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       # taz.de -- Kunsthistorikerinnen zu Diversität: Öffnung im Kopf
       
       > Julia Grosse und Yvette Mutumba wollen den Kunstdiskurs diverser und
       > globaler machen. Ein Gespräch über Kunstgeschichte und Debatten.
       
   IMG Bild: Yvette Mutumba und Julia Grosse in Berlin
       
       Die Kunsthistorikerinnen Julia Grosse und Yvette Mutumba gründeten im Jahr
       2013 unterstützt von der bundesdeutschen Kulturmittlerorganisation Institut
       für Auslandsbeziehungen (ifa) das Onlinemagazin [1][„Contemporary And“] mit
       dem Ziel, dem zeitgenössischen Kunstdiskurs globalere und diversere Stimmen
       aus Afrika und der afrikanischen Diaspora hinzuzufügen. [2][„Contemporary
       And“ wuchs zur Plattform heran] und bekam Zuwachs durch [3][„Contemporary
       And América Latina“.] Ende November wurden Grosse und Mutumba dafür beim
       Kulturmarken-Award in der Kategorie Europäische*r Kulturmanager*in des
       Jahres 2020 ausgezeichnet. Im Dezember kam noch ein weiteres Projekt mit
       dem ifa hinzu: Das partizipative Onlineprojekt [4][„Are You For Real“] soll
       Künstler*innen, Programmierer*innen, Poet*innen und
       Akademiker*innen und deren jeweiligen Blick auf unsere aktuelle
       Realität zusammenbringen. 
       
       taz: Frau Grosse, Frau Mutumba, Sie als frisch gewählte Europäische
       Kulturmanagerinnen des Jahres können uns folgende Fragen sicher
       beantworten: Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff
       Kulturmanagement? Wie managt man überhaupt Kultur?
       
       Yvette Mutumba: Das ist schwer zu sagen, denn es gibt unzählige Formen,
       Kultur zu „managen“. Zudem kann das Wort „managen“ irreführend verstanden
       werden, gerade in Bezug auf Kultur. Zwar gibt es die kommerzielle Seite des
       Betriebs, wo Künstler*innen geschäftlich betreut werden, wir dagegen
       sehen unsere Rolle eher als Netzwerker*innen und Begleiter*innen
       künstlerischer Prozesse. Dennoch freuen wir uns natürlich sehr über die
       Auszeichnung.
       
       Sie haben sich in Ihrer Kategorie unter anderem gegen Eike Schmidt, den
       Direktor der Uffizien, und gegen Malte Boecker, den Direktor des
       Beethoven-Hauses Bonn, durchgesetzt. Weiße Männer der Generation 50plus,
       die große Institutionen leiten. Was machen Sie besser? 
       
       Julia Grosse: Na ja, da wir ganz anders arbeiten, zudem auch in völlig
       anderen Bereichen von Kultur, kann man nicht wirklich von besser oder
       schlechter sprechen. Uns ist in unserer Arbeit wichtig, über Kontexte zu
       sprechen, innerhalb derer es nicht mehr um Kategorien und damit oft auch
       Vereinfachungen geht.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       JG: Es gibt zum Beispiel nicht „die afrikanische Kunst“ oder „den
       afrikanischen Künstler“. Oder wenn wir von Kunstgeschichte oder Moderne
       sprechen, haben wir nicht die „eine Moderne“ im Sinn, nicht die „eine
       Kunstgeschichte“, wie man sie in Gombrichs „Geschichte der Kunst“ nachlesen
       kann, sondern reflektieren immer mit, dass es unzählige Kunstgeschichten
       und Modernen gibt und gab. Wir sind beide Kunsthistorikerinnen und durch
       das Studium absolut westlich sozialisiert. Wir mussten diese Öffnung im
       Kopf also selber erst lernen.
       
       Ausgezeichnet wurden Sie dafür, „hochkomplexe Inhalte zeitgenössischer
       Kunstproduktionen aus Afrika, Südamerika und seiner globalen Diaspora durch
       lokale Schreiber*innen zugänglich zu gestalten“. Gemeint sind Ihre
       Plattformen Contemporary And und Contemporary And América Latina. Worum
       handelt es sich dabei? 
       
       YM: Contemporary And (C&) ist eine dynamische Plattform zur Reflexion und
       Verbindung von Ideen und Diskursen zur zeitgenössischen bildenden Kunst. Es
       geht darum, vielschichtige Arbeiten von Kulturproduzenten aus den
       unterschiedlichsten Perspektiven und Kontexten zu verbinden. C& ist ein
       globales, ständig wachsendes Netzwerk von Stimmen und bringt komplexe
       Themen in zugängliche Formate: durch Sprache, durch Digitalität, durch
       Begegnungen.
       
       Was heißt das konkret? 
       
       YM: Der C&-Kosmos umfasst Inhalte und Projekte, die online, offline und
       irgendwie auch dazwischen stattfinden. Das C& Magazine wird online in
       Englisch und Französisch veröffentlicht und bietet täglich weltweit
       produzierte Kunstnachrichten, Features, Essays und Interviews. Das C&
       América Latina Magazine ist ein Onlineraum für Kunstkritik in Spanisch,
       Portugiesisch und Englisch, mit dem Ziel, noch umfassendere Einblicke in
       globale künstlerische Diskurse zu bieten. Dazu kommen unter anderem
       Workshops für junge Kunstautor*innen, Initiativen wie das C& Center of
       Unfinished Business, einem durch international renommierte Kunsträumen und
       Museen tourenden Leseraum, oder C& Commissions, ein digitales
       Ausstellungsformat auf unserer Webseite.
       
       An wen richtet sich all das? 
       
       JG: Eines der Stichwörter oder gar Mantren unserer Arbeit ist das englische
       Wort der accessibility, der Zugänglichkeit, und das auf diversen Ebenen:
       Wir haben C& von Anfang an als Onlineplattform gegründet, um theoretisch
       jeden mit Internetzugang erreichen zu können. Zudem sind alle unsere
       Inhalte kostenfrei, dank der Förderung des ifa, des Auswärtigen Amts und im
       Falle von C& América Latina des Goethe-Instituts, auch unsere zwei- bis
       dreimal im Jahr produzierten Printausgaben. Zugänglichkeit betrifft genauso
       die Inhalte. Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, auf C& zu stark
       akademische Texte zu veröffentlichen, da wir idealerweise alle erreichen
       wollen.
       
       Funktioniert das? 
       
       JG: Unsere lokalen Schreiber*innen schaffen es, komplexe Diskurse zu
       Kunstproduktion aus Afrika und der globalen Diaspora so zugänglich und
       verständlich wie möglich wiederzugeben. Dass das funktioniert und auch
       angenommen wird, merken wir daran, dass C& Magazine und C& América Latina
       Magazine in über 150 Ländern gelesen werden, von den USA über Deutschland
       bis Nigeria oder Brasilien, und die Leser*innen sind vor allem zwischen 18
       und 35 Jahren.
       
       Die Frage nach globaleren, diverseren Perspektiven hat in den vergangenen
       Jahren auch die großen Kulturinstitutionen erreicht. Sie arbeiten selbst
       häufig in und für Institutionen. Wie nehmen Sie den aktuellen Diskurs wahr? 
       
       YM: Wir haben C& in einer Zeit gegründet, in der man durchaus von einem
       Hype um künstlerische Positionen aus Afrika und der globalen Diaspora in
       der Kunstwelt sprechen konnte. So etwas kommt ja in der Regel in Wellen, um
       die Zeit der von [5][Okwui Enwezor] kuratierten Ausstellungen „The Short
       Century“ (2001) und documenta 11 (2002) vollzog sich ebenfalls eine Art von
       global turn. Viele Institutionen zogen damals nach und zeigten Projekte mit
       Arbeiten von Künstler*innen aus Afrika und der Diaspora. Dann verebbte das
       Interesse jedoch erst einmal wieder, bevor es in den 2010er Jahren langsam
       wieder begann Aufschwung zu nehmen.
       
       Das klingt wenig nachhaltig. 
       
       JG: Hypes des Kunstzirkus waren nie und sind bis heute nicht Teil unserer
       Vision für C&. Und spätestens mit den diesjährigen weltweiten Eruptionen
       durch die Black-Lives-Matter-Bewegung, die ja auch einen merklichen
       Einfluss auf die Kunst und Kunstinstitutionen hatte, ist der Druck auch
       auf Museen nochmals gestiegen, mitzuziehen und ein globaleres, diverseres
       Programm anzubieten.
       
       Wo stehen wir heute in diesem Prozess? 
       
       YM: Es ist noch ein langer Weg zu gehen, wenn es um nachhaltige,
       tiefgreifende institutionelle Veränderungen geht – von langfristigen
       Programmänderungen über Sammlungsankäufe bis dazu, dass Diversität nicht
       beim Reinigungs- und Wachpersonal enden darf, sondern auch bei den
       inhaltlich arbeitenden Mitarbeiter*innen oder in den Freundeskreisen
       Normalität werden muss. Was wir bei jungen Künstler*innen aus
       afrikanischen Städten beobachten, ist, dass immer mehr nicht im Geringsten
       davon träumen, endlich in London, Paris oder Berlin zu leben und dort ihre
       Arbeit auszustellen. Vielmehr gehen viele bewusst zurück nach Accra, Kairo
       oder Lagos mit dem Wunsch, an der Gestaltung lokaler, kultureller
       Infrastrukturen vor Ort mitzuwirken. Solche Tendenzen finden wir großartig.
       
       21 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://contemporaryand.com/
   DIR [2] /Magazin-Launch/!5428286
   DIR [3] https://amlatina.contemporaryand.com/
   DIR [4] https://ru4real.de/en/
   DIR [5] /Zum-Tod-von-Okwui-Enwezor/!5580812
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Beate Scheder
       
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