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       # taz.de -- Lohnarbeit in Coronazeiten: Dienst ist immer
       
       > Freizeitstätten sind schon lange geschlossen, Schulen und Handel nun bald
       > auch wieder. Nur der Bereich Arbeit bleibt weiter sich selbst überlassen.
       
   IMG Bild: Was will man machen? Die Stechuhr tickt eben weiter
       
       Es gibt diesen einen Satz, der gerade besonders gut passt: „Es ist
       einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des
       Kapitalismus.“ Das Zitat wird sowohl Literaturwissenschaftler Fredric
       Jameson als auch Philosophieposterboy [1][Slavoj Žižek] zugeschrieben und
       bringt eine zentrale Eigenschaft der Moderne auf den Punkt.
       
       Diese scheint zu banal, um angesprochen zu werden, ihre Macht steckt aber
       gerade in der Banalität: Das kapitalistische Wirtschaften, also das
       Produzieren, Verkaufen und Konsumieren von Waren, wirkt mindestens so
       naturgegeben wie, aber unumstößlicher und selbstverständlicher als die
       Schwerkraft. Oder als das Bedürfnis der Menschen nach Sauerstoff.
       
       [2][Wie viel Wahrheit in diesem Satz steckt], das zeigt die Pandemie – seit
       Monaten: In Debatten über den Infektionsschutz spiegeln sich zwar immer
       partikulare Interessen, die bei einer Lehrerin anders ausfallen als bei
       einem Familienvater, bei einem Kassierer anders als bei einer
       Restaurantbetreiberin; doch worüber diskutiert wird, weist auch immer
       darauf hin, welche Maßnahmen überhaupt gesellschaftlich denkbar sind. Und
       welche als zumutbar gelten.
       
       Leidenschaftlich haben Menschen in den vergangenen Monaten über die
       Schulschließung diskutiert; Restaurants und Kneipen sind schon eine Weile
       zu; und ab Mittwoch muss auch der Einzelhandel vorerst bis zum 10. Januar
       schließen, wie Bund und Länder am Sonntag angesichts steigender
       Infektionszahlen beschlossen haben. Das ist einerseits erfreulich, weil es
       zeigt, dass zumindest von der Naturgegebenheit des Konsums, wenn auch unter
       großem Leidensdruck, ein bisschen Abstand genommen wird.
       
       ## Appelle sind absurd
       
       Dagegen bleibt die andere Konstante des Kapitalismus, die Arbeit, weiterhin
       sich selbst überlassen: Anders als in den anderen regulierten
       Lebensbereichen sprechen Bund und Länder Arbeitgeber:innen gegenüber keine
       Verpflichtungen aus. Sie bitten nur höflich, wenn auch „dringend“, „zu
       prüfen, ob die Betriebsstätten entweder durch Betriebsferien oder
       großzügige Homeoffice-Lösungen vom 16. Dezember bis 10. Janaur 2021
       geschlossen werden können, um bundesweit den Grundsatz ‚Wir bleiben zu
       Hause‘ umsetzen zu können“.
       
       Es ist jedoch absurd, Arbeitgeber:innen ehrfürchtig zu bitten, sie mögen
       doch selbstständig prüfen, ob sie ihre Betriebe schließen können. Denn
       kapitalistische Betriebe stehen in Konkurrenz zu anderen. Wenn sie
       freiwillig auf Profite verzichten, dann werden sie von anderen übertrumpft
       und besiegeln ihr eigenes Ende.
       
       Dass Unternehmer:innen nicht freiwillig auf Profite verzichten und sich
       gegenüber Konkurrent:innen nicht freiwillig in eine unvorteilhafte
       Situation begeben, gehört zur bitteren strukturellen Notwendigkeit des
       Kapitalismus.
       
       Deshalb braucht es verbindliche Verpflichtungen statt Appelle, will man
       Infektionen am Arbeitsplatz genauso entschlossen verhindern wie in
       Restaurants und Kaufhallen. Und für Betriebsschließungen, die auch
       differenziert möglich wären, spricht: Man kann davon ausgehen, dass das
       Infektionsrisiko in Fabriken und Produktionshallen mindestens so hoch ist
       wie im Einzelhandel, wenn nicht sogar höher.
       
       ## Mehr als Lieferketten
       
       Es gibt zwar Arbeitsschutzvorgaben, die das Bundesarbeitsministerium in
       Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
       [3][im August nochmals konkretisiert hat], aber auch im Einzelhandel gab es
       ja Schutzmaßnahmen. Der Ausbruch des Coronavirus in der
       fleischverarbeitenden Industrie oder in Logistikzentren hat in den
       vergangenen Monaten gezeigt, wie anfällig Betriebe sind. Vor zwei Wochen
       eskalierte ein Streit zwischen der [4][Gewerkschaft Verdi und Amazon]. Die
       Gewerkschaft sprach von einem Corona-Hotspot mit 300 Infizierten im
       bayerischen Amazon-Standort Graben, der Konzern dementierte und sprach von
       31 Infizierten.
       
       Natürlich würden Betriebsschließungen die gegenwärtige wirtschaftliche
       Ordnung noch mehr ins Wanken bringen. Aber es würde deren vermeintliche
       Naturwüchsigkeit auch hinterfragen helfen. Weil es bei der Lohnarbeit aber
       um mehr als das Aufrechterhalten von globalen Lieferketten geht, wird das
       allerdings schwer. Denn wer die Lohnarbeit auch nur temporär infrage
       stellt, der stellt damit gleich auch die essentiellste Notwendigkeit des
       Kapitalismus infrage.
       
       15 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Streitschrift-von-iek-ueber-Corona/!5686873
   DIR [2] https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/kapitalistischer-realismus-ohne-alternative/
   DIR [3] https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regelwerk/AR-CoV-2/pdf/AR-CoV-2.pdf?__blob=publicationFile&v=6
   DIR [4] /Covid-19-bei-Amazon/!5729174
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Ağar
       
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