URI: 
       # taz.de -- Italienische Weihnachtsgeschichten: Von Gütern und Güte
       
       > Autor:innen erzählen von Weihnachten. Dabei reisen die Heiligen Drei
       > Könige per Raumschiff an und ausgebeutete Weihnachtsmänner fluten die
       > Straßen.
       
   IMG Bild: Italienisches Stillleben zu Weihnachten
       
       Wir sind mittendrin und doch nicht voll dabei: die Weihnachtszeit, des
       Menschen heiß geliebte Melange aus Geben und Nehmen, Kaufen und Schenken,
       zusammen und doch nie zufrieden sein, fällt dieses Jahr weniger feierlich
       aus, verlagert vom gemütlichen Marktstand auf das heimische Sofa, von der
       großen Familienfeier auf ein Fest in beschaulich-überschaubarer Runde.
       
       Dabei gebe es für den „Großteil der Menschen“, schreibt Italo Calvino,
       einer der bekanntesten literarischen Exportschlager Italiens, „kaum eine
       größere Freude, als „das Fließen von materiellen Gütern und gleichzeitig
       von Güte zu spüren“. Ein*e jede*r, befindet Calvino, dessen Erzählung „Die
       Kinder des Weihnachtsmanns“ das pünktlich zum Advent veröffentlichte
       Weihnachtspaket des Wagenbach Verlags eröffnet, wolle Teil dieses
       Schlaraffenlandes sein, in dem alle Welt nonstop konsumiere, sich amüsiere,
       Geschenke mache und jede Menge Geld in Umlauf bringe.
       
       „In die Geschäfte laufen“, bringt Calvino in dem Roman „Wenn ein Reisender
       in einer Winternacht“ die weihnachtliche Umtriebigkeit auf den Punkt, „und
       kaufen, kaufen, kaufen und dann schenken, schenken, schenken“, wie es die
       redlichsten Gefühle und das Gemeininteresse von Geschäft und Handel
       geböten. Und tatsächlich wissen wir oftmals nicht, ob uns nun
       Barmherzigkeit oder ein korrumpiertes Begehren in die Schlangen der
       Supermärkte und Kaufhäuser oder auf die landing pages diverser Online-Shops
       navigieren.
       
       ## Anreise mit dem Raumschiff
       
       Italienische Autor*innen nehmen sich in „Weihnachten“ des Fests der Feste
       an – natürlich nicht, ohne es lebensklug und sprachgewandt, mit surrealen
       Stoffen wie mit fantastischen Ideen, gehörig auseinanderzunehmen: Die
       Heiligen Drei Könige reisen per Raumschiff an, identisch aussehende
       Weihnachtsmänner mit prekären Arbeitsverträgen fluten die Straßen,
       angeheuert von PR- und Werbeabteilungen, ihrerseits bestrebt, ihren
       kauffreudigsten Kunden vermeintlich originelle Weihnachtsüberraschungen bis
       an die Haustür zu liefern, geflissentlich ignorierend, dass das
       sechsundvierzigste Paket innerhalb einer Woche für den übersättigten
       Wohlstandsbürger auch keinen Unterschied mehr macht.
       
       Bei Luigi Malerba, feinspüriger Ironiker und Mitbegründer der Gruppe 63,
       schreit in der Krippe ein Mädchen. Natalia Ginzburg erinnert sich an einen
       „Winter in den Abruzzen“, Ermanno Cavazzoni erforscht, wie sich Marxismus
       und die Heiligen Drei Könige unter einen falschen Bart bringen lassen.
       
       Leonardo Sciascia, der in Palermo viele Jahre als Lehrer gearbeitet hat,
       ehe er sich ganz der Schriftstellerei widmete, zitiert Aufsätze seiner
       Schüler über ihr Weihnachtsfest: Am Weihnachtsmorgen, schreibe einer, habe
       seine Mutter ihn mit warmem Wasser überrascht, damit er sich von oben bis
       unten waschen könne. Das Fest, schreibt Sciascia, habe ihm nichts gebracht,
       was schöner gewesen wäre.
       
       ## Ein suspekter Verehrer
       
       Die wohl fulminanteste Geschichte dieses achtzig Seiten zarten Büchleins,
       einer Komposition aus Sinn für Humor und italienischer Lebensart, steuert
       Alberto Moravia bei, eine politisch wie literarisch prägende Figur des
       Italiens des zwanzigsten Jahrhunderts: In einer Erzählung seiner „Racconti
       surrealisti e satirici“ sieht sich der Protagonist dem neuesten Verehrer
       seiner Tochter gegenüber, ein ihm außerordentlich suspektes Exemplar. „Als
       dem Kaufmann Policarpi-Curcio am ersten Weihnachtstag seine Frau am Telefon
       sagte, er möge pünktlich nach Hause kommen, wegen des Truthahns, freute er
       sich sehr, denn mit den Jahren waren ihm keine anderen Freuden geblieben
       als die Gaumenfreuden.“
       
       Groß jedoch Curcios Verwunderung, als er den Truthahn bei seiner Ankunft
       „nicht an einem Spieß langsam über einem Riesigkohlenfeuer rotierend in der
       Küche antraf, sondern im Wohnzimmer sitzend“. Selten hat es mehr Spaß
       gemacht, die Garde italienischer Autor*innen des vorigen Jahrhunderts
       (wieder) zu entdecken, zumal die Plätze scharfsinniger, italienischer
       Gegenwartsliteratur spärlich besetzt sind.
       
       Das schönste Geschenk, das beweist dieses Buch, sind und bleiben gute
       Geschichten.
       
       24 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marielle Kreienborg
       
       ## TAGS
       
   DIR Literatur
   DIR Erzählungen
   DIR Weihnachten
   DIR Italien
   DIR Literatur
   DIR Gender
   DIR Kolumne Berlin viral
   DIR Britische Literatur
   DIR Literatur
   DIR Buch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Weihnachtliche Geschichten: Mit dem König von Bratislava tanzen
       
       „Weihnachten in Prag“ ist eine wundersame kleine Erzählung von Jaroslav
       Rudiš. Darin geht es mit einem „Kavka“ auf Kneipentour.
       
   DIR Mangel an Weihnachtsmann-Fachkräften: Es geht auch ohne Weihnachtsmann
       
       In Cottbus und Potsdam fehlt es angeblich an Fachkräften für den
       Weihnachtsmannjob. Aber wo ist das Problem? Kann doch jede*r selbst
       machen!
       
   DIR Weihnachten in Berlin: Entzauberung erst nächstes Jahr
       
       Freunde wurden ausgeladen, die Eltern schicken über Whatsapp eine
       Weihnachtspredigt aus dem Rheinland. Und Gedichte gab es auch.
       
   DIR Vergessener Horrorautor Arthur Machen: Schrecken vor ruhiger Landschaft
       
       Vielen gilt er als Vater der modernen Horrorgeschichte, hierzulande jedoch
       blieb er Geheimtipp. Eine Werkausgabe zu Arthur Machen soll das ändern.
       
   DIR Neuer Roman von Elena Ferrante: Genau so wollte sie es machen
       
       In „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ porträtiert Elena Ferrante eine
       fragile familiäre Idylle. Der Roman lässt formale Risiken vermissen.
       
   DIR Zur Globalgeschichte der Nudel: Pasta als Produkt offener Politik
       
       Spaghetti al pomodoro, diese so typisch italienische Tradition, ist Fusion
       – wie Massimo Montanaris gleichnamiges Buch zur Geschichte der Pasta zeigt.