URI: 
       # taz.de -- Geschichten zum Jahreswechsel (IV): Zecke
       
       > Eileen ist auf Kanutour und auf alles vorbereitet – nur nicht auf Anita,
       > die plötzlich heulend vor ihr steht. Eine Geschichte über Körper und
       > Jugend.
       
   IMG Bild: Der Kummerower See am Abend
       
       „Was machst du denn noch hier?“ Eileen sieht von der letzten Postkarte auf.
       Sie ist fast fertig. Nur der Abschied fehlt noch und das lustige kleine
       Selbstportrait, für das unter der Adresse noch Platz ist. Das ist so ein
       Ding zwischen ihr und Merle. Sie hat sich überlegt, sich diesmal mit
       Kapitänsmütze zu malen, obwohl sie ja nur Kanufahren sind.
       
       Anita steht in der Tür und starrt sie anklagend an. Ihr Haar glänzt feucht
       und dunkel wie Kaffee ohne Milch. Ihr Gesicht ist noch ganz nass. Sie trägt
       obenrum ein T-Shirt mit Glitzer und untenrum ihr rotes Badehandtuch
       umgeschlungen. Sie ist barfuß. Ihre Zehen sind dunkelgrün lackiert. An
       ihrem Fußknöchel glitzert ein silbernes Kettchen mit einem Anhänger. Ihre
       Chucks, echte, trägt sie in der Hand, die Jeans hat sie sich über den Arm
       gelegt.
       
       „Was?“, fragt Eileen. Sie sieht sich um und stellt fest, dass sie allein
       auf dem Matratzenlager liegt, bäuchlings auf ihrem Schlafsack, vor sich die
       Karten, die sie vorhin am Kiosk gekauft hat. Vero und Sarah, die eben noch
       auf Veros Discman Musik gehört haben, sind weg. Sogar die Jungs hört sie am
       Ende des Flurs nicht mehr. Das Gästehaus ist ganz still. Im Dachfenster in
       der Schräge über Eileen ist der Himmel abendblau. Der große lange Raum
       riecht nach Schweiß und See und Deo und Anitas Parfum, das sie letzte Woche
       zum Dreizehnten bekommen und alle ihre Freundinnen hat probieren lassen.
       
       „Das Abendessen hat schon angefangen!“, zischt Anita. Sie wischt sich mit
       dem Handrücken das Gesicht trocken. „Wir sollen längst drüben sein!“
       
       „Oh, Mist“, murmelt Eileen und rappelt sich hastig auf. Ihre Arme sind
       zittrig vom Tag auf dem See, und ihre Hände haben rote Schwielen vom
       aufgerauten Plastikgriff des Paddels. Sie steckt die Karten in ihr
       Notizbuch, das sie als Unterlage benutzt hat, klemmt sich den
       Kugelschreiber vorn ins T-Shirt und schnappt sich ihre Schuhe vom Boden.
       Dann merkt sie, dass Anita weint. Sie hält überrascht inne.
       
       „Alles okay?“
       
       „Natürlich!“, schnappt Anita. Ihre Stimme bebt, und ihre Augen sind rot.
       Jetzt fällt es Eileen auf. Ihr Gesicht wird heiß. Sie senkt rasch den
       Blick. Anita stapft ins Zimmer und schmeißt ihre Sachen heftig auf den
       Schlafsack. Sie hat den Platz an der Wand, den besten, wo es eine Steckdose
       gibt. Chrissy und Svantje haben sich gestritten, wer neben ihr schlafen
       darf. Svantje, die Eileens beste Freundin in der Grundschule war, hat
       gewonnen.
       
       „Kannst du dich vielleicht beeilen? Ich will mich endlich umziehen!“
       
       „Ja, klar“, murmelt Eileen. Sie schlüpft mühselig in ihre Schuhe, die noch
       leicht feucht und schmutzig vom Kanuboden sind. Die Schnürsenkel kann sie
       draußen binden. Sie schlappt, das Buch unter den Arm geklemmt, zur Tür.
       Anita steht mit verschränkten Armen da. Im Vorbeigehen riecht Eileen ihr
       Shampoo und einen Hauch Parfum, den See und Dusche nicht abwaschen konnten.
       Sie ist schon auf dem dunklen Flur, als Anita laut sagt: „Warte mal!“
       
       Eileen zögert. Sie kann sich nicht erinnern, ob Anita je was von ihr
       gewollt hat, außer sich über sie lustig zu machen, aber sie hat sie auch
       noch nie so heulen sehen. Also schlurft sie doch zurück in die Tür. Anita
       steht vor ihrem Schlafplatz. Sie hat sich das Gesicht abgewischt und
       umklammert ihre eigenen Ellbogen. Sie sieht immer noch wütend aus, aber
       nicht mehr ganz so sehr. Und wen allein verarschen macht ja auch keinen
       Sinn. Chrissy und Svantje sind nicht da, um zu lachen, und Jonas auch
       nicht.
       
       „Was denn?“, fragt Eileen, bereit, den Rückzug anzutreten.
       
       Anita reibt ihre Ellbogen und sieht jetzt auf ihre Füße. Ihre Nägel sind
       total ordentlich lackiert. Ihr Haar tropft nasse Flecken auf ihr T-Shirt.
       Sie runzelt die Stirn, öffnet und schließt den Mund und fragt dann heiser
       und schnell: „Hattest du schon mal eine Zecke?“
       
       Eileen starrt sie an. Instinktiv will sie sagen, dass sie nie eine hatte.
       Frau Bellmann hat ihnen heute Mittag vor der Kanufahrt noch mal gesagt,
       dass sie sich auf jeden Fall beim Duschen nach Zecken absuchen sollen.
       Jonas hat dann erzählt, wie er mal eine in der Kniekehle hatte und sie beim
       Hinsetzen zerplatzt hat und wie ihm das Blut runtergelaufen ist, und Anita,
       Chrissy und ihre Freundinnen haben am allerlautesten darüber gekreischt,
       wie mega eklig das bitte ist, und Frau Bellman hat gesagt, das sei nicht
       lustig und man solle Zecken sich niemals so lange festsaugen lassen,
       sondern gleich rausmachen, weil die Borreliose übertragen können. Davon
       kann man sterben, hat sie gesagt. Da hat erst mal keiner gelacht.
       
       „Ja, schon“, sagt Eileen vorsichtig. „Aber nur so zwei.“ Was eine glatte
       Lüge ist. Ihre Oma hat einen großen Garten, und Zecken lieben Eileen
       einfach, genau wie Mücken. Obwohl sie sich gleich nach dem Aufstehen mit
       dem Spray eingenebelt hat, hat sie schon fünf Stiche. Und an Borreliose ist
       sie auch noch nicht gestorben.
       
       Anita verzieht nicht das Gesicht, fängt nicht an zu lachen. Sie sieht auf.
       Die Wut schmilzt ihr vom Gesicht, dass es Eileen fast erschreckt. „Kannst
       du die rausziehen?“, fragt sie hoffnungsvoll.
       
       Und da kapiert Eileen endlich. Einen Moment gafft sie Anita bloß dumm an.
       Eben hat sie noch schlau gedacht, ob Anita wohl gerade ihre Periode
       bekommen hat, wegen dem roten Handtuch. Viele Mädchen in der Klasse haben
       sie schon, Svantje auch. Eileen hat vorn in ihrem Rucksack zwei gefaltete
       Binden in Plastikfolie, für den Fall. Davon hätte sie Anita bestimmt eine
       gegeben.
       
       „Frau Bellmann hat eine Pinzette“, sagt sie verunsichert.
       
       Anita schüttelt sofort den Kopf. Ihr Haar schlackert nass. Sie verschränkt
       die Arme fest vor der Brust. Ihr Fußkettchen blinkt, als sie nervös das
       Gewicht verlagert. „Das geht nicht.“
       
       „Warum nicht?“
       
       Anitas Schultern wandern hoch, und ihre Wangen bekommen rote Flecken. Sie
       schüttelt noch einmal den Kopf.
       
       „Die gehen eigentlich ganz leicht raus, auch mit Fingernägeln. Glaube ich“,
       fügt sie rasch an.
       
       „Ich kann nicht!“, stößt Anita heftig hervor. „Ich kann das einfach nicht,
       okay?“
       
       „Okay“, sagt Eileen unsicher. Sie versteht schon, was Anita will. Sie ist
       ja nicht völlig blöd. Sie kann es nur nicht so ganz glauben. Warum fragt
       sie denn nicht einfach Chrissy oder Svantje oder gleich Jonas? Der ist doch
       Experte, angeblich. Sie muss ja nur warten. Sie wippt zögernd auf dem
       linken Schuh. Dann gibt sie sich einen Ruck. „Ich kann mal gucken“, sagt
       sie. Sie geht langsam zurück zu Anita und sieht sich um, wo sie ihr Buch
       ablegen kann. „Wo ist die denn?“
       
       Anita antwortet nicht. Eileen legt das Buch auf den Schlafplatz von Jojo,
       die den schlechtesten Platz im Raum hat, den direkt an der Tür und beim
       Mülleimer, in dem Papiere von Schokoriegeln und Saftpäckchen liegen, und
       dreht sich zu ihr um. Anita umklammert ihre Arme so fest, dass ihre Haut
       bis unter die Ärmel vom T-Shirt bleich spannt. Sie wird immer röter. Ihre
       Augen glänzen feucht.
       
       „Was?“, sagt Eileen. Ihr Herz schlägt schon von ganz allein nervös
       schneller. „Was denn?“
       
       Anita blinzelt, und mehr Tränen laufen ihr runter. Sie sieht auf ihre
       nackten Füße, auf den hässlich gemusterten Gummibelag des Gästehauses, der
       von vielen Klassen vor ihnen zerkratzt und fleckig ist. „Die ist zwischen
       meinen Beinen“, krächzt sie und fängt dann richtig an zu heulen.
       
       Ein Sturz Blut geht Eileen ins Gesicht, und ihr Magen ballt sich wie eine
       Faust. Sie glotzt Anita an. Ihr Schluchzen hallt im leeren Raum. Eileen
       sieht sich ängstlich um. Der Flur gähnt dunkel. Sie sollten beide seit zehn
       Minuten beim Essen sein. Sicher kommt gleich wer sie holen, und dann gibt
       es Ärger für sie beide, und Frau Bellmann wird Anita fragen, was los ist.
       
       „Du musst es einfach mit den Fingernägeln machen“, sagt sie. Ihre Stimme
       kommt selbst etwas krächzig heraus. Aber Anita heult nur heftiger. Sie hat
       die Fluttore geöffnet, würde Eileens Mutter jetzt sagen. „Ich kann das
       nicht!“, schluchzt sie, ganz schrill. „Bitte mach sie raus! Mach sie raus!
       Mach sie raus!“
       
       Eileen fühlt ihren Herzschlag jetzt im Mund, so geht er ab, und ihr Bauch
       tut weh. Warum haben Vero und Sarah nichts gesagt? Aber wahrscheinlich
       haben sie das und Eileen hat es nur nicht mitgekriegt, wie immer, wenn sie
       in etwas vertieft ist. Bei der Deutscharbeit musste Herr Ritter
       rüberkommen und ihr auf die Schulter klopfen, weil sie nicht gemerkt hat,
       dass Abgabe ist.
       
       „Okay, okay! Ich mach es, okay?“
       
       Anita nickt heulend. „Danke!“, schluchzt sie. „Danke!“ Sie hält sich den
       Mund zu, um sich zu beruhigen. Sie sieht selbst erschrocken aus. Sie atmet
       schnaufend ein und aus, wischt sich übers Gesicht und schnieft.
       
       Eileen schließt erst mal die Tür. Ihr ist leicht schwindelig, weil das
       alles so verrückt ist, wie zu viel geschaukelt oder gedreht. Sie denkt
       daran, wie Ärzte im Fernsehen „Machen Sie sich mal frei“ sagen, aber das
       kann sie unmöglich sagen. Niemals. Anita setzt sich schniefend auf das
       Fußende von ihrem Schlafsack und macht mit bebenden Händen ihr Handtuch ab
       und bedeckt sich, so gut sie kann, das andere Bein. Ihr Gesicht ist
       tomatenrot. Sie weint noch, aber nicht mehr so schlimm. Eileen geht das
       Stück zu ihr rüber und wünscht, sie hätte sich die Schnürsenkel zugebunden.
       Ihr Gesicht ist jetzt kochend heiß. Ihre Ohren tun richtig weh. Ihre Hände
       sind eiskalt. Dabei hat sie ja keine Angst vor Zecken, nur da, wo sie sind.
       
       Augen zu und durch, denkt sie und kniet sich vor Anita hin. Anita sitzt
       mucksmäuschenstill. Ihre geöffneten Beine sehen rau aus von Gänsehaut. Sie
       muss sich schon rasieren. Eileen will es nicht bemerken und tut es doch.
       Die Haare wachsen gerade erst in sanften Stoppeln nach. Sie will nicht
       denken, dass ihre Oma sagt, nur Nutten würden sich überm Knie rasieren.
       Aber da ist es schon gedacht.
       
       Mit Anitas Shampoo und Parfum in der Nase merkt sie, dass sie selbst nach
       Schweiß stinkt. Sie wollte erst die Karten schreiben und nach dem
       Abendessen duschen. Der Briefkasten vorm Hotel wird nämlich früh morgens
       geleert. Für ihre Mutter und ihre Oma hat sie die gleiche Karte vom
       glitzernden Kummerower See, aber für Merle hat sie eine mit einem Eisvogel
       drauf gefunden. Merle ist total verrückt nach Vögeln. Sogar auf ihrem
       Briefpapier, auf dem sie Eileen schreibt, sind welche im Hintergrund.
       Selbst gesehen hat Eileen den Eisvogel noch nicht, aber es war ja auch erst
       der erste Tag.
       
       Ihr Mund ist staubtrocken. Sie reibt die Finger an den Knien ihrer Jeans,
       damit sie aufwärmen und nicht so kleben, und guckt dabei langsam Eileens
       Beine hoch, bis sie die Zecke findet. Sie ist noch ziemlich klein und vor
       allem gar nicht richtig zwischen den Beinen, denkt sie mit einiger
       Erleichterung, jedenfalls nicht da, sondern nur da, wo der Oberschenkel
       aufhört, einen Millimeter oder so unter dem Bündchen von Anitas Slip. Sie
       hat ein bisschen dunklen Flaum da.
       
       Nur auf die Zecke gucken, sagt sie sich. Sie stellt sich vor, dass sie ein
       Experiment in Chemie macht oder einen Kartentrick oder ein trickreiches
       Hölzchen aus einem Jengaturm zieht oder eine Nadel in ein Öhr fädelt. Ihre
       Hände werden ganz ruhig, ihr Kopf auch. Sie war noch nie so froh, dass sie
       sich das Nagelbeißen abgewöhnt hat wie jetzt. Als sie mit den
       Fingerknöcheln leicht Anitas Bein streift, zuckt Anita heftig zusammen,
       quietscht und zappelt. Eileen bleibt cool. Sie wartet, bis Anita wieder
       still sitzt. Dann legt sie die Fingerkuppe über den Kopf der Zecke und den
       Daumen darunter, bis sie einen Fremdkörper zwischen den Nägeln spürt, kaum
       mehr als eine Stecknadeln und nicht so rund. Noch nicht. Eileen denkt an
       das Blut, das Jonas die Kniekehle runterläuft. An das Gefühl, wie die Zecke
       zerplatzt.
       
       Anita wimmert leise über ihr, als würde sie auch daran denken. Sie hat die
       Augen fest zu. Aber Eileen sieht ganz genau hin. Sie hat keine Angst. Sie
       ekelt sich nicht. Nicht zu fest, nicht zu schnell. Sie sagt ganz cool:
       „Jetzt.“ Sie dreht die Finger leicht und zupft leicht und Anitas Haut hebt
       sich einen Millimeter und die Zecke ist heraus. Eileen lehnt sich so
       schnell zurück, dass ihr schwindelig wird. Das Zimmer kreiselt, hinter
       ihren Augen pocht es.
       
       „Ist sie raus?“, keucht Anita. „Hast du sie?“
       
       Eileen nickt. Sie spürt die Zecke zwischen ihren Fingerkuppen. Winzig. Sie
       bewegt sich ein bisschen. Strampelt.
       
       „Hast du sie auch ganz raus? Steckt nicht noch was drin?“
       
       Sie kann die Zecke gut sehen, auch wenn es ihr leicht in den Augen sticht,
       sie so nah vors Gesicht zu halten. Schwarzer Kopf, Zangen, zwei Beinchen
       vorn, zwei hinten, der Körper leicht angeschwollen. Zwei Tropfen von Anitas
       Blut. Alles da. Sie schüttelt den Kopf. Anita bricht in erleichtertes
       Schluchzen aus. Sie vergisst sogar, das Handtuch zu umklammern. Es
       verrutscht.
       
       Eileen kriecht rückwärts und steht wacklig auf. Ihre eigenen Beine sind so
       taub wie nach dem Cooper-Test. Sie geht wacklig zu ihrem Rucksack, holt ein
       Taschentuch heraus und streift die Zecke hinein. Sie muss mit dem Nagel
       nachhelfen, weil sie kleine Häkchen an ihren Beinchen hat und sich damit
       festkrallt. Dann legt sie das Tuch auf den Boden und zerquetscht die Zecke
       darin mit dem Nagel, wie ihre Oma es ihr gezeigt hat. Sie knackt leise. Es
       ist eklig, ja, aber es ist befriedigend. Jedes Mal wieder. Die Hitze fällt
       von ihr ab. Es atmet sich leichter. Ihr Herz beruhigt sich. Sie wirft das
       Tuch in den Mülleimer und hebt ihr Buch auf und dreht sich zu Anita um, die
       sich die Tränen trocknet. Jetzt fühlt sie sich federleicht. Wie ein
       Eisvogel, vielleicht.
       
       „Siehst du?“, sagt sie glücklich. „Das war ganz einfach. Wollen wir zum
       Essen?“
       
       Anita starrt sie an. Eileens gutes Gefühl schwindet so schnell, wie es
       gekommen ist. Wie ein kalter Wind über den See fährt es ihr unters
       verschwitzte T-Shirt.
       
       „Nein. Und kann ich mich vielleicht jetzt in Ruhe umziehen?“
       
       Eileen blinzelt sie an. „Oh“, sagt sie lahm. „Okay.“ Sie steht noch einen
       Moment da, ihr Buch umklammernd, bedröppelt, dann schlurft sie zur Tür. Ihr
       Herz schlägt wieder schneller.
       
       „Mir war nur schlecht, kapiert?“
       
       Sie sieht über die Schulter zu Anita, die mit zusammengepressten Beinen auf
       ihrem Schlafsack sitzt, auf dem besten Platz im Zimmer. Sie hat sich das
       Gesicht abgewischt. Ihre Augen spüren Funken. Sie sitzt jetzt gerade, mit
       vorgerecktem Kinn. „Wenn du es Chrissy sagst oder Jonas oder den Lehrern,
       mach ich dich richtig fertig. Kapiert?“
       
       Eileen nickt.
       
       „Und mach die Tür zu.“
       
       Eileen geht hinaus und schließt die Tür hinter sich. Sie kommt am dunklen
       Zimmer der Lehrer vorbei und bei den Jungs, die die Fenster aufgelassen
       haben und das Licht an. Das gibt jede Menge Mücken im Zimmer. An der Treppe
       ist sie extra vorsichtig, wegen der offenen Schuhe. Im Erdgeschoss ist es
       dämmrig. Sie geht hinaus in den graublauen Abend und setzt sich auf die
       Betonstufe vor dem Eingang, um sich die Schnürsenkel zu binden. Sie ist
       noch schön warm vom Tag und die Luft lau. Trotz T-Shirt friert sie nicht.
       Es riecht nach See und nach ihrem Schweiß. Im Hotel brennt gelbes Licht,
       und über ihr im Zimmer der Mädchen auch. Sie bleibt sitzen und atmet ein
       und aus, bis ihr Herzrasen sich beruhigt und ihre Kehle sich lockert. Sie
       klappt ihr Notizbuch auf, nimmt die Postkarte mit dem Eisvogel heraus und
       schreibt sie fertig: „Wünsch mir Glück auf meiner nächsten Seefahrt! CU!
       Kapitän Eileen:)“ Ihre Hand zittert müde, und so super ist das Licht nicht
       mehr. Trotzdem malt sie sich noch als Kapitän über ihr Kanu. Wenn das Bild
       nicht ganz so gut ist wie das letzte, wo sie sich als Zombie mit
       raushängendem Hirn gemalt hat, wegen der Mathearbeit, dann macht der
       Eisvogel es wieder wett. Anita ist immer noch nicht herausgekommen, und im
       Hotel sitzen noch alle beim Essen. Eileen steht auf, steckt die Karten ein
       und macht sich auf den Weg zum Briefkasten.
       
       2 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Moira Frank
       
       ## TAGS
       
   DIR Literatur
   DIR Kurzgeschichte
   DIR Körper
   DIR Jugend
   DIR Zecken
   DIR Freizeit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA