen lassen, dass die steil
       nach oben ragenden Monolithen, die massiven Kuben, die absurden
       Neuzeitkastelle und die kreuz und quer übereinandergestapelten Riegel aus
       Beton irgendwann einmal eine solche Schwärmerei entfachen würden wie zuvor
       allenfalls die Architektur der Mid Century-Moderne. Begeisterung ja, Schock
       auch, denn polarisieren konnte der Brutalismus, seit er Mitte des 20.
       Jahrhunderts zum ersten Mal auf der Bildfläche erschien.
       
       Das Internet dürfte einen entscheidenden Anteil an der breiten
       Wiederentdeckung brutalistischer Bauwerke haben. Und womöglich auch an
       deren Niedlichwerdung: Plötzlich gab es Unmengen an Blogs, Bildstrecken,
       Pinterest-Sammlungen und Hashtags, die die potenziell schaurigen, zumindest
       aber doch dem Menschen einige Demut abverlangenden Bauten in handlicher
       Größe ganz nahbar präsentierten.
       
       Während die von den einen ungeliebten Bauwerke längst demoliert sind oder
       ihre Zukunft doch zumindest im Ungewissen liegt, entwickelte sich eine
       ungeahnte Nostalgie für jene Nachkriegsarchitektur, die nie nostalgisch
       sein wollte.
       
       ## Blitzschnell ausverkauft
       
       Der „Atlas of Brutalist Architecture“, der dem Phänomen 2018 eine weitere
       Plattform und zugleich den bis dato größten globalen Überblick in Buchform
       bot, war jedenfalls blitzschnell ausverkauft. Jetzt ist eine neue Version
       erschienen, die wie der Vorgänger über 850 Bauten aus 102 Ländern
       präsentiert.
       
       Begriffsdefinitionen werden, das steht ganz offen im Vorwort, generös
       ausgelegt – denn natürlich franst der Brutalismus an seinen Rändern aus,
       wie auch die Suche nach der Begriffsentstehung bis heute Unterschiedliches
       hervorbringt (war es Le Corbusiers „béton brut“, der rohe Beton, der den
       Namen lieh, hatte Alison Smith 1953 mit „New Brutalism“ den Begriff bereits
       geprägt, oder verlief die Entwicklung zeitgleich parallel?)
       
       So zeigt das Buch ein maximales Spektrum brutalistischer
       Erscheinungsformen: Nicht nur erschlagend oder kühl modernistisch, sondern
       auch aberwitzig, fantastisch, organisch anmutend, postmodern, wild
       verspielt oder gar neofolkloristisch wie im Kosovo oder in Mexiko.
       
       Neben Wohnhäusern gibt es öffentliche Plätze, Springbrunnen und Monumente,
       sogar Parkanlagen, die komplett in die Vertikale gebaut sind (wie der
       Freeway Park in Seattle), Bibliotheken, Krankenhäuser,
       Forschungseinrichtungen, Museen, Wassertanks, Kirchen und Kommerzielles. I.
       M. Peis archaische Pyramidenbauten sind ebenso dabei wie George Chakhavas
       and Zurab Jalaghanias Ministerium für Autobahnbau in Tiflis oder zum
       Beispiel [1][Gerd Hänskas „Mäusebunker“ in Berlin.]
       
       ## Brutalistische Bauwerke gibt es überall
       
       Es ist schlicht falsch, dass der Brutalismus irgendeiner Ideologie oder
       Staatsform eigen gewesen wäre. Im Gegenteil, wie dieses Buch unumstößlich
       zeigt: Brutalistische Bauwerke entstanden in bemerkenswerter Dichte östlich
       wie westlich des Eisernen Vorhangs, im globalen Süden und im Norden, in
       Diktaturen und in Demokratien. Und sie entstehen bis heute, wie Beispiele
       von Zaha Hadid über Ricardo Bofill bis Herzog & de Meuron auch im Buch
       belegen.
       
       Was Brutalismus eine Weile lang und teilweise entgegen seiner landläufigen
       Rezeption damals hingegen schon war: ein architektonisches Unterfangen, um
       utopische Potenziale eines guten Lebens für viele, oder zumindest doch für
       mehr als eine Handvoll Menschen in der dritten Dimension auszutesten.
       Plötzlich [2][entstanden gigantische Wohnriegel, Wohnblöcke und Wohntürme],
       in denen Abertausende Menschen Platz hatten, und das in durchaus
       großzügigen, attraktiven Wohnungen.
       
       Ob das Vorhaben im Einzelnen immer gelungen ist? Man erinnert sich an
       Horrorgeschichten von Gewalt und Verbrechen in dem Londoner Wohnhochhaus
       Trellick Tower nach Entwürfen von Ernő Goldfinger, einst sozialer
       Brennpunkt, der heute auch begehrte Eigentumswohnungen beherbergt.
       
       ## Kein Allheilmittel für die Probleme
       
       Oder an handfeste bauliche Mängel, gut gemeinte, aber schlecht gemachte
       (weil die Eigenheiten des Betons nicht ausreichend berücksichtigende)
       Konstruktionen. Aber diese Probleme hatte der Brutalismus natürlich nicht
       exklusiv, das betrifft auch ganz andere städtebauliche Unterfangen.
       Architektur ist kein Allheilmittel für die Probleme dieser Welt, und wie
       bei nahezu allen anderen Sujets, über die man so urteilt, werden auch hier
       oft genug Korrelation und Kausalität verwechselt.
       
       „Brutalismus stellt nicht in Frage, was bis jetzt erreicht worden ist; es
       ist eine evolutionäre, keine revolutionäre Bewegung“, wird der Architekt
       und Kritiker Jürgen Joedicke im Vorwort zitiert. Vielleicht liegt hier ein
       weiterer Grund für seine Anziehungskraft in durchdigitalisierten
       Lebenswelten: als baulich verwirklichtes Paradox einer unbestechlich
       manifestierten Gegenwart. Ganz konkret (und concrete ist im Französischen
       ja auch ein anderer Name für das Kompositmaterial).
       
       Bemerkenswerterweise hat man sich entschieden, den 568 Seiten schweren Band
       – anders als übrigens den Atlas der Mid-Century Moderne, der im selben
       Verlag erschienen ist – ohne Ausnahme mit Schwarz-Weiß-Fotografien zu
       illustrieren. Was visuell naheliegt, dem historisierenden Charakter,
       entgegen dem im Vorwort angemerkten Vorhaben, aber natürlich Vorschub
       leistet.
       
       Würde es den Schrecken nehmen, den Schauer mildern, wenn man diese
       spektakuläre Angstlust-Architektur in Farbe betrachten könnte? Ja: „SOS
       Brutalismus“ beispielsweise, bereits 2017 zur gleichnamigen Ausstellung im
       Deutschen Architekturmuseum herausgegeben, erlaubte mit seinen oft
       farbigen Abbildungen gleich einen ganz anderen, viel lebensnaheren Blick
       auf die brutalistischen Bauwerke.
       
       ## Umfangreicher Überblickstitel
       
       Auch gibt es Bücher, die regional in die Breite und inhaltlich stärker in
       die Tiefe gehen. Der „Atlas of Brutalist Architecture“ bleibt vor allem
       einer der wohl umfangreichsten Überblickstitel und damit ein echtes
       Staunwerk. Die Bauwerke führen immer wieder zur gerade so schwierigen, weil
       permanent auseinanderdriftenden Gegenwart zurück.
       
       Vielleicht, denkt man sich beim Blättern, ist dies ja wirklich Architektur
       par excellence; all ihre Möglichkeiten, visionären Potenziale und realen
       Probleme in einem Bauwerk kumulierend, nichts beschönigend. Eine
       Positionierung im Hier und Jetzt regelrecht herausfordernd.
       
       9 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina J. Cichosch
       
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