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       # taz.de -- Coronamythen und Fakten (1): „Lockdown schadet mehr“
       
       > Kritiker argumentieren, der Lockdown koste mehr Lebensjahre, als durch
       > die Politik gerettet würden. Das ist falsch.
       
   IMG Bild: Der Lockdown wie hier in der Innenstadt von Duisburg führt zu einem Konjunktureinbruch
       
       Die These, dass der Lockdown mehr Lebensjahre koste, als dadurch gewonnen
       werden, hat einen prominenten Vertreter: den Finanzwissenschaftler Bernd
       Raffelhüschen. Er ist Professor in Freiburg, leitet das angeschlossene
       Forschungszentrum Generationenverträge und ist bekannt als Kritiker des
       Rentensystems und Sozialstaats.
       
       Pünktlich vor den Pandemiemaßnahmen im November griff die [1][Bild-Zeitung]
       Raffelhüschens Berechnungen mit der Schlagzeile auf: „Experte rechnet
       vor: Corona-Lockdown kostet uns 3,8 Mio. Lebensjahre. Der Lockdown im
       Frühjahr hat offenbar mehr gesundheitlichen Schaden angerichtet als
       verhindert!“ Verbreitet wurden die Berechnungen in den sozialen Netzwerken,
       auch der Tübinger Oberbürgermeister [2][Boris Palmer] griff in politischen
       Diskussionen darauf zurück.
       
       Hier lohnt, wie so oft, ein Blick in die genauen Ausführungen des
       Wissenschaftlers, veröffentlicht unter anderem im [3][Wirtschaftsmagazin
       WiSt] und im Blog [4][„Wirtschaftliche Freiheit“]. Raffelhüschens
       Berechnungen liegt eine statistische Korrelation zugrunde: In der
       Vergangenheit stieg in Deutschland die Lebenserwartung stetig an, während
       gleichzeitig die Wirtschaftsleistung zunahm. Diese Beobachtung nutzt
       Raffelhüschen, um einen konkreten Zusammenhang zu kalkulieren: 1 Prozent
       Wirtschaftswachstum würde eine zusätzliche Lebenszeit von 27 Tagen pro
       Person bedeuten. Woraus bei ihm umgekehrt folgt, dass es entsprechende
       Lebenszeit kostet, wenn die Konjunktur einbricht.
       
       Die Coronakrise wird in diesem Jahr voraussichtlich zu einem Minuswachstum
       von 5,1 Prozent führen, wie das ifo-Institut am Mittwoch prognostizierte.
       In der Logik Raffelhüschens würde dies bedeuten, dass in Deutschland 83,1
       Millionen Einwohner 137,7 Lebenstage pro Person verlieren, was dann
       kumuliert ergibt, dass 31,35 Millionen Lebensjahre abhanden kommen. Dass in
       der Bild nur von 3,8 Millionen fehlenden Lebensjahren zu lesen war, liegt
       daran, dass Raffelhüschen damals alternativ noch von einem „extrem
       optimistischen Konjunktureinbruchsszenario“ ausging.
       
       Raffelhüschen glaubt, dass es nicht zu einem Konjunktureinbruch gekommen
       wäre, wenn man weltweit auf Lockdowns verzichtet hätte. Aus seiner Sicht
       hat man also durch die Pandemiemaßnahmen in Deutschland 31,35 Millionen
       Lebensjahre geopfert – um nur einen Bruchteil von Lebensjahren zu retten.
       Raffelhüschen hat nämlich berechnet, was der Frühjahrs-Lockdown in der
       Bundesrepublik gebracht hat. Sein Ergebnis: Damals habe man maximal 556.000
       zusätzliche Lebensjahre ermöglicht, weil vor allem ältere Menschen nicht an
       Covid-19 gestorben seien.
       
       Der Lockdown im Frühjahr sei daher unverhältnismäßig gewesen, findet
       Raffelhüschen. „Wir leben nicht davon, dass wir uns gegenseitig umeinander
       kümmern, sondern wir leben davon, dass wir ökonomischen und technischen
       Fortschritt generieren“, sagte er der rechtskonservativen Preußischen
       Allgemeinen Zeitung im Sommer in einem [5][Interview].
       
       In der Wissenschaft haben Raffelhüschens Berechnungen keinerlei Widerhall
       gefunden. Dafür gibt es Gründe. Erstens: Der Zusammenhang zwischen
       Wirtschaftsleistung und Lebenserwartung ist keineswegs so eng, wie
       Raffelhüschen es suggeriert. So sind die USA das reichste Land der Welt,
       dennoch stagniert die [6][Lebenserwartung] dort schon seit Jahren.
       Umgekehrt gibt es relativ arme Staaten wie Portugal oder Chile, wo die
       Lebenserwartung dennoch sehr hoch liegt.
       
       Zweitens: Es ist falsch zu unterstellen, dass es ohne Lockdown keinen
       Konjunktureinbruch gegeben hätte. Dies zeigen Studien über den [7][Verlauf
       der Spanischen Grippe ab 1918]. Städte, die damals auf einen rigiden
       Lockdown setzten, kamen ökonomisch besser durch die Pandemie als Orte, die
       den Laissez-faire praktizierten.
       
       Drittens: Raffelhüschens Rechnung basiert darauf, dass die deutsche
       Wirtschaft durch den Lockdown auf Dauer geschädigt bleibt. Das
       [8][ifo-Institut] prognostiziert aber, dass es 2021 zu einem
       überdurchschnittlichen Wachstum von 4,2 Prozent und 2022 zu einem
       beachtlichen Plus von 2,5 Prozent kommen wird. Raffelhüschen kann also
       ganz entspannt bleiben. In seiner Logik büßen die Bundesbürger nicht etwa
       137,7 Lebenstage ein – sondern gewinnen bis 2022 insgesamt 35,1 Tage hinzu.
       Trotz Coronakrise.
       
       Die Schäden eines Lockdowns fallen aber nur dann relativ gering aus, wenn
       man, wie die Industrieländer, die nötigen Kredite für Konjunkturpakete
       aufnehmen kann und ein soziales Netz hat. Die ärmeren Staaten im globalen
       Süden werden hingegen hart getroffen. Die Entwicklungsorganisation Oxfam
       [9][schreibt], dass ein Drittel der Weltbevölkerung in der Pandemie
       keinerlei finanzielle Unterstützung erhalte. Von 100 Dollar, die reiche
       Länder für die Unterstützung ihrer Bevölkerung aufwendeten, gingen gerade
       einmal 5 Cent in Entwicklungsländer.
       
       Oxfam-Ernährungsexpertin Marita Wiggerthale spricht von einer „Krise in
       der Krise“, die Welternährungsorganisation FAO von einer „toxischen
       Kombination aus Konflikten, ökonomischem Abschwung, Klimaextremen und der
       Pandemie“ und warnt vor Hungersnöten in Burkina Faso, dem Nordosten
       Nigerias, Südsudan und Jemen. Oxfam warnt, dass zusätzlich in Somalia,
       Äthiopien, Kenia, Tansania, Ruanda und Uganda aufgrund des Wetterphänomens
       „La Niña“ bald Niederschläge fehlen. Die Regionen kämpfen immer noch mit
       den Folgen schwerer Überschwemmungen und der schwersten
       Wüstenheuschreckenplage seit Jahren. Das Zusperren lokaler Märkte habe
       bereits in der ersten Welle zahlreiche Menschen in Not gestürzt, etwa weil
       bäuerliche Produzenten auf ihren Lebensmitteln sitzen blieben, wie
       Wiggerthale schreibt.
       
       Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, nämlich fehlende Impfungen etwa gegen
       Masern. Diese können sich in Entwicklungsländern [10][schnell tödlich]
       auswirken. Bereits im Juli warnten Unicef und die WHO, dass [11][zahlreiche
       Impfprogramm ausfielen]. Davon seien nun zwar einige wieder angelaufen,
       sagt eine Sprecherin von Unicef, doch noch immer hätten 45 ärmere Länder
       ihre Impfprogramme unterbrochen. Im vergangenen Jahr kam es in der
       Demokratischen Republik Kongo zu einem Masernausbruch, weil die Impfraten
       wegen der Konflikte dort nach unten gingen. Binnen wenigen Wochen starben
       6.000 Kinder. Unicef fürchtetet, dass durch geplante Impfungen gegen
       Covid-19 die Kapazitäten für herkömmliche Impfungen nicht mehr ausreichten.
       Man dürfe im Kampf gegen die eine tödliche Krankheit nicht den Kampf gegen
       andere vergessen, [12][warnte kürzlich] Unicef-Exekutivdirektorin Henrietta
       Fore.
       
       17 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/experte-rechnet-vor-corona-lockdown-kostet-uns-3-7-mio-lebensjahre-73565552,view=conversionToLogin.bild.html
   DIR [2] https://www.daserste.de/information/talk/maischberger/faktencheck/faktencheck-maischberger-die-woche-236.html
   DIR [3] https://www.beck-elibrary.de/10.15358/0340-1650-2020-10-33/verhaeltnismaessigkeit-in-der-pandemie-geht-das-volume-49-2020-issue-10
   DIR [4] http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=27630
   DIR [5] https://paz.de/artikel/wir-haben-unverhaeltnismaeszig-gehandelt-a1209.html
   DIR [6] https://twitter.com/MaxCRoser/status/1337764502796898305/photo/1
   DIR [7] https://papers.ssrn.com/sol3/Papers.cfm?abstract_id=3561560
   DIR [8] https://www.ifo.de/ifo-konjunkturprognose/20201216
   DIR [9] https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2020-12-15-covid-19-pandemie-27-milliarden-menschen-ohne-soziale-sicherung
   DIR [10] /Fehlende-Impfungen-wegen-Corona/!5695745
   DIR [11] https://www.who.int/news/item/15-07-2020-who-and-unicef-warn-of-a-decline-in-vaccinations-during-covid-19
   DIR [12] https://www.who.int/news/item/06-11-2020-unicef-and-who-call-for-emergency-action-to-avert-major-measles-and-polio-epidemics
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Herrmann
   DIR Manuela Heim
   DIR Ingo Arzt
       
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