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       # taz.de -- Bildungssystem in Portugal: Lernen vom Pisa-Musterschüler
       
       > Trotz widriger Ausgangsbedingungen schaffte das Land an der Algarve, sein
       > Bildungssystem zu reformieren. Portugal kann damit ein Vorbild sein.
       
   IMG Bild: Hat Nachbarland Spanien in Sachen Bildung abgehängt: Portugal
       
       Madrid taz | Wenn der Direktor für Bildung und Leiter der Pisa-Studie der
       Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD),
       Andreas Schleicher, ein Land ganz besonders hervorheben soll, dann ist es
       Portugal. Für ihn ist der kleine und verhältnismäßig arme EU-Mitgliedsstaat
       „die größte Erfolgsgeschichte der Pisa-Studie in Europa“. Dem Land sei es
       gelungen, „beschränkte Ressourcen zu bündeln und über einen Wahlzyklus
       hinaus zu denken, wenn es darum geht, pädagogische Ziele zu setzen“. Zwar
       stagniere die Entwicklung in der Studie 2018 erstmals, aber der allgemeine
       Trend bleibe positiv.
       
       Im Jahr 2000, als alles begann, rangierte Portugal am unteren Ende der
       Liste. Seither verbesserte es sich Studie für Studie und liegt mittlerweile
       mit 492 Punkten deutlich über dem OECD-Durchschnitt (489). Portugal hängt
       damit nicht nur den [1][reicheren Nachbarn Spanien (481)], sondern auch
       Luxemburg (483) und gar die USA (478) ab. Noch 2002 lag die Quote der
       Schulabbrecher bei über 40 Prozent, jetzt sind es laut Eurostat noch 11,8,
       in Spanien 18 und im EU-Durchschnitt 10,6 Prozent.
       
       Zwar ist Portugal in der Gesamtbewertung noch immer 15 Punkte vom
       europäischen Spitzenreiter Finnland und 8 Punkte von Deutschland entfernt.
       Aber wenn man bedenkt, woher das Land kommt und wie hart Portugal von der
       Eurokrise getroffen wurde, ist das Pisa-Ergebnis mehr als überraschend.
       1974, als die Nelkenrevolution die Diktatur stürzte, waren 45 Prozent der
       Bevölkerung Analphabeten.
       
       Erst in den 1970ern wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Noch
       immer haben 55 Prozent der Bevölkerung im Alter von 18 bis 64 Jahren keinen
       Abschluss einer weiterführenden Schule. Zuletzt hätten die Eurokrise und
       das daraus resultierende Sparregime zur Gefahr für Portugals Bildungserfolg
       werden können – doch es kam anders.
       
       „Spanien und Portugal waren [2][von der Finanzkrise gleichermaßen
       betroffen]“, beobachtet Pisa-Direktor Schleicher. „Spanien ging den
       einfachen Weg und reduzierte alle Bildungsausgaben, wodurch die
       Bildungskapazität abnahm.“ Portugal habe wichtige strategische, mitunter
       unpopuläre Entscheidungen getroffen, wie die Erhöhung der Klassengröße, um
       die Qualität der Lehrer nicht zu beeinträchtigen.
       
       Bildungsinvestitionen über EU-Durchschnitt 
       
       Die sozialistische Regierung von Ministerpräsident Antonio Costa nimmt die
       Sparpolitik Schritt für Schritt zurück, seit sie vor fünf Jahren ins Amt
       kam. Portugal investiert mittlerweile wieder mehr als 5 Prozent des
       Bruttoinlandsprodukts in Bildung und liegt damit über dem EU-Schnitt. „Doch
       Geld ist nicht alles“, gibt Bildungsminister Tiago Brandão Rodrigues zu
       bedenken.
       
       Es seien andere Maßnahmen, wie die kostenlosen Schulbücher, der Ausbau der
       kostenlosen Vorschulen. Zudem können die Schulen bis zu 25 Prozent des
       Lehrplans selbst bestimmen. Fächer werden zusammengelegt, Lerninhalte an
       das lokale und soziale Umfeld angepasst. Hinzu kommen Gratisaktivitäten in
       Sport und Musik. Viele Schüler bekommen seitdem erstmals Zugang zu
       Bildungsinhalten, die bisher denen vorbehalten waren, die dafür bezahlen
       konnten.
       
       Die allgemeine Schulpflicht beträgt 12 Jahre und gilt bis zum Alter von 18
       Jahren. Mittlerweile haben fast alle Lehrer ein Masterstudium absolviert.
       Zu den Reformen der sozialistischen Regierung gehörte auch, das öffentliche
       Schulsystem zu stärken. Seit 2017 wurde die Hälfte der privaten, aber
       staatlich finanzierten Schulen geschlossen. Rund 10.000 Schüler zogen an
       öffentliche Schulen um. Allein dieses Jahr werden weitere 45 Millionen Euro
       der Subventionen für private Anbieter gestrichen.
       
       Nur noch 4 Prozent der Schüler gehen auf staatlich finanzierte
       Privatschulen, knapp 83 Prozent auf öffentliche Schulen, die restlichen 13
       Prozent auf private Einrichtungen, für die ausschließlich die Eltern
       bezahlen. „Die öffentliche Schule muss den sozialen Aufstieg aller
       ermöglichen, die zu Hause nicht die Chance haben, entsprechende Fähigkeiten
       zu erwerben“, das ist die Vision von Bildungsminister Brandão Rodrigues.
       
       3 Dec 2020
       
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