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       # taz.de -- Schüler*innen organisieren Halbgruppen: Revolutionäres angezettelt
       
       > In Bremen wollten Schüler*innen sich nicht trotz Corona mit 30 anderen in
       > engen Räumen drängen. So halbierten sie die Kurse auf eigene Faust.
       
   IMG Bild: Kathrin Hajji (l.) und Fabienne Pastoor auf dem in Zonen eingeteilten Schulhof ihrer Oberschule
       
       BREMEN taz | Die Oberstufe der [1][Schule an der Kurt-Schumacher-Allee] in
       Bremen hat ein eigenes Gebäude: Ein heller Neubau, viel Holz im Inneren,
       das Erdgeschoss wirkt mit Sofabänken vor den großen Fenstern wie die Lounge
       eines designbewussten Budget-Hotels.
       
       Gleich beginnt im ersten Stock ein Englisch-Kurs, alle paar Minuten steckt
       eine Schülerin den Kopf durch die Tür des Klassenraums. „Bitte wartet noch
       einen Augenblick draußen“, sagt Fabienne Pastoor, die ein Interview gibt.
       Sehr freundlich, sehr bestimmt. Es gibt keinen Widerspruch. Schließlich hat
       die 18-jährige Abiturientin gerade etwas „Revolutionäres“ angezettelt, wie
       es ihre Mitstreiterin Kathrin Hajji nennt.
       
       Die 16-jährige Elftklässlerin steht ihrer älteren Mitschülerin in Eloquenz,
       Selbstbewusstsein und Klarheit in nichts nach. Die beiden sind die
       Schülersprecherinnen der Oberschule an der Kurt-Schumacher-Allee, kurz KSA,
       in der Vahr, einem in den 60er Jahren am Reißbrett entstandenen Stadtteil,
       sechs Kilometer von der Innenstadt entfernt.
       
       Gemeinsam mit ihren Mitschüler*innen haben die beiden jungen Frauen auf
       eigene Faust Halbgruppenunterricht eingeführt. Also das, was bundesweit
       Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen seit Monaten erfolglos fordern. Erst
       am Freitag [2][haben die Kultusminister*innen ihr Festhalten am
       Präsenzunterricht] in voller Gruppenstärke aufgegeben.
       
       Nach den Weihnachtsferien könnte an vielen Schulen Normalität werden, was
       sie an der KSA seit dem 30. November praktizieren. Nur die Hälfte der 240
       Schüler*innen der 11. bis 13. Klasse kommt in die Schule, die andere Hälfte
       lernt zu Hause, digital unterstützt. Zuvor hatten die Schülersprecherinnen
       im Oktober den Schulleiter gebeten, die halben Klassen einzuführen. Doch
       der hatte abgewunken, die Schulaufsicht würde nicht mitspielen.
       
       ## Warum warten, bis es zu spät ist?
       
       Dafür müsste ein Viertel der Schüler*innen in Quarantäne sein „oder mit dem
       vorhandenen unterrichtenden Personal der Regelbetrieb nicht uneingeschränkt
       aufrechterhalten werden“ können. So steht es in einem Schreiben der
       [3][Bremer Bildungssenatorin vom 10. November.] An der KSA war man davon
       weit entfernt, als die Schüler*innen in vielen Zoom-Meetings im November
       die Revolution vorbereiteten. Seit Beginn der Pandemie waren bis dahin nur
       zwei Schüler*innen positiv getestet worden.
       
       Doch die Schüler*innen wollten nicht darauf warten, dass sich mehr
       infizieren. Warum sich weiter mit bis zu 30 anderen Haushalten in engen
       Räumen ohne Abstände drängen? Wenn sie außerhalb der Schule angehalten
       sind, möglichst wenige Leute zu treffen?
       
       „Mich macht das richtig traurig“, sagt Fabienne Pastoor. „Ich bin 18, ich
       will was erleben, durch die Welt reisen, Partys feiern.“ Sie treffe kaum
       Freund*innen, es gebe keine Höhepunkte im Alltag. Und wie so viele
       Mitschüler*innen litt sie unter der Sorge, den Virus mit nach Hause zu
       bringen. Also überlegten sie, wie sie mit der Pandemie so leben können,
       [4][dass sie möglichst wenig Schaden anrichtet].
       
       Jeder Kurs, erzählen die beiden, habe sich überlegt, wie die Halbgruppen
       jeweils zusammengewürfelt sein sollen. Die meisten hätten dafür gesorgt,
       dass sich Leistungsstarke und -schwächere mischen. Denn natürlich, sagen
       sie, gebe es einige, für die das Lernen zu Hause schwerer ist als in der
       Schule.
       
       Das Einzugsgebiet der KSA ist gemischt, Fabienne Pastoor kommt aus dem
       Gete-Viertel mit Bremer Reihenhäusern, ihre Mutter ist Lehrerin. Die
       meisten Schüler*innen leben aber in Mehrfamilienhäusern, 70 Prozent haben
       einen Migrationshintergrund. Nach dem aktuellen Armutsbericht der
       Arbeitnehmerkammer beziehen im Stadtteil 40 Prozent der Eltern
       Sozialleistungen.
       
       Vielleicht sei das der Grund, warum die Revolution dort beginne und
       [5][nicht an einem Innenstadt-Gymnasium], vermutet Fabienne Pastoor. Die
       Not sei größer, weil viele Wohnungen so eng seien, dass man sich schlechter
       vor Ansteckung schützen könne. Und es fehle eine aktive Elternschaft, die
       sich für ihre Kinder einsetze. „Wir müssen das selbst in die Hand nehmen,
       das macht niemand für uns.“
       
       Die Schulleitung ist stolz auf die Schüler*innen und lobt sie für ihren
       Mut. Aber sie sorgen sich auch. „Ich befürchte, dass wir Schüler*innen
       verlieren“, sagt Stephanie Lipka, die stellvertretende Schulleiterin.
       „Manche machen zu Hause gar nichts, auch auf Nachfrage kommt nichts“, sagt
       sie. Einen bis zwei solcher Schüler*innen pro Kurs gebe es, schätzt sie.
       „Ja, die gibt es“, sagt auch Fabienne Pastoor. „Aber es gibt auch viele,
       die jetzt besser mitkommen, die sich in den kleinen Gruppen auch mal
       trauen, etwas zu sagen und dann auch gehört werden.“
       
       ## Kein bulimisches Lernen
       
       Zudem, sagt Kathrin Hajji, könnten die Lehrkräfte die Schüler*innen jetzt
       besser individuell unterstützen und auch die Mitschüler*innen hätten ein
       Auge darauf, wer Hilfe braucht. „Man muss sich nichts vormachen, es gibt in
       der Pandemie keine perfekte Lösung“, sagt Fabienne Pastoor. Aber es gebe
       eben schlechtere und bessere Lösungen. Ein weiterer positiver Effekt ihrer
       Aktion: „Die Lehrer sind nicht mehr so gestresst“, sagt sie.
       
       Das bestätigt Stefan Schulz, der als Vertrauenslehrer die Schüler*innen
       beraten hat. Wie die Schulleitung hat der Lehrer für Geschichte, Politik
       und Sport darauf gedrungen, dass sich die Schüler*innen für jeden Fehltag
       entschuldigen, damit sie keine Probleme bekommen. In fast jedem Kurs gab es
       Schüler*innen, die aus Angst vor negativen Konsequenzen nicht mitgemacht
       haben. „Ich fühle mich jetzt wohler“, sagt Stefan Schulz, auch wenn er in
       den jüngeren Klassen in voller Gruppenstärke und in der fünften und
       sechsten ohne Maskenpflicht unterrichtet.
       
       Er ärgert sich sehr über Politiker*innen, die so täten, „als mache der
       Virus vor Schultüren halt“. Aber auch über Kolleg*innen, die die gleiche
       Menge an Stoff durchziehen wie in normalen Zeiten. „Das bringt jetzt
       nichts“, sagt er, „da muss man Inhalte abspecken und Methoden lehren, das
       ist ohnehin sinnvoller als dieses bulimische Lernen.“ Damit meint er: sehr
       viele Lehrinhalte auf einmal aufnehmen und zu den Prüfungen wieder
       auskotzen.
       
       Fabienne Pastoor und Kathrin Hajji sehen noch weitere Vorteile. Die
       Schüler*innen hätten durch die gemeinsame Aktion sehr viel mehr Kontakt
       untereinander bekommen, Gemeinschaftsgefühl und Hilfsbereitschaft seien
       gestärkt. Auch die Beziehung zu den Lehrkräften habe sich verbessert, diese
       bäten häufiger um Feedback und manche um Hilfe bei der Nutzung der
       digitalen Medien.
       
       „Sie sind mit den Lehrkräften auf Augenhöhe“, sagt der Schulleiter
       Christian Sauter, und dass nach seiner Einschätzung die meisten
       Kolleg*innen die Aktion mittragen. Kathrin Hajji erzählt, wie Lehrer*innen
       die Schüler*innen fragen, was sie als Nächstes durchnehmen wollen. Sie sagt
       auch, dass sie es schätze, sich ihre Lernzeiten selbst einteilen zu können
       – und das, obwohl sie sich ihr Zimmer mit ihrem neunjährigen Bruder teilt,
       der abends schlafen muss, wenn sie den Computer anwirft. Einen reinen
       digitalen Unterricht kann sie sich aber genauso wenig wie Fabienne Pastoor
       vorstellen. „Da würde ganz viel fehlen.“
       
       ## Behörde legitimiert die Aktion
       
       Die beiden finden, dass es gut läuft, besser als erwartet. Die Mehrheit
       halte sich an die Verabredung, so mitzuarbeiten wie im reinen
       Präsenzunterricht und rechtzeitig Unterrichtsprotokolle hochzuladen. Aber
       ihr eigentliches Ziel haben sie noch nicht erreicht. „Wir machen das nicht
       für uns“, sagt Fabienne Pastoor, „wir wollen, dass sich andere auch
       trauen.“ Doch bisher hat keine Schule in Bremen nachgezogen: Angesichts der
       neuen Lockdown-Beschlüsse wird das erst einmal nicht mehr nötig sein.
       
       Die Bremer Bildungsbehörde hat derweil einen eleganten Weg gefunden, mit
       der Aktion umzugehen. Denn kurz nach Beginn der Schüler*innen-Aktion gab es
       zwei Positivfälle bei Schüler*innen. Mehr als 10 Prozent der Lehrkräfte
       hätten daraufhin in Quarantäne gehen müssen, schreibt die Sprecherin der
       Bildungsbehörde der taz.
       
       Damit seien die Voraussetzungen für Hybrid-Unterricht erfüllt. Dass die
       Fälle gar nicht in der Oberstufe waren und die Lehrkräfte überwiegend in
       den unteren Klassen unterrichten, für die kein Halbgruppenunterricht gilt,
       erwähnt sie nicht. Auch nicht, dass die Quarantäne am Freitag auslief, die
       Erlaubnis aber bis Weihnachten gilt.
       
       14 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Einsatz-fuer-kleine-Klassen/!5731141
   DIR [2] /Schulschliessungen-nach-Weihnachten/!5737583
   DIR [3] https://www.bildung.bremen.de/sixcms/media.php/13/2020-11-10_KriterienReaktionsstufen.pdf
   DIR [4] /Bremens-Bildungssenatorin-ueber-Corona/!5731216
   DIR [5] /Schuelerinnen-ueber-Schule-in-der-Pandemie/!5730073
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eiken Bruhn
       
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