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       # taz.de -- Coronahilfen für Selbständige: Statt Geld kommt eine Anzeige
       
       > Zahlreiche Selbstständige erhalten Vorladungen der Polizei. Der Vorwurf:
       > Subventionsbetrug. Verband spricht von mindestens 8.200 Fällen.
       
   IMG Bild: Tatsächlich Ganoven? Künstler:innen protestieren gegen die bürokratischen Coronahilfen
       
       Nürnberg taz | Für Gerd „Geraldino“ Grashaußer war es ein doppelter Schlag.
       Der Musiker aus Nürnberg musste wegen des zweiten Lockdowns erneut
       Auftritte absagen, mit denen er zumindest kleine Gagen erwirtschaftet
       hätte. Ende Oktober flatterte dann eine Vorladung ins Haus: Grashaußer, der
       seit Monaten von der Grundsicherung lebt, wurde versuchter
       Subventionsbetrug vorgeworfen.
       
       Wie es dazu kam? Grashaußer beantragte im März recht schnell die
       Soforthilfe für Selbstständige aus Mitteln des Bundes und des Landes. Diese
       Gelder durfte er jedoch nicht für private Lebenshaltungskosten, sondern nur
       für betriebliche Zahlungsverpflichtungen verwenden. Diese
       „Betriebskosten“-Konstruktion sorgte von Anfang an für Proteste aus Kunst
       und Kultur.
       
       Im Mai besserte die Bayrische Staatsregierung nach und beschloss die
       Künstlerhilfe: Soloselbstständige wie Grashaußer können nun bis zu 1.000
       Euro pro Monat beantragen und von diesem Überbrückungsgehalt auch ihren
       Lebensunterhalt finanzieren. Die Künstlerhilfe gilt aber nicht für alle.
       Menschen wie Grashaußer, die bereits über 3.000 Euro Soforthilfe bekommen
       hatten, waren ausgenommen. Was dem Musiker jedoch nicht klar war.
       
       Grashaußer füllte also im Juni den Antrag auf Künstlerhilfe aus. In das
       Feld „Soforthilfe“ schrieb er eine 0, schließlich hatte er die gesamte
       Summe bereits im Mai ausgegeben. Der Freistaat lehnte seinen Antrag ab.
       Grashaußer beantragte Grundsicherung, um Miete und Essen zu bezahlen.
       Seinen Versuch, die Künstlerhilfe zu beantragen, wertete der Freistaat als
       versuchten Subventionsbetrug.
       
       ## 8.200 verdächtige Fälle
       
       Der Fall von Gerd Grashaußer ist kein Einzelfall. Seit Oktober sammelt der
       Verband der Gründer und Selbstständigen (VGSD) solche Fälle. Bis Mitte
       Oktober hat der Zoll nach Recherchen des VGSD von den Banken insgesamt
       8.200 Verdachtsmeldungen im Zusammenhang mit den Coronasoforthilfen
       erhalten.
       
       Stein des Anstoßes war der Veranstaltungstechniker Sebastian Groschopp aus
       Leipzig. Groschopp, dem im ersten Lockdown alle Aufträge wegbrachen, wurde
       von der Leipziger Staatsanwaltschaft vorgeworfen, in seinem Antrag falsche
       Angaben gemacht zu haben: Ein Liquiditätsengpass beziehungsweise eine
       Notlage liege nicht vor. Im Interview mit dem VGSD sagt Groschopp: „Ich
       habe auch keine Ahnung, wie sie darauf gekommen sind, dass ich keinen
       Liquiditätsengpass gehabt haben soll, obwohl mir alle Aufträge für dieses
       Jahr auf einen Rutsch weggefallen sind.“
       
       Der VDSG-Vorsitzende Andreas Lutz recherchierte nach. Auf Groschopp wurden
       die Ermittlungsbehörden demnach aufmerksam, als der Techniker seinen Dispo
       nicht ausgeschöpft hatte. Solche Angaben werden von den Landesbanken, die
       die Hilfe auszahlen, an die Ermittlungsbehörden weitergereicht. Zuständig
       ist in solchen Fällen die Zentralstelle für
       Finanztransaktionsuntersuchungen (FIU), eine Abteilung des Zolls.
       Normalerweise geht sie Verdachtsfällen von Geldwäsche oder
       Terrorismusfinanzierung nach.
       
       ## Unklar, was gerade gilt
       
       Anlass für eine Meldung der Banken kann etwa der Umstand sein, dass beim
       Antragsteller Geschäfts- und Privatadresse identisch sind, was bei
       Selbstständigen nicht selten vorkommt. Oder dass das Geschäftskonto auch
       für private Ausgaben genutzt wurde. Oder dass der Selbstständige vor Corona
       zwischenzeitlich kurzfristig angestellt gewesen sei. „Es handelt sich um
       ein breites Raster an Vorwürfen“, sagt Lutz.
       
       Die Vorwürfe haben zum Teil gar nichts mit den Antragsbedingungen der
       Hilfsprogramme zu tun. Wie bei Groschopp, dem zum Verhängnis wurde, dass er
       seinen Dispo nicht ausschöpfte.
       
       Zudem verändern die einzelnen Bundesländer die Bedingungen ihrer Hilfen
       immer wieder. „Als die Soforthilfe neu herauskam haben wir hier zehn
       Ehrenamtler nur damit beschäftigt herauszufinden, was gerade überhaupt
       gilt“, erinnert sich Verbandsvorsitzender Lutz. Der WDR berichtet von einem
       selbstständigen IT-Dienstleister und Videoproduzenten in
       Nordrhein-Westfalen, der die Soforthilfe zur Fortzahlung seines eigenen
       Gehalts, also für den Lebensunterhalt, verwendet hatte. Weil das Land NRW
       das zum Zeitpunkt des Antrags erlaubt hatte und erst später, rückwirkend,
       änderte. Auch gegen diesen Mann wird wegen Subventionsbetrugs ermittelt.
       
       In anderen Fällen werden Selbstständige in Bayern wegen Subventionsbetrugs
       angezeigt, weil sie zu Unrecht oder zu viel Coronahilfe erhalten hätten.
       Über 100 Millionen Euro wurden bereits freiwillig zurückgezahlt. Wie genau
       die ausgezahlten Hilfen jetzt verrechnet werden sollen, was „zu viel“
       überhaupt bedeutet, scheint aber noch gar nicht klar zu sein.
       
       Das bayrische Wirtschaftsministerium schreibt auf seiner Homepage: „Zur
       Berechnung der Überkompensation führt der Bund aktuell Gespräche mit den
       Ländern. Die Einzelheiten hierzu werden nach Abschluss der Gespräche
       publiziert.“ Das heißt: Bevor klar ist, wie das Geld abgerechnet wird,
       erhalten die Betroffenen schon Anzeigen.
       
       ## Hilfen werden kaum abgerufen
       
       Als der angebliche Betrüger Grashaußer vorgeladen wurde, wusste er noch gar
       nicht, was genau ihm eigentlich zur Last gelegt wurde. Das erschloss sich
       auch im Verlaufe des polizeilichen Verhörs nur ansatzweise. Denn nur sein
       Anwalt bekam Akteneinsicht.
       
       Während die ersten Programme nun abgewickelt werden, kommen neue wie die
       Novemberhilfe hinzu. Der Freistaat Bayern hat außerdem angekündigt, die
       Künstlerhilfe neu aufzusetzen. Der erste Anlauf habe nicht funktioniert:
       Statt der erwarteten 60.000 gingen nur 10.000 Anträge ein, von denen 8.000
       bewilligt wurden.
       
       Ähnlich verhält es sich mit den Soforthilfen des Bundes, von denen bis
       Oktober nur ein Drittel, 13,6 Milliarden, abgerufen wurde, wie das
       Finanzministerium mitteilte. Dafür haben die Unternehmen und
       Selbstständigen bereits 305 Millionen Euro wieder zurückgezahlt. „Das Geld
       wird ins Schaufenster gestellt, kommt bei denen, die es brauchen, aber nie
       an“, sagt Verbandsvorsitzender Lutz.
       
       Hinzu kommt: Die Beschuldigten – ob soloselbstständig, Künstler oder
       Unternehmer – wurden oft gar nicht angehört oder um eine Stellungnahme
       gebeten, sondern direkt angezeigt. „Es ist zumindest bemerkenswert“, sagt
       Grashaußers Anwalt Ralf Peisl, „dass die gewährenden Behörden nicht
       wenigstens parallel dazu Rückforderungsbescheide versenden. Das wäre das
       typische Vorgehen.“
       
       Es ist nicht Peisls einziger Fall in der Sache Subventionsbetrug derzeit.
       Seine Mandanten hätten sich, seiner Einschätzung nach, nach bestem Wissen
       und Gewissen durch die Formulare geklickt. Statt Geld gibt es jetzt häufig
       Anzeigen. „Ganz ehrlich“, sagt der Anwalt: „Wenn man das so
       verbürokratisiert und dann auch noch Ermittlungen drohen, ist es kein
       Wunder, wenn sich keiner mehr traut und die Hilfsmittel nicht abgerufen
       werden.“ Auch sein Mandant wird sich das in Zukunft zweimal überlegen.
       
       Das Verfahren gegen Gerd Grashaußer wurde Ende November wegen
       Geringfügigkeit eingestellt. Es bleiben zumindest ein fader Beigeschmack
       und die Erinnerung an einige schlaflose Nächte.
       
       6 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Thamm
       
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