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       # taz.de -- heute in hamburg: „Eine vermeidbare Ungerechtigkeit“
       
       Interview Paula Bäurich
       
       taz: Herr Razum, ist unsere Gesundheitsversorgung in der Coronapandemie
       ungerechter geworden? 
       
       Oliver Razum: Ich denke, dass die Gesundheitsversorgung in Deutschland
       aktuell Außerordentliches leistet. Von einer Zunahme der Ungerechtigkeiten
       können wir hier nicht sprechen.
       
       Sehen Sie denn generell aus medizinischer Sicht eine wachsende Ungleichheit
       in unserer Gesellschaft? 
       
       Ja, es gibt enorme soziale und sozioökonomische Unterschiede in den
       Gesundheitschancen, allerdings nicht erst seit Corona. Die Lebenserwartung
       unterscheidet sich je nachdem, wie gut gebildet ein Mensch ist und wie hoch
       sein Einkommen ist. Bei den Männern besteht zwischen der Gruppe mit dem
       höchsten und der mit dem niedrigsten Einkommen ein Unterschied in der
       Lebenserwartung von neun Jahren, bei den Frauen sind es viereinhalb Jahre.
       Das ist eine vermeidbare Ungleichheit.
       
       Warum wirkt sich der finanzielle Status so stark auf die Gesundheit aus? 
       
       Wer wohlhabend ist, kann mehr für seine Gesundheit tun. Deswegen haben
       viele Gesundheitsprogramme, die eigentlich diese Ungleichheit bekämpfen
       sollen, einen paradoxen Effekt. Letztendlich profitieren diejenigen, die
       sie am meisten bräuchten, am wenigsten davon.
       
       Wie lässt sich das Problem lösen? 
       
       Wir dürfen nicht nur auf den Gesundheitsbereich schauen, sondern brauchen
       eine Gesundheitspolitik, die sich auf alle Sektoren erstreckt. Das
       bedeutet, in den Bereichen Wohnen, Verkehr oder Landwirtschaft muss
       Gesundheit immer bereits mitgedacht werden. Damit möchte ich nicht sagen,
       dass wir keine gute medizinische Versorgung bräuchten. Allerdings reicht
       diese allein nicht aus, um die sozialen Ungleichheiten in der
       Gesundheitsversorgung auszugleichen.
       
       Warum sollte eine gute medizinische Versorgung, die für alle zugänglich
       wäre, nicht reichen? 
       
       Es genügt nicht, wenn jeder eine Chance bekommt und dann für sich selbst
       agieren muss. Einige Menschen in bestimmten Regionen des Landes oder in
       bestimmten sozialen Schichten können nicht mit den gleichen Chancen am
       sozialen und kulturellen Leben teilhaben. Es gibt enorm ungleiche
       Ausgangsbedingungen. Dafür muss vom Staat ein Ausgleich geschaffen werden.
       
       27 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paula Bäurich
       
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