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       # taz.de -- Raymond Depardons Bildband „Rural“: Fotografische Flaschenpost
       
       > Der Bildband „Rural“ überzeugt durch Anteilnahme und Sachlichkeit. Darin
       > nimmt der Fotograf Raymond Depardon das ländliche Frankreich in den
       > Blick.
       
   IMG Bild: Raymond Depardon fotografierte 1993 diesen Hof in Le Villaret im Département Lozère (Ausschnitt)
       
       Alles ist zu. Bis mindestens 10. Januar. Statt in der Galerie schauen wir
       uns eben die Bilder im Buch an. Für Fotografien ist das sowieso der einzig
       richtige Ort. Das belegt einen weiteres Mal die Publikation „Rural“ der
       zurzeit ebenfalls geschlossenen Fondation Cartier mit Aufnahmen von
       [1][Raymond Depardon].
       
       Zuletzt streamen wir die Bilder auch. Und entdecken dabei, wie wir zu
       unserer Verwunderung feststellen, oft wahre Schätze. Auf Youtube finden wir
       etwa Raymond Depardons „Profils paysans“, die dreiteilige Filmdokumentation
       vom Niedergang und Verschwinden der bäuerlichen Kultur in den französischen
       Mittelgebirgsregionen. „L’aproche“ (2000), „Le quotidien“ (2004)“ und „La
       vie moderne“ (2008) ergänzt nun der Bildband „Rural“ mit einem Konzentrat
       der frühen Aufnahmen, die der vielfach preisgekrönte Fotograf (Robert Capa
       Gold Medal, Pulitzerpreis) um 1990 herum, vor inzwischen schon 30 Jahren,
       in den Cevennen und im Massif Central gemacht hat.
       
       Depardon könnte hier ein Anliegen gehabt haben, denn er wuchs selbst auf
       einem Bauernhof in der Region Villefranche-sur-Saône auf, der, wie viele
       Höfe der Gegend, aufgegeben, also verkauft und in Ferienwohnungen
       umgewandelt wurde. Trotzdem, wahrscheinlich aber gerade deswegen, ist sein
       Blick auf ein ländliches Frankreich, das in ein paar Jahrzehnten (also
       heute) nur noch eine Minderheit von Touristen kennt und schätzt, ohne
       Nostalgie oder Melancholie, deutlich, aber voller Anteilnahme.
       
       In 86 Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die er mit einer 6 x 9 Mittelformatkamera
       aufgenommen hat, werden wir unter anderen mit dem Dorf Fay-sur-Lignon im
       Departement Haute-Loire bekannt gemacht, wie es im Schneematsch vor sich
       hindämmert; nur vor dem „Café des Amis“ stellt Depardon zwei Männer. In Le
       Villaret trifft er auf den 84-jährigen Marcel Privat und seinen 83-jährigen
       Bruder Raymond sowie den Neffen Alain Rouvière und dessen Frau Monique, die
       – eine rare Ausnahme – den Hof übernehmen werden.
       
       ## Die Normalität von abgelegenen Regionen
       
       Im Bild des Schattenfalls eines winterlichen kahlen Baums auf das Gemäuer
       des alten Gehöfts im Departement Lozère, wo sie zu Hause sind, wird dessen
       großartige Schönheit deutlich. Wir sehen sie auch in der Natur, der
       Einsamkeit des kargen bäuerlichen Lands mit seinen leeren Straßen und
       Dörfern. Nur alte Menschen scheinen hier zu leben. Mit dem Fotografen
       beobachten wir sie bei der Arbeit, wie sie mit dem Ochsengespann den Dung
       auf dem Feld ausbringen oder die Schafe weiden.
       
       Das klingt archaischer, als es ausschaut: nämlich selbstverständlich. So
       fotografiert es jedenfalls Depardon, das macht seine Bilder so stark. Sie
       zeigen die Normalität von Regionen, die für den Wintersport nicht hoch
       genug liegen, aber für Landwirtschaft als einem modernen, mit teuren
       Maschinen betriebenen, rentablen Geschäft zu abschüssig und kleinteilig
       sind.
       
       Depardons Fotografien zeigen ein dem urbanen Frankreich und dem
       touristischen der Atlantik- und Mittelmeerküste unbekanntes Frankreich, ein
       vergessenes, aus dem Blick geratenes Frankreich: Die „Grande Nation als
       Niemandsland“, wie es einmal in der Zeit hieß. „Rural“ funktioniert dabei
       ein wenig wie eine Flaschenpost, wie ein längst von der Zeit überholtes
       SOS.
       
       30 Dec 2020
       
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