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       # taz.de -- Arabischer Frühling und Feminismus: Eine sexuelle Revolution
       
       > Der Arabische Frühling hat einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel
       > angestoßen, eine Demokratisierung von unten. Die braucht allerdings noch
       > Zeit.
       
   IMG Bild: Tunesierinnen von EnaZeda demonstrieren in Tunis im November vergangenen Jahres
       
       Berlin taz | Das Islamische Gelehrtengremium der Al-Azhar-Universität in
       Kairo kündigte im Juli 2020 eine [1][außergewöhnliche Kampagne] an:
       Prediger*innen sollten künftig die sexuelle Belästigung von Frauen als
       unmoralisch verurteilen – unabhängig davon, wie eine Frau gekleidet sei.
       
       Die Nachricht erregte große Aufmerksamkeit und markiert einen gravierenden
       Wandel im sunnitischen Religionsdiskurs. Seit dem Aufstieg des Islamismus
       in den achtziger Jahren ist Tugendhaftigkeit eng verbunden mit dem
       Kopftuch. Frauen, die keines tragen, gelten als Ursache von sexueller
       Belästigung.
       
       Die Al-Azhar, die wichtigste Institution im sunnitischen Islam, findet
       Gehör in der muslimischen Welt. Was ihre Gelehrten sagen, hat
       Pflichtcharakter für viele Muslim*innen weltweit. Sie betrachtet jetzt
       sexuelle Belästigung als aggressiven Akt betrachtet und verharmlost sie
       nicht mehr als sexuell motivierte Tat. Das ist der Zusammenarbeit mit
       weltlichen sowie mit islamisch-feministischen Gruppen geschuldet.
       
       Der Schritt folgt einer Sensibilisierung der Bevölkerungen sowie einer
       neuen Gesetzgebung in vielen arabischen Ländern, die Gefängnisstrafen für
       sexuelle Belästigung vorsehen, was sich unter anderem die [2][arabische
       MeToo-Bewegung] auf die Rechnung schreiben kann. Der ägyptische Nationalrat
       für Frauen bedankte sich denn auch öffentlich bei der Al-Azhar für die
       Unterstützung.
       
       ## Unterstützung von „männlichen Feministen“
       
       Das Beispiel macht Hoffnung. Zwar hat eine Demokratisierung in den meisten
       post-revolutionären arabischen Staaten auf der Ebene des politischen
       Systems nicht stattgefunden. Wer aber den Blick auf die „Politik von unten“
       richtet, stellt fest: Auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft – von der
       Familie über den Arbeitsplatz bis hin zu staatlichen Ämtern – ist eine
       Demokratisierung angestoßen worden. Dieser kulturelle und soziale
       Wertewandel ist eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft der arabischen
       Revolution. Er führt die Gesellschaften nachhaltig in Richtung mehr
       Demokratie und Freiheit.
       
       Zwei Indizien weisen auf einen solchen Wandel hin: Erstens findet eine
       sexuelle Revolution statt, die sich der Vorreiterschaft der Frauen- und der
       Jugendbewegung verdankt. Unterstützt wird die arabische feministische
       Bewegung mittlerweile von ‚männlichen Feministen‘. In den aktuellen
       Umbrüchen sehen diese Aktivist*innen Chancen für eine Befreiung der
       traditionellen Rolle der Männer als Ernährer und emotionsloses
       Familienoberhaupt, was den Boden bereitet für mehr Macht- und
       Ressourcenverteilung sowie für mehr Gleichberechtigung.
       
       Auch wenn diese Aktivist*innen weitgehend fromme Muslim*innen und
       Christ*innen sind, befürworten sie doch einen weltlichen demokratischen
       Staat und stützen sich dabei auf die Leitideen der Frauenbewegung Ende des
       19. Jahrhunderts.
       
       Seit den Umbrüchen von 2011 sind in Ländern wie Ägypten, Tunesien, Libyen
       oder Irak verstärkt kulturelle, soziale und künstlerische Initiativen
       entstanden, die religiöse oder gesellschaftliche Tabus brechen,
       Sexualnormen hinterfragen und alternative Lebensmodelle anbieten. Sie
       kämpfen für mehr Repräsentation von Frauen in der Politik, für sexuelle
       Selbstbestimmung, für die Ächtung von Gewalt gegen Frauen und Männer und
       fordern Strafen für Belästigung. Die Zahl der Frauen, die allein leben,
       allein Kinder erziehen und ins Ausland reisen, oder Männer, die ihre Haare
       wachsen lassen sowie öffentlich über ihre Verletzlichkeit oder
       Homosexualität sprechen, ist enorm gestiegen.
       
       ## Neue Verfassungen und Reform islamischen Familienrechts
       
       Die angestoßenen Debatten zeigen Wirkung auch über die revolutionären
       Staaten hinaus: Die Repräsentation von Frauen in den Parlamenten arabischer
       Ländern ist zwischen 2005 und 2019 von 7 auf 19 Prozent gestiegen. In
       Tunesien ist sie von 12 auf 24,9 Prozent, im Sudan von 9 auf 24 Prozent, im
       Irak von 10,8 auf 26,4 Prozent, in Libyen von 2 auf 16 Prozent und in
       Ägypten von 2 auf 15 Prozent gestiegen. Zum Vergleich: Weltweit liegt der
       [3][Anteil der Frauen in Parlamenten] bei 25 Prozent.
       
       Auch die neuen Verfassungen von 2014 in [4][Ägypten] und [5][Tunesien]
       zeigen einen Wandel, gewähren sie Frauen doch erstmals weitgehend
       rechtliche Gleichberechtigung. In Marokko ist 2016 das islamische
       Familienrecht dahingehend reformiert worden, dass beide Eheleute gleiche
       Rechte und die gleiche Verantwortung haben.
       
       In Jordanien, im Jemen und im Libanon gelten seit 2016 Gesetze, die harte
       Gefängnisstrafen vorsehen für sogenannte Ehrenmorde sowie für
       Vergewaltigung. Selbst in [6][Saudi-Arabien] sind Reformen im Gange, die
       Frauen mehr Rechte gewähren.
       
       Zweites Indiz für einen Wertewandel ist die steigende Säkularisierung der
       arabischen Gesellschaften: Christliche Kirchen und islamische
       Institutionen, die sich in vielen Fällen an die Seite der autoritären
       Kräfte gestellt haben, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Auch der
       politische Islam ist in großen Teilen der Bevölkerung in Misskredit
       geraten. Die Grausamkeiten des IS in Irak und Syrien und islamistische
       Anschläge haben bei den meisten Muslim*innen zu großem Erschrecken geführt.
       
       ## Gewaltverherrlichung aus Büchern gestrichen
       
       Auch die nichtmilitante [7][Muslimbruderschaft] hat in ihrer kurzen
       Regierungszeit in Ägypten (Januar 2012 bis Juli 2013) bewiesen, dass ihr
       Slogan Islam ist die Lösung eine leere Formel ist. Ihre Drohung mit einem
       Bürgerkrieg, ihr Versprechen, ägyptische Märtyrer in den Syrienkrieg zu
       schicken oder ihre Ablehnung der UN-Frauenrechtskonventionen haben zu
       breiter Ablehnung seitens der Bevölkerung geführt. Ähnliches lässt sich in
       Tunesien beobachten, wo die Islamisten vergeblich versucht haben, die
       Polygamie wieder einzuführen.
       
       Zugleich gibt es sowohl staatlichen als auch gesellschaftlichen Druck auf
       religiöse Bildungsinstitutionen, ihre Curricula von extremistischen
       Gedanken zu reinigen und für Toleranz und Pluralismus zu werben. Die
       Al-Azhar etwa hat viele Passagen aus Büchern gestrichen, die Gewalt im
       Namen der Religion verherrlichten. Intellektuelle rufen zu einer klaren
       Trennung von Religion und Staat auf und finden im TV sowie auf sozialen
       Medien reichlich Gehör.
       
       Die Araber*innen werden ihr Ziel hoffentlich erreichen, aber – das haben
       die letzten zehn Jahre gezeigt – auch nicht von heute auf morgen. Noch ist
       die Revolution ganz am Anfang.
       
       20 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /MeToo-Bewegung-erreicht-Aegypten/!569566
   DIR [2] /metoo-auf-Arabisch/!5643549
   DIR [3] https://www.ipu.org/resources/publications/reports/2020-03/women-in-parliament-1995-2020-25-years-in-review
   DIR [4] /Aegyptens-Verfassungsreferendum/!5050902
   DIR [5] /Tunesien-hat-eine-neue-Verfassung/!5049932
   DIR [6] /Gleichstellung-in-Saudi-Arabien/!5615294
   DIR [7] /Muslimbrueder-in-Aegypten/!5055660
       
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