URI: 
       # taz.de -- Nationalpark Hunsrück-Hochwald: Neue Wildnis
       
       > Erst vor fünf Jahren wurde der Naturpark gegründet. Für die nächsten drei
       > Jahrzehnte steht die Renaturierung ganz oben auf der Agenda.
       
   IMG Bild: Totholz im Nationalpark Hunsrück-Hochwald
       
       Der Himmel hängt unter Wolken, aber die Aussicht ist majestätisch. Wie ein
       breites Band zieht sich ein Steinwall durch den Wald, geformt von
       Menschenhand. Zehn Meter hoch, zweieinhalb Kilometer lang, eine Steinmasse,
       die 3.000 Reihenhäusern entspricht. Er pflügt zwischen Fichten, Farnen und
       Buchen hindurch; wer oben auf dem Wall steht, schaut weit über den
       [1][Nationalpark Hunsrück-Hochwald] auf Bergkuppen mit Windkrafträdern und
       auf die dicht bewaldeten Erhebungen, unter denen sich alte Köhlerdörfer
       verbergen.
       
       Der Park, so erzählt es Nationalparkführer Norbert Hoff, ist auch ein wenig
       wegen dieses keltischen Ringwalls genau hierhin gelegt worden. Ein
       gigantisches Bauwerk, das nicht nach Vorgeschichte aussieht, nicht nach
       einem Volk, von dem schriftlich nichts überliefert ist. Und nicht danach,
       als sei er mehr als 2.500 Jahre alt. Selbst in der Region war seine
       Geschichte über Jahrhunderte so unbekannt, dass der Wall einen völlig
       falschen Namen trug: Hunnenring, obwohl das hier mit Hunnen rein gar nichts
       zu tun hat. „Erst seit es den Nationalpark gibt, kommt langsam ein
       Bewusstsein für die keltische Vergangenheit auf“, sagt Norbert Hoff.
       
       Der Nationalpark Hunsrück Hochwald ist der jüngste deutsche Nationalpark
       überhaupt, 2015 erst eröffnet, und nicht nur qua Alter will er innovativ
       sein. Er umschließt Wald und Moore, eiszeitliche Felsen, Arnikawiesen und
       den Erbeskopf, den höchsten Berg in Rheinland-Pfalz, und ist eines der
       [2][wichtigsten Verbreitungsgebiete der europäischen Wildkatze.]
       
       Und er ist technisiert. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Parks, wo
       Informationen auf klobigen Texttafeln warten, können TouristInnen hier mit
       einer kostenlosen App wandern. Details wie Offlinemodus und virtuelle
       Ranger gibt es in keinem anderen deutschen Nationalpark. Der
       barrierefreie Arnika-Moor-Rundweg existiert auch als Hörtour und in
       Leichter Sprache, die Felsentour findet auch in Gebärdensprache statt.
       
       „Es war gerade in Coronazeiten eine geniale Fügung, weil die Leute auch
       kontaktlos im Park unterwegs sein konnten“, sagt Nationalparkleiter Harald
       Egidi. „Und wir wollten verhindern, dass ein Schilderwald entsteht.“
       
       ## Weitgehend ohne Eingriffe des Menschen
       
       Aufwärts oder abwärts führen viele Wege; Mischwald rahmt sie ein, leichter
       Regen tröpfelt durchs Blätterdach. Es ist still, kein Motorengeräusch
       dringt von den schmalen Straßen in der Nähe hierher. Manchmal liegt ein
       umgestürzter Baum quer über dem Pfad, nur in der Mitte für Passanten
       durchgesägt. „Innerhalb der nächsten dreißig Jahre soll der Park
       renaturieren“, sagt Norbert Hoff. Weitgehend ohne Eingriffe des Menschen
       also fortbestehen.
       
       75 Prozent des Parks müssen dann nutzungsfrei sein, aktuell sind es 40.
       „Die meisten anderen deutschen Nationalparks sind schon kurz davor“,
       sagt Leiter Harald Egidi. Er nennt es die „neue Wildnis“. Aber ist es
       möglich, dass der Mensch, der so dicht siedelt, hier keinen regulierenden
       Einfluss mehr nimmt? Der Nationalpark Hunsrück Hochwald erzählt auch von
       Kultur- und Interessenkonflikten.
       
       Über einen schmalen Pfad geht es auf einer historischen Treppe über den
       Keltenring. Nach einigen Metern erstreckt sich der keltische Siedlungsplatz
       auf einem Hochplateau. Lebhaft kann man sich vorstellen, wie es hier
       ausgesehen haben könnte, mit Häusern auf Pfählen, mit Heiligtümern und
       feinem Handwerk. Die keltischen Stämme waren die Ersten, die nachweislich
       die Wälder des Hunsrücks formten. Für den riesigen Schutzwall schleppten
       sie zigtausende Steine wohl mithilfe von Vieh auf den Berg; verstreute
       Klötze liegen noch auf halber Höhe.
       
       Die moderne Populärkultur verbindet die Kelten vor allem mit Irland, aber
       eines der Zentren keltischer Kultur lag hier. „Die Stämme haben Handel
       getrieben bis ins heutige Luxemburg“, so Hoff. „Sie haben feine Vasen und
       Armreifen gefertigt, ihre Schwerter waren von besserer Qualität als die
       römischen. Sie konnten Stoffe färben, sehr kunstvoll weben und wussten auch
       über Astronomie Bescheid.“ Und ihre Verteidigungswälle sind geblieben, der
       Mensch hat erste Spuren hinterlassen.
       
       Wo die Bäume sich heute im leichten Nebel an die Hänge schmiegen, erscheint
       es schwer vorstellbar, dass dieses Territorium einmal völlig kahl
       geschlagen war. Auf dem Autoweg durch den Nationalpark kommt man vorbei an
       Orten wie Langweiler, Muhl und Neuhütten, ehemalige Köhlerdörfer.
       Romantisch sehen sie aus, mit kleinen Kirchen und Einfamilienhäusern, und
       sind zugleich Zeugnisse auch von Zerstörung. Denn die Eisenhütten im
       Hunsrück wurden lange Zeit mit Holzkohle betrieben. Vor rund 200 Jahren
       waren die alten Buchenwälder dafür fast völlig abgeholzt, die Folgen waren
       Erdrutsche und Bodenerosion.
       
       ## Mit den Preußen kam die moderne Forstwirtschaft
       
       Norbert Hoff weist auf die Fichten, die heute in Reih und Glied wachsen,
       eine Monokultur. „Das hier wurde alles von den Preußen gepflanzt.“ Die
       Preußen begriffen die Probleme des Raubbaus und dachten auch an
       lukrativen Holzhandel. Niemand durfte jetzt mehr entnehmen als nachwuchs.
       „Die Preußen haben hier die moderne Forstwirtschaft eingeführt.“ Die oft
       bitterarme Bevölkerung aber reagierte mit Wut auf die ersten Förster – und
       mit Gewalt. In Börfink wurde ein Förster Opfer eines Mords. Die Preußische
       Forstverwaltung forderte Militär an, 150 Mann wurden auf die umliegenden
       Gemeinden verteilt. Und auch dieser Eingriff in die Natur, so progressiv er
       in gewisser Hinsicht war, brachte ungeahnte Konsequenzen für das Ökosystem.
       Damit ringt der Park noch heute.
       
       Die Fichten, die heute im Nationalpark Hunsrück-Hochwald wachsen, sehen
       nicht besonders gesund aus. Der Sommer 2020 ist geprägt von Meldungen aus
       ganz Deutschland über [3][Borkenkäferplagen.] Im Hunsrück, wo es mehr der
       Regen gibt und weniger Fichten, tötet der Borkenkäfer nicht so viele wie
       anderswo, aber dennoch Tausende Bäume. Doch ist der Käfer schuld? Die
       preußische Monokultur, die in dieser Region gar nicht ursprünglich heimisch
       ist, ist anfällig und schwach; Erderhitzung und Dürre machen die Fichten
       noch wehrloser, Verursacher ist wieder einmal der Mensch. Verträgt sich die
       Idee, nicht mehr in die Natur eingreifen zu wollen, mit dem Borkenkäfer?
       
       „Konkret ist der Borkenkäfer ein Auslöser von Ängsten in der Bevölkerung“,
       schildert es Egidi. Menschen befürchteten mehr Brände und eine
       explodierende Wildschweinpopulation. „Darauf müssen wir eine Antwort
       geben.“ Egidi nennt als Antwort „Borkenkäfer-Management“ und
       „Wildtier-Management“, ein Euphemismus und ein Kompromiss: Im Kern des
       Parks kann die Entwicklung ungestört laufen, auch, um zu untersuchen, wie
       die Natur damit umgeht. An einem Randstreifen hingegen werden die
       befallenen Bäume herausgenommen, und das Nationalparkamt greift in die
       Wildbestände ein. Der Mensch sucht einen Weg zwischen Eingreifen und
       Zuschauen.
       
       ## Die Rückkehr des Moores
       
       In der Nähe von Börfink sind nur noch Baumstümpfe zu sehen. Auch das ist
       gewollt, das [4][Moor] soll zurückkehren. StudentInnen des Bergwaldprojekts
       e. V. haben auf der Fläche in monatelangem Freiwilligendienst die
       angelegten Entwässerungsgräben wieder verschlossen, das Moor gilt als
       effektiver CO2-Speicher. „Den Sinn muss man der Bevölkerung aber erst mal
       vermitteln“, sagt Norbert Hoff. „Anfangs haben viele gefragt: Was soll denn
       das, dass ihr den Wald abholzt?“
       
       Ein Grundsatzkonflikt rankt sich um die Renaturierung. „Teilweise gehen die
       Ängste ganz tief in die Psyche zurück“, so Harald Egidi. „Es gibt zwei
       Lager: Eines, das findet, man solle die Natur endlich Natur sein lassen. Da
       spielt auch eine Sehnsucht hinein nach Dingen, die gesellschaftlich
       verloren gegangen sind. Und das andere Lager, das eine ungestörte
       Entwicklung mit Kontrollverlust verbindet. Die finden, da wachse ihnen
       etwas über den Kopf.“ Teilweise habe man mit der Bevölkerung schon
       „theologische Diskussionen“ geführt. „Die einen, die sich die Erde untertan
       machen wollen, und die anderen, die die Schöpfung walten lassen wollen.“
       
       Aber auch Renaturierungen sind zunächst menschliche Eingriffe, und wenn
       auch nur Entwässerungsgräben verschlossen werden. Eingriffe, die aus
       heutiger Perspektive sinnvoll erscheinen, deren langfristige Konsequenzen
       aber schwer absehbar sind. Kann der Mensch nahe siedeln und die Natur
       dauerhaft loslassen? „Ich glaube, das ist möglich“, sagt Egidi. Mit
       Entschlossenheit pflegt der Park dazu den Dialog.
       
       ## Dialog mit der Bevölkerung
       
       Die GründerInnen sahen, was bei [5][Stuttgart 21] geschah, und wollten
       proaktiv auf die Bevölkerung zugehen. In fast jedem Dorf seien sie vor Ort
       gewesen, es gab BürgerInnenarbeitskreise, es gibt eine kommunale
       Nationalpark-Versammlung, die ihr Einverständnis zu den Konzepten erklären
       muss. Es laufen BürgerInnenforen und eine Akademie. „Naturschutz
       funktioniert nicht hinter Mauern, sondern nur mit Zustimmung der kommunalen
       Ebene“, sagt Egidi. Die strukturschwache Region soll vom Park profitieren,
       rund fünfzig Betriebe sind jetzt touristische Partner. Als Nächstes soll
       der ÖPNV ausgebaut werden.
       
       An einem der Parktore ist die Vergangenheit greifbar gemacht. Ein kleines
       rekonstruiertes Keltendorf steht hier. Es sieht ein bisschen aus wie bei
       Asterix und Obelix, mit Palisadenzaun, Hütten und Kessel über der
       Feuerstelle. Jenseits von Pandemiezeiten finden hier Workshops statt, man
       kann lernen, wie die Kelten zu töpfern. Vielleicht spricht eines Tages dann
       auch keiner mehr vom Hunnenring.
       
       Und dennoch bleibt die neue, alte Wildnis ein Balanceakt. Im Frühjahr 2020
       wurde an einem gerissenen Schaf im Westerwald per DNA nachgewiesen, dass es
       der Wolf war. Norbert Hoff sagt: „Die Schäfer sind wütend. Die
       Naturschützer verstehen das nicht richtig. Aber man muss da auch beide
       Seiten sehen.“ Bei der Frage, wie viel Wildnis der Mensch wieder zulässt,
       ist noch nicht das letzte Wort gesprochen.
       
       17 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nationalpark-hunsrueck-hochwald.de/
   DIR [2] /Tierzaehlung-in-Deutschland/!5016002
   DIR [3] /Folgen-von-Duerre-und-Insektenbefall/!5703977
   DIR [4] /Niedersachsens-Moore/!5037395
   DIR [5] /Jurist-ueber-Polizeieinsatz-bei-S-21-Demo/!5717908
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Schwermer
       
       ## TAGS
       
   DIR Nationalparks
   DIR Renaturierung
   DIR Moor
   DIR Naturschutz
   DIR Wald
   DIR Podcast „Vorgelesen“
   DIR Wasser
   DIR Dürre
   DIR Schwerpunkt Artenschutz
   DIR Nationalparks
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Nationalparks
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Umstrittenes NRW-Wassergesetz: Zurück in die 90er Jahre
       
       Weniger Umwelt- und Trinkwasserschutz per Gesetz: Umweltverbände und
       Opposition in NRW kritisieren die Regierung Laschet.
       
   DIR Wassermangel in Brandenburg: Die Ausflugsseen verschwinden
       
       2020 war viel zu trocken in Brandenburg. Bäume wie Seen und Flüsse leiden
       unter der zunehmenden Trockenheit. Und sogar das Welterbe ist in Gefahr.
       
   DIR Raubtier in Nordhorn: Ein Wolf im Garten?
       
       Mitten am Tag soll ein Wolf durch eine niedersächsische Siedlung gelaufen
       sein. Niemand kam zu Schaden, trotzdem ist die Aufregung groß.
       
   DIR Nationalpark Unteres Odertal: Gefährdete Wildnis
       
       25 Jahre nach seiner Gründung hat sich der Nationalpark als
       Erfolgsgeschichte erwiesen. Doch nun ist die Idylle durch den Ausbau der
       Oder bedroht.
       
   DIR Nationalparkprogramm der DDR-Regierung: Naturschutz auf den letzten Drücker
       
       Es war der größte Coup der deutschen Naturschützer: Bei der letzten Sitzung
       stellte die DDR-Regierung knapp 5 Prozent des Staatsgebiets unter Schutz.
       
   DIR Kolumne Generation Camper: Auf in den Hunsrück!
       
       Nationalpark und Tourismusgeschäft, das überzeugt auch die Gegner der
       Wildnis. Schutzziel erreicht und die dünn besiedelte Landschaft genutzt.