URI: 
       # taz.de -- Coronapandemie und Anpassung: Dann machen wir eben neue Pläne
       
       > Die Pandemie zwingt uns dazu, mit dem Weitermachen aufzuhören. Wir müssen
       > uns den Umständen anpassen.
       
   IMG Bild: In diesem Jahr dürfen wir daran glauben, dass es 2021 bergauf geht. Immerhin das
       
       Die Erzählung des „beschissenen Jahres 2020“ hat ein bisschen geholfen. Sie
       hat sogar ganz gut funktioniert, solange der Jahreswechsel noch nicht in
       Sichtweite war. Weil man eben manchmal eine:n Schuldige:n braucht. Und der
       reflexhafte Ausruf nach dem „Scheißjahr“ hat die maximale Hoffnung
       mitgetragen, dass im nächsten Jahr alles besser wird – und sich diese
       Besserung bitte schon an Weihnachten einzustellen hat. Vielleicht geht 2020
       einfach als verlorenes Jahr in die Weltgeschichtschronik ein, aber immerhin
       ist es fast geschafft. Nur noch wenige Tage bis Silvester! Noch wenige Tage
       bis zum Neuanfang!
       
       Die Realität sieht anders aus. Dass die Wunschvorstellung von der Erlösung
       vom Coronamarathon zum Jahresende nicht eintritt, ist längst klar. Wir
       verstehen diesen Umstand trotzdem nur sehr langsam, haben aber keine Wahl
       mehr. Während wir uns im Sommer noch einreden konnten, der Winter würde
       niemals kommen, meldeten die Gesundheitsämter dem Robert Koch-Institut
       [1][am letzten Dienstag] 952 Todesfälle. Neunhundertzweiundfünfzig
       Menschen, die an oder im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind. In 24
       Stunden.
       
       Deutschland hat bewiesen, dass es kollektive Eigenverantwortung nicht kann.
       Viele haben sich im Einzelnen Mühe gegeben, aber alle zusammen nicht genug.
       Wohlstandsmenschen glauben selbst in einer Pandemie noch daran,
       unverwundbar zu sein. Politisch Verantwortliche zeigen, [2][dass sie oft
       noch zu viel europäische Arroganz in sich tragen], um von anderen Ländern
       und Gesellschaften lernen zu wollen.
       
       Und wir? Wir sind jetzt noch ein bisschen ekelhaft zueinander, weil wir
       spüren, wie ungleich und ungerecht unsere Gesellschaft ist. Schieben Schuld
       zu und wälzen Verantwortung auf andere ab. Manchmal landet beides bei uns
       selbst. Manchmal finden wir, dass wir doch alles richtig machen, während
       andere egoistisch sind. Wir pendeln zwischen Wut und Resignation, weil wir
       doch wenigstens auf Weihnachten gehofft hatten, auf den Jahreswechsel. Auf
       eine Belohnung, auf ein „Wie immer“.
       
       ## Durch Pläne geben wir der Zeit einen Sinn
       
       Zwischen den Jahren ist eigentlich die einzig sinnvolle fünfte Jahreszeit.
       Ein Dazwischen-Raum, in dem die Welt gleichzeitig stehen bleibt und sich
       weiterdreht – ein bisschen so, als wäre ein Kind neu geboren oder ein
       Mensch gerade verstorben. Als würde man kurz nicht nur wissen, sondern auch
       ganz stark spüren, was wirklich wichtig ist im Leben. Als wäre man für
       einen kurzen Moment genau gleich viele Schritte von Vergangenheit und
       Zukunft entfernt.
       
       Diese Zeit hebt sich heraus aus dem Alltagstrott, weil wir entschieden
       haben, dass sie symbolisch ist. Menschen zählen an Silvester von zehn bis
       [3][„Happy New Year!“] runter, obwohl die Sekunde nach Mitternacht gar
       nichts ändert. Aber sie steht für so viel. Für den Wunsch nach, nun ja,
       Happiness eben. Für einen neuen Kalender, neue Möglichkeiten, neue Pläne.
       Normalerweise.
       
       Pläne zu schmieden, hilft dabei, eine positive Grundeinstellung zu
       behalten. Durch Pläne geben wir der Zeit einen Sinn. Pläne strukturieren
       Tage, Wochen und Monate. Pläne können auch Belohnungen sein, auf die wir
       uns freuen. Seit Corona ist das anders. Wir können nichts mehr planen,
       jedenfalls nicht so, wie wir es gewohnt sind.
       
       Nun ist Lockdown, nicht light, sondern heavy. „Wie immer“ ist aus guten
       Gründen abgesagt, und es tut natürlich immer weh, schöne Pläne kurz vor
       Schluss absagen oder ändern zu müssen. Aber wir sind nun mal weder „fast
       da“, noch wissen wir genau, wie diese Zeit aussieht, in der wir nach Corona
       ankommen sollen.
       
       Es gibt keine Garantie mehr für die alten Pläne, und schon gar kein
       selbstverständliches Recht auf sie – eigentlich hätte uns die Klimakrise
       schon längst in diesen Zustand versetzen müssen. Keine Garantie für den
       nächsten Sommerurlaub, keine Garantie für einen ausgelassenen Geburtstag
       und keine Garantie für Sicherheit. Jedenfalls nicht unter den alten
       Bedingungen.
       
       ## Plätzchenpicknick mit Videoschalte statt Ausflug ins Freie
       
       Für viele Menschen und Gesellschaften auf der Welt ist dieser Zustand der
       Unsicherheit längst Alltag. Keine Pläne mehr machen können wie früher, weil
       der Fluss seit Jahren droht, das Dorf zu überschwemmen. Weil das nächste
       Feuer das Zuhause auffressen könnte. Weil man im Kugelhagel sein Leben
       verlieren kann. Nicht genug zu essen hat.
       
       So viele Menschen auf der Welt spüren jeden Tag, dass das Leben unfair ist
       und sie manches nicht in der Hand haben. Viele von ihnen haben auf ganz
       unterschiedliche Arten Resilienz entwickelt, sie sind geübt in Kreativität,
       Spontanität und Improvisation. Das sind zunehmend wichtige Fähigkeiten,
       nicht erst seit der Pandemie, aber durch sie noch verstärkt. Von diesen
       Menschen können wir viel lernen. Nicht Leben mit Resignation, sondern wie
       man sich von alten Plänen verabschiedet und neue, den Umständen
       entsprechende, zeitgemäße Pläne macht.
       
       Das mag ungewohnt sein, ist aber möglich, auch im Kleinen. Wir könnten
       Pläne machen, die auch unter den aktuellen Umständen umsetzbar sind: Ein
       Plätzchenpicknick mit Videoschalte statt Ausflug in die Kälte. Ein Päckchen
       oder eine Karte für die, die sich gerade allein fühlen. Man kann auch
       netter zu sich selbst sein, oder es zumindest versuchen. Statt
       irgendwelcher Urlaubspläne für den Sommer 2021 schmiedet man Pläne für
       morgen und übermorgen. Statt immer alles allein schaffen zu wollen, bittet
       man um Hilfe und Unterstützung, wenn es zu schwer wird. Oder man versucht
       sogar mal, gar keine Pläne zu machen.
       
       Natürlich kann nicht nur jede:r Einzelne anders Pläne schmieden. Auch das
       kollektive Wir muss lernen, sein Planungswesen einer unsicheren Zeit
       anzupassen – und zwar nicht nur akut, sondern auch langfristig und
       nachhaltig. Systemische Sicherheit zu schaffen, bedeutet dabei mehr denn
       je, Sicherheit für die zu schaffen, die besonders vulnerabel sind.
       
       Menschen haben Frühwarnsysteme entwickelt, die vor Erdbeben und Tsunamis
       warnen. Sie können also auch in einen Gesundheitssektor mit fairer
       Bezahlung investieren, der nicht krank macht, und für alle Menschen
       ungeachtet ihrer finanziellen Lage, ihres Geschlechts, ihrer Religion und
       ihres Aussehens die bestmögliche Versorgung bietet. Oder ein Parlament
       wählen, das aus Menschen möglichst diverser Lebensrealitäten besteht, um
       einen tatsächlichen Querschnitt der Gesellschaft abzubilden. Oder endlich
       einsehen, dass Wohlstand keine Unverwundbarkeit mit sich bringt, sondern
       Verantwortung gegenüber denen, die an Europas Außengrenzen in
       überschwemmten Zelten sitzen.
       
       ## Die unerträgliche Leichtigkeit von allem Guten und Schlechten
       
       Ja, 2020 ist ein Scheißjahr. Aber 2020 ist auch das Jahr, in dem wir die
       unerträgliche Gleichzeitigkeit von allem Guten und Schlechten endlich
       wirklich mal fühlen mussten. Und unsere Überforderung damit. In diesem Jahr
       zwischen den Jahren dürfen wir daran glauben, dass es 2021 bergauf geht.
       Wir dürfen der alten Normalität etwas hinterhertrauern und über eine neue
       nachdenken, uns hilflos fühlen und trotzdem hoffnungsvoll. Wir können
       traurig sein, nicht wie sonst mit der Familie zusammenzukommen, oder uns
       total darüber freuen, keine Verwandtschaft sehen zu müssen. Oder
       Weihnachten total egal finden. So oder so bleibt die Welt kurz stehen und
       dreht sich gleichzeitig weiter.
       
       Sicher ist, dass die Coronapandemie uns zu etwas zwingt, nach dem Politik
       und Gesellschaft so oft gerufen, es aber nur selten umgesetzt haben: Nicht
       weitermachen, wie bisher. Und dabei müssen wir nicht nur geliebte, aber
       teils überholte Pläne wegwerfen – wir machen im Idealfall auch Platz für
       neue.
       
       19 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aktuelle-Entwicklungen-in-der-Coronakrise/!5739356
   DIR [2] /Corona-Entwicklung-in-Deutschland/!5721402
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=vS2lWkn4g9g
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lin Hierse
       
       ## TAGS
       
   DIR IG
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Podcast „Vorgelesen“
   DIR Weihnachten
   DIR Film
   DIR IG
   DIR taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Weihnachten in der Pandemie: Unser erstes Weihnachten
       
       Weihnachten ist eine Herausforderung. Warum man in Berlin trotz
       Kontaktbeschränkungen weniger einsam ist als anderswo, und was eine
       Psychologin rät.
       
   DIR US-Künstlerin Miranda July: „Langeweile ist für Kinderlose“
       
       Die Regisseurin und Schriftstellerin Miranda July bringt einen
       Coming-of-Age-Film heraus – und spricht über Kreativität zwischen Lockdown
       und Unruhen.
       
   DIR Politökonomin Maja Göpel über Ideologie: „Wir wird wichtiger als Ego“
       
       Mit „Unsere Welt neu denken“ landete sie einen Bestseller. Wird postfossil
       der neue Mainstream? Und wie reagieren die Bewahrer der alten Welt?
       
   DIR Psychische Belastung in der Corona-Krise: Wie geht's nach dem Lockdown?
       
       Erste Studien deuten auf mehr depressive Symptome hin, jüngere beklagen
       Einsamkeit. Neben Therapieplätzen hilft Aufklärung über Selbstfürsorge.