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       # taz.de -- Ende der Beschimpfungen während Corona: Ich bin kein Ichling!
       
       > Mit moralischen Anklagen und Ermahnungen bekommen wir keine Pandemie in
       > den Griff. Dann lieber einen ordentlichen Lockdown.
       
   IMG Bild: Weil es nicht anders geht: Lockdown
       
       Ich habe es satt, beschimpft zu werden. Interesse an meinem Leben? Es
       spielt sich derzeit weitgehend zwischen der Annahme von Onlinebestellungen
       und meinem Schreibtisch ab. Also ziemlich risikolos. Mein Terminkalender
       ruht in einer Schublade. Die wenigen Daten, die ich darin eintragen müsste,
       kann ich mir auch so merken.
       
       Heute habe ich zum ersten Mal in meiner eigenen Wohnung eine Maske
       getragen. Als ein Handwerker kam. Noch vor wenigen Monaten habe ich Masken
       für blödsinnig gehalten. Es ist ja möglich, dazuzulernen.
       
       Kaum jemand außer wirklich böswilligen Menschen wirft einem Virologen,
       einer Journalistin oder einem Politiker vor, dass sie vor einem Jahr oder
       vor sechs Monaten nicht wussten, was sie heute wissen. Und ich bin nach wie
       vor unendlich dankbar, dass nicht ich Entscheidungen treffen muss, die am
       Ende zu Todesfällen führen können. Sei es, [1][weil jemand an einer
       Corona-Infektion stirbt] oder in Folge einer Depression suizidiert.
       
       ## Fruchtbarer Boden für eine Pandemie
       
       Aber warum maßen sich so viele Leute ein Urteil über die angebliche
       Leichtfertigkeit der Bevölkerung an? „Sämtliche Ermahnungen an die Vernunft
       der Bundesbürger haben offenbar nichts gebracht“, erklärte ein Moderator
       der „Welt“-Nachrichten. Ein Kolumnist auf [2][Spiegel online] schrieb:
       „Eine Gesellschaft, in der das Ich vor dem Wir kommt, ist fruchtbarer Boden
       für eine Pandemie. Und so stolpern wir Ichlinge durch diese Krise.“
       
       Ich weiß nicht, in welchen Kreisen sich diese Kollegen bewegen – aber es
       sind nicht meine. Mein gesamtes Umfeld tut seit Wochen nichts anderes, als
       sich verantwortungsbewusst zu verhalten. Möglichst wenige Kontakte,
       möglichst vorsichtig. Aber einige müssen öffentliche Verkehrsmittel
       benutzen, in der Tat. Andere können nicht von zu Hause aus arbeiten. Und
       für wieder andere ist es nicht vermeidbar, eine Arztpraxis aufzusuchen.
       Pech.
       
       Niemand – absolut niemand –, den oder die ich kenne, verbringt die Freizeit
       mit der Planung von Coronapartys oder gibt grinsend die Adressen weiter, in
       denen – höh höh höh – heimliche Treffs von Clubliebhabern stattfinden.
       
       Kein Zweifel: So etwas gibt es, leider. Und, ja: In Medien finden derlei
       Aktivitäten viel Beachtung. Jede Abweichung von der Norm ist eben
       spannender als die Norm – so funktioniert Massenkommunikation. Aber die
       überwältigende Mehrheit der Bevölkerung vergnügt sich nicht damit, illegale
       Zusammenkünfte zu organisieren. Sondern legt Masken an.
       
       Mehr als 80 Prozent Zustimmung zu Maßnahmen der Regierung, die eine
       beträchtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit bedeuten? Davon kann
       die Exekutive normalerweise nur träumen. Was also sollen die
       Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit der Pandemie?
       
       Die sind ja nicht neu. Krebs? Bestimmt eine Folge des Rauchens. Herzkrank?
       Na ja, kein Wunder. Hat sich ja nie – oder zu viel, krankhaft ehrgeizig –
       bewegt. Schlaganfall? War doch zu erwarten. Hat zu viel oder zu wenig dies
       oder jenes getan. Schon klar. Wer krank ist, ist selber schuld. Irgendwie.
       Das entlastet, in psychischer Hinsicht: Krank werden die anderen. Nicht man
       selber. Und diese anderen hätten ja wissen können, wie sich das vermeiden
       lässt.
       
       Diese Grundhaltung ist schon in normalen Zeiten herzlos und dumm.
       Angesichts einer Seuche ist sie absurd. Ja, wir brauchen einen Lockdown.
       Aber nicht, weil sich die Bevölkerung verantwortungslos verhält. Das tut
       sie nämlich nicht. Sondern weil wir nicht wissen, wie wir der Pandemie
       anders Herr werden können. Traurig genug.
       
       12 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gedenken-an-Covid-19-Tote-in-Berlin/!5736910
   DIR [2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-wir-haben-uns-den-lockdown-redlich-verdient-kommentar-a-41252d4b-baf8-4d11-bd07-ae97312803a0
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Gaus
       
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