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       # taz.de -- Roman „Selamlik“ von Khaled Alesmael: Geschlachtete Zitronen
       
       > Der syrisch-schwedische Schriftsteller Khaled Alesmaels erzählt im Roman
       > „Selamlik“ von Neugierde und Lust – und der Winterlandschaft Schwedens.
       
   IMG Bild: Zwischen allen Stühlen und Zuschreibungen: Autor Khaled Alesmael
       
       Khaled Alesmael musste aufschreiben, was ihm widerfahren war, also kaufte
       er sich als erstes ein Heft, als er im Jahr 2014 in der schwedischen
       „Asylbonde“ ankommt, einem Asylbewerberheim. Er schrieb nun, und über das
       Ergebnis sagt der Autor, dass er selbst nicht weiß, ob es sich dabei „um
       eine Autobiografie handelt oder um einen Roman, oder Tagebücher“.
       
       Das Werk, das gerade in deutscher Übersetzung im Albino-Verlag erschienen
       ist und in Schweden bereits viel Anerkennung gefunden hat, trägt auf jeden
       Fall die Gattungsbezeichnung Roman. Furat, so der Name des Protagonisten,
       wächst in einer gutsituierten Familie in Syrien auf.
       
       Den Tod des Diktators Hafiz al-Assad im Jahr 2000, Vater von Baschir
       al-Assad, erlebt er zeitgleich mit seiner ersten Liebe zu einem Mann, die
       er in Zimmer 333 eines Studentenwohnheims in Damaskus auslebt, in aller
       gebotenen Heimlichkeit: Nur die Verbindungen seiner Familie schützen den
       jungen Mann, als er eines Tages während des „Cruisings“ an der Straße von
       der Polizei aufgegriffen wird.
       
       Trotzdem bewegt er sich, angetrieben von Neugierde und Lust, weiterhin in
       den Grauzonen und geschlossenen Räumen, in denen Männer Männern begegnen,
       in Hamams und Pornokinos, nächtlichen Parks. Sozusagen im „Selamlik“, dem
       traditionell nur von Männern bewohnten Teil des Hauses oder Palastes, zu
       dem auch Fremde Zugang haben; eine Anspielung auf die (gleichwohl
       klandestine) Omnipräsenz mann-männlicher Sexualität in von
       Geschlechterapartheid geprägten Gesellschaften.
       
       ## Furat muss seine Heimat verlassen
       
       Spätestens jedoch als der Bürgerkrieg in Syrien beginnt, wird das Leben
       unerträglich für einen Mann wie Furat: Islamistische Terrormilizen beginnen
       Jagd auf Homosexuelle zu machen, stürzen „die Leute von Lot“ von
       Häuserdächern. Als schließlich auch das Haus der Familie bei Gefechten
       zerstört wird, beschließt Furat, seine Heimat zu verlassen.
       
       Wie viele junge Syrer begibt er sich zunächst in die Türkei, wo er in die
       vergleichsweise offene queeren Szene Istanbuls eintaucht, bevor er
       weiterzieht in Richtung Norden, mit dem Schlauchboot über das Meer, zu Fuß
       über die Balkanroute.
       
       In Småland schließlich, in der schwedischen Provinz, blickt er von seinem
       Zimmer in der „Asylbonde“ auf einen Friedhof: „In Schweden sehen Friedhöfe
       wie Parks aus, während in Syrien die Parks zu behelfsmäßigen Friedhöfen
       gemacht werden.“ Von hier aus blickt der Erzähler zurück: „Schreib, Furat,
       denn du hast dich vor einem Brand gerettet, der mit Menschen, Steinen und
       Textilien am Leben gehalten wird.“
       
       Auch schreibt er, weil man für „Reisen in die Vergangenheit weder Pass noch
       Visum braucht“. Als Leser genießt man das Privileg, mitreisen zu dürfen,
       vielleicht verstehen zu können: Wo kommen die Menschen, die aus Syrien und
       anderen Ländern zu uns gekommen sind, her? Und wer sind sie?
       
       ## Grauen des Bürgerkriegs
       
       Mit einer Mischung aus angenehmer Lakonik und erzählerischer
       Eindringlichkeit scheut Khaled Alesmael weder davor zurück, das Grauen des
       Bürgerkrieges, noch die handfesteren Details der Liebe unter Männern zu
       beschreiben. Man kann sowohl die „geschlachteten Zitronen“ von den Bäumen
       des zerbombten Damaskus als auch die Mischung aus Schweiß und Olivenölseife
       in den Katakomben der Hamams riechen. Dies alles, ohne pornografisch zu
       werden, weder im Hinblick auf das Grauen noch auf den Sex.
       
       Angenehm ist ebenfalls, dass Khaled Alesmael, obgleich er als Journalist
       sehr wohl um die entsprechenden Diskurse weiß, weder in aktivistisches
       Pathos noch in akademische Formeln verfällt, wenn es um die identitären
       Verwerfungen geht, mit denen sich Protagonist Furat in seiner neuen
       „Heimat“ konfrontiert sieht.
       
       Da sind die Mitbewohner in der „Asylbonde“, die Schwule nur als
       Comic-Figuren aus syrischen Comedy-Serien kennen und Homosexuelle ablehnen,
       während sie selbst eher das Problem haben, dass sie „keinen Schimmer haben,
       wie man sich den schwedischen Frauen nähern könnte“. Und da sind die
       westlichen Schwulen, die in den arabischen Männern nichts als
       „Fickmaschinen“ sehen und orientalisierende Fantasien auf sie projizieren.
       
       ## Einsamer Mann in der Büllerbü-Landschaft
       
       Doch zwischen all diesen Stühlen und Zuschreibungen, Orient und Okzident,
       Hetero- und Homosexualität, dampfverhangen-diskretem Hamam und
       offensichtlich schriller Homo-Sauna, bleibt deutlich erkennbar Furat, dem
       man sich als Mensch verbunden fühlt. Ein einsamer Mann im Anorak, der
       allein in einem Bus mit beschlagenen Scheiben durch die triste, winterliche
       Bullerbü-Landschaft Nordschwedens fährt.
       
       Khaled Alesmael wiederum – vor zwei Jahren war er im Rahmen eines
       Journalisten-Austauschprogramms für einige Zeit in der Berliner
       taz-Redaktion zu Gast und kurz davor, seinen [1][Roman] zu veröffentlichen
       – ist nun ein gefeierter Autor in Schweden geworden. Und vielleicht bald
       auch in Deutschland.
       
       16 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!5398174/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reichert
       
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