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       # taz.de -- Wissenschaftler zu postsowjetischer Migration: „Es wurde viel projiziert“
       
       > Über 2,7 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion leben in
       > Deutschland. Der Forscher Jannis Panagiotidis erklärt, wieso sie kaum
       > Beachtung finden.
       
   IMG Bild: Eine Familie aus Nowosibirsk in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Friedland, 2005
       
       taz: Herr Panagiotidis, im November haben Sie das erste interdisziplinäre
       Buch zur postsowjetischen Migration veröffentlicht. Diese Migrant*innen
       tauchten bislang wenig in der Migrationsforschung auf. Warum? 
       
       Jannis Panagiotidis: Postsowjetische Migranten wurden von verschiedenen
       Seiten bewusst aus dem Migrationsdiskurs herausgehalten. Die Grundlage
       ihrer Aufnahme war ein symbolischer und vergangenheitspolitischer
       Wiedergutmachungsakt: Bei den Spätaussiedlern griff das
       Bundesvertriebenengesetz aus der Nachkriegszeit. Sie kamen als deutsche
       Opfer von Flucht und Vertreibung, die man aus dem Kommunismus rettete. Die
       Kontingentflüchtlinge wurden als Juden aufgenommen, denen man Schutz vor
       Antisemitismus in der zerfallenden Sowjetunion bot. Beide Gruppen bekamen
       einen besseren Deal als andere Migranten: Integrationsleistungen, einen
       festen Aufenthaltsstatus, im Fall der Aussiedler sogar die deutsche
       Staatsbürgerschaft.
       
       Die deutsche Migrationspolitik hatte also mehr mit der Konzeption eines
       deutschen Selbst zu tun als mit den Menschen, die aufgenommen wurden? 
       
       Auf beide Gruppen wurde sehr viel projiziert. Die Aufnahme der
       Kontingentflüchtlinge kann als einer der Gründungsakte eines neuen „guten
       Deutschlands“ nach der Wiedervereinigung bezeichnet werden. Ein Land, in
       das Juden wieder freiwillig einwanderten. Was dann real mit diesen Juden in
       Deutschland passierte, ist eine andere Frage.
       
       Über Russlanddeutsche schreiben Sie, dass sie den Linken „zu deutsch“ und
       den Rechten „zu russisch“ seien. Was meinen Sie damit? 
       
       Von linker Seite wurde die regierungspolitische Linie in Bezug auf die
       Russlanddeutschen sehr kritisch gesehen. Oskar Lafontaine bezeichnete
       Helmut Kohls Aufnahmepolitik in den frühen 90ern als „Deutschtümelei“, im
       schlimmsten Fall als eine Fortsetzung von völkischen NS-Politiken. Die
       antinationale Einstellung vieler Linker richtete sich gegen diese
       Migrantengruppe. Und dieses Erbe ist bis heute da.
       
       Was ist dran an dem Vorwurf der Blutslogik, die angeblich zu einer
       privilegierten Aufnahme der Russlanddeutschen führte? 
       
       Tatsächlich ist es viel komplexer. Es ging nie explizit um Blut und auch
       nicht einfach nur um Abstammung. Es ging um konkrete Verfolgungsgeschichten
       in der Sowjetunion, vor allem unter Stalin.
       
       Trotzdem ist die Position postsowjetischer Migrant*innen in der deutschen
       Migrationsgesellschaft eine besondere. 
       
       Auf jeden Fall. Meine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer Gruppe
       vornehmlich weißer Migranten zeigt, wie rassistisch und kulturalistisch in
       der deutschen Migrationsgesellschaft hierarchisiert wird. In der
       öffentlichen Wahrnehmung galt die Migrationsbewegung aus dem Osten nach den
       90ern als abgeschlossen. Postsowjetische Migranten bekamen die Möglichkeit,
       unsichtbar zu werden. Sie werden oft als Beispiel für die „Mustermigranten“
       herangezogen. Gleichzeitig wurde das Versprechen, irgendwann zur deutschen
       Mehrheitsgesellschaft dazuzugehören, nicht eingelöst. Sie blieben „die
       Russen“. Antirussische und antislawische beziehungsweise antiöstliche
       Ressentiments haben eine lange Tradition in Deutschland.
       
       Wie haben sich diese Ressentiments in den letzten 30 Jahren verändert? 
       
       Die Bilder von postsowjetischen Migranten unterliegen einem Wandel,
       allerdings ist dieser nicht linear. Es existieren immer zwei Varianten, die
       je nach Kontext abgerufen werden: Es gibt das Stereotyp der guten,
       fleißigen, kinderreichen, tiefgläubigen Russlanddeutschen. Parallel dazu
       gibt es im Fall der Kontingentflüchtlinge das Bild der hochgebildeten
       Intellektuellen, die aus den Metropolen Russlands und der Ukraine nach
       Deutschland kamen, um hier das jüdische Geistesleben vor dem Untergang zu
       bewahren. Diese positiven Projektionen konnten schnell kippen und schlugen
       dann in Bilder von saufenden, kriminellen, prügelnden Russen um, die sich
       ihre Aufnahme in Deutschland unter Vortäuschung einer falschen Identität
       erschlichen hätten. Den Spruch „Das einzig Deutsche an den
       Russlanddeutschen sind ihre deutschen Schäferhunde“ haben wir gerade wieder
       gehört. Das schrieb der Journalist und Autor Hasnain Kazim auf Twitter.
       Diese Parole war auch schon in den 90ern – nicht nur unter Rechten –
       beliebt. Wie so oft bekommen die negativen Bilder mehr Aufmerksamkeit.
       
       Unter postsowjetischen Migrant*innen sind auch muslimische und
       nichtweiße Menschen. Zum Beispiel steigt die Zahl queerer Personen, die aus
       Tschetschenien nach Deutschland fliehen. Warum sind ihre Geschichten so
       wenig sichtbar? 
       
       Tschetschenische Queerness überfordert das Komplexitätsverständnis der
       hiesigen Migrationsschubladen. Über Tschetschenen spricht man eigentlich
       nur im Zusammenhang mit Islamismus. LGBTIQ-Themen und der Islam sind
       Leerstellen im Diskurs um die postsowjetische Community. Ich konnte diese
       Leerstellen in meinem Buch zwar benennen, aber nicht inhaltlich ausfüllen.
       Allerdings tut sich gerade etwas. Im Juli 2020 organisierte Quarteera, eine
       Berliner Organisation russischsprachiger LGBTIQ-Personen, eine Pride Parade
       durch Marzahn. Also durch einen Berliner Bezirk mit großem
       russischsprachigen Bevölkerungsanteil. Queere tschetschenische Flüchtlinge
       nehmen sich in Marzahn die Straßen und beziehen damit die hiesige Community
       dynamisch in die aktuellen Entwicklungen im postsowjetischen Raum ein.
       Gleichzeitig stellen sie die Homophobie dieser Community auf die Probe.
       
       Marzahn wird meist angeführt, wenn es um die Nähe der postsowjetischen
       Community zur AfD geht. Hat sich dieses Narrativ in Ihrer Forschung
       bestätigt? 
       
       Eine wichtige Erkenntnis meiner Forschung ist, dass die Darstellung eines
       allgemeinen Rechtsrucks der gesamten Gruppe falsch ist. In den letzten
       Jahren haben ziemlich stabil über 40 Prozent der postsowjetischen Migranten
       Parteien links der Mitte gewählt. Das wird kaum beachtet, weil es natürlich
       faszinierender ist, dass über 50 Prozent Mitte-rechts wählen. Bei dieser
       Wählergruppe hat tatsächlich ein Rechtsruck stattgefunden. Die CDU hat an
       Zuspruch verloren und die AfD an Zuspruch gewonnen.
       
       In ihrem Buch erklären Sie diese Hinwendung zur AfD mit einem
       „Nichtabgeholtwerden“ von anderen Parteien. Was meinen Sie damit? 
       
       In der deutschen Parteienlandschaft fehlt das Bewusstsein dafür, was es
       bedeutet, ein Einwanderungsland zu sein. Spätaussiedler waren als deutsche
       Staatsbürger von Anfang an wahlberechtigt, aber wurden von den meisten
       Parteien als potenzielle Wählergruppe lange Zeit kaum wahrgenommen. Man
       ging davon aus, dass sie sowieso CDU wählen. Die AfD hat dieses politische
       Vakuum früh erkannt und geschickt bespielt, zum Beispiel mit
       russischsprachigen Videos im Wahlkampf und einem übersetzten
       Parteiprogramm. Es ist höchst ironisch, dass die Entdeckung eines
       migrantischen Wählerblocks einer Partei vorbehalten bleibt, die sich
       eigentlich der nationalen Homogenität verschrieben hat.
       
       Zwei Bundestagsabgeordnete der AfD sind in der ehemaligen Sowjetunion
       geboren. Sind postsowjetische Migrant*innen auch in anderen Parteien
       repräsentiert? 
       
       Gerade machen Sergey Lagodinsky und Marina Weisband Politik bei den Grünen.
       Sie sind beide postsowjetisch-jüdischer Herkunft und politisch progressiv
       unterwegs. Auch diese Beispiele gibt es. Tatsächlich ist die politische
       Repräsentation der Gruppe insgesamt aber recht schwach. Einerseits sind sie
       schon seit 25 bis 30 Jahren in Deutschland, andererseits aber auch erst
       seit 25 bis 30 Jahren. Den meisten fehlt das soziale Kapital und die Zeit,
       um politisch aktiv zu werden. Spannend ist die zweite Generation, die
       gerade vermehrt an die Öffentlichkeit tritt.
       
       16 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Wasenmüller
       
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