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       # taz.de -- Gefängnis für Jugendliche: Amin ist wieder da
       
       > Unser Autor arbeitete als Abteilungsleiter in der JVA Adelsheim. Immer
       > wieder begegnete ihm dort Amin. Kann jungen Männern so geholfen werden?
       
   IMG Bild: Persönliche Kleidung ist in Haft nicht erlaubt
       
       Die Sonne steht grell am Himmel über den Hafthäusern in Adelsheim. Amin
       sitzt an diesem schon morgens drückenden Frühsommertag im Polizeiwagen vor
       dem großen, grauen Tor zur Justizvollzugsanstalt. Er ist wieder da. Er wird
       einen der 417 Haftplätze belegen, die der JVA Adelsheim als zweitgrößter
       Jugendstrafvollzugsanstalt in Deutschland zur Verfügung stehen. Seine alte
       Gefangenenbuchnummer wird durch eine neue ersetzt werden: von 01 1 844/2018
       zu 01 1 360/2019.
       
       [1][Adelsheim] ist eine Kleinstadt im Odenwald, im Norden
       Baden-Württembergs. „Badisch Sibirien“ – so nennen die Menschen die Gegend
       hier. Die Haftanstalt liegt auf einem Hügel über der Kleinstadt, umgeben
       von Wald und Getreidefeldern. Den steilen Hang zur Anstalt befahren keine
       öffentlichen Verkehrsmittel. Geht man ihn hinauf, sieht man das Gefängnis
       zunächst nicht, erst wenn der Hang etwas Neigung verliert, taucht die
       lange, graue Mauer auf. Innerhalb dieser Mauern ist das Gelände grün und
       weit, die betonierten Wege trennen Wiesen und Bäume. Die Hafthäuser,
       markiert mit Bezeichnungen wie E3 oder Q, verteilen sich weitläufig auf dem
       Gelände. Ein Ort der Kurskorrektur und Weiterentwicklung, an dem die jungen
       Männer die Freiheit nicht aus dem Blick verlieren sollen, so der Gedanke
       bei Errichtung.
       
       Freiheit – damit kann Amin wenig anfangen. Mit seinen 17 Jahren ist er
       bereits mehrfach in Haft gewesen. Keine Gewaltdelikte; Diebstähle und
       Beleidigungen füllen vor allem seine Akte. In Wirklichkeit heißt Amin
       anders. Um ihn zu schützen, wurde sein Name in diesem Text geändert. Viele
       der Jugendstrafgefangenen empfinden die Anrede mit „Sie“ oder „Herr“ als
       unangenehm, deshalb soll auch Amin hier nur beim Vornamen genannt werden.
       
       Zeitweise lebte Amin auf der Straße, eine Bindung an seine Eltern besteht
       kaum. So steht es in seiner Akte, so berichten es Sozialdienst und
       psychologischer Dienst. Mutter und Vater lebten getrennt, Großeltern und
       Jugendheime übernahmen die Erziehung. Seine Mutter möchte ihn nicht mehr
       sehen. Schon als kleinen Jungen setzte sie Amin häufig vor Haustüren von
       Bekannten ab und verbrachte Monate bei ihrem Freund im Ausland. Sein Vater
       überließ Amin dessen Mutter, er meldete sich nur gelegentlich, inzwischen
       ist der Kontakt abgebrochen. Die Großmutter war für ihn da, zu ihr hatte er
       ein engeres Verhältnis. Sie starb vor Kurzem. Einen Schulabschluss hat Amin
       nicht, so wie mehr als die Hälfte der Inhaftierten hier. Er war mehrfach in
       psychiatrischer Behandlung, die Ärzte diagnostizierten bei ihm Störungen
       des Sozialverhaltens, der Aufmerksamkeit sowie der Impulskontrolle. Sie
       befürchten die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung mit Haltlosigkeit
       und Dissozialität. Einen multiplen Substanzgebrauch – „Mischkonsum“ –
       stellten sie ebenfalls fest.
       
       Draußen wie in Haft ist Amin sowohl Täter als auch Opfer. Einerseits
       beleidigt er Mitgefangene und Beamte, randaliert in seinem Haftraum und
       zerstört Anstaltseigentum, andererseits unterdrücken ihn stärkere Insassen
       und nehmen ihm seinen Einkauf weg. Einmal verbreitete ein Insasse Gerüchte
       über Amins Straftaten. Mehrere Gefangene rotteten sich daraufhin zusammen,
       warteten auf eine Gelegenheit und schlugen, würgten und traten Amin. Er
       wurde zu seinem Schutz in ein anderes Hafthaus verlegt.
       
       Ich bin im Sommer 2019 Abteilungsleiter in der [2][JVA] und damit zuständig
       für mehrere Hafthäuser und ihre Insassen, darunter Amin. Als Jurist
       bearbeite ich die Anträge der Insassen, wenn etwa jemand Ausgang möchte.
       Bei Regelverstößen kann ich Disziplinarmaßnahmen anordnen, zum Beispiel die
       Kürzung des Hausgelds oder Fernsehentzug. Gemeinsam mit den
       Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern regele ich zudem den Alltag der
       Jugendlichen in der JVA. Wir planen Weiterbildungen und Therapiemaßnahmen.
       Wir bereiten sie auch auf ihre Entlassung vor. Ich habe mich für die Arbeit
       im Gefängnis entschieden, weil ich versuchen möchte, das Leben der jungen
       Männer ein klein wenig besser zu machen.
       
       Seit Beginn meiner Tätigkeit in Adelsheim habe ich einige Geschichten
       erlebt, die der von Amin ähneln. Und ich frage mich: Was kann Jugendvollzug
       wirklich leisten? Ist es für uns überhaupt möglich, die jungen Menschen auf
       ein besseres Leben draußen vorzubereiten?
       
       Als ich an diesem Vormittag in die JVA komme, sehe ich schon den
       Polizeiwagen vor dem Tor. Die Frau in der Torwache begrüßt mich, und wie
       jeden Morgen teilt sie mir kurz mit, ob es Vorfälle in der Nacht gab. „In
       der Nacht nicht, aber Herr Rug ist wieder da“, sagt sie. Er komme in
       Untersuchungshaft. Ich blicke durch die abgedunkelte Scheibe der Torwache
       zum Polizeiwagen, kann Amin aber nicht sehen.
       
       Der dringende Tatverdacht, wegen dem Amin nun in Untersuchungshaft sitzt,
       so erfahre ich später von der zuständigen Sozialarbeiterin, lautet auf
       Hausfriedensbruch und versuchte Brandstiftung. In der Begründung des
       Haftbefehls heißt es hinsichtlich der Fluchtgefahr: „Der Beschuldigte hat
       im Inland keinen Lebensmittelpunkt und verfügt über keine sozialen
       Bindungen.“
       
       Der Polizeiwagen fährt durch das erste Tor, das sich langsam öffnet, und
       parkt in der Schleuse vor dem zweiten, gelben Tor. Die beiden Polizisten
       bringen Amin zunächst in die Sicherheits-, Transport- und Besuchsabteilung,
       kurz STB, direkt hinter dem zweiten Tor. Die Kollegen, die dort Dienst
       haben, kennen Amin schon, er bleibt nur kurz, wird durchsucht und dann von
       einem der Polizisten und einem Vollzugsbeamten in das Verwaltungsgebäude,
       den A-Bau, geführt. Der A-Bau ist ein provisorischer, mehrstöckiger
       Containerbau, die Errichtung eines neuen Verwaltungsgebäudes verzögert sich
       seit Jahren. In einem dieser Container im Erdgeschoss sitzt Amin einer Frau
       gegenüber, die seine persönlichen Daten erfragt, sie ins System einspeist
       und ihn belehrt – unter anderem darüber, dass er sich hier nicht tätowieren
       darf. Amin weiß schon Bescheid.
       
       Ich sitze zu dieser Zeit an meinem Schreibtisch, zwei Etagen über Amin. Ich
       blicke vom Stapel der Gefangenenanträge auf, und meine Augen folgen den
       Stimmen im Hof. Einige Insassen spielen Fußball. Ein Strafgefangener aus
       Mannheim schreit nach einem Tor: „Jungbusch!“, so heißt ein Bezirk in der
       Innenstadt dort. Hinter ihm streiten sich zwei junge Männer aus der
       gegnerischen Mannschaft. Sie sprechen Arabisch und zeigen mit ihren
       erhobenen Armen in entgegengesetzte Richtungen.
       
       Zwei Drittel der jungen Männer in Adelsheim haben einen
       Migrationshintergrund. Früher gab es hier viele Russlanddeutsche, die im
       Erwachsenenvollzug immer noch eine starke Gruppierung bilden. Ließen sich
       aus dem Jugendvollzug Vorhersagen treffen, dann werden die
       Russlanddeutschen in den Gefängnissen Baden-Württembergs künftig keine
       Rolle mehr spielen. Die gegenwärtige Gefangenenzusammensetzung zeigt ein
       heterogenes Bild ohne übermächtige Gruppierungen.
       
       Jedes Gefängnis hat seine Geschichten. Geschichten, die das Leben innerhalb
       der Mauern bis in die Gegenwart prägen. Für Adelsheim gehört zu diesen
       Geschichten die Schlägerei während des Hofgangs im August 2014. Hintergrund
       waren Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Gruppen von Gefangenen. Macht,
       das bedeutet in der JVA vor allem die Kontrolle des Schmuggels, die
       Verteilung der Einkäufe und der persönlichen Gegenstände. Wer Macht hat,
       kann über andere Gefangene bestimmen.
       
       In einem aussichtslosen Versuch, ihre Stellung in der Gefangenenhierarchie
       zu wahren, griffen russlanddeutsche Gefangene während des Hofgangs andere
       Gefangene an, die ihnen den Rang streitig machten. Während die Bediensteten
       versuchten, die Gefangenen auseinanderzubringen und die Gewalt einzudämmen,
       schlug der Angriff auf sie um. Einige Bedienstete wurden dabei verletzt.
       
       Insbesondere die Regelvollzugshäuser E2 und E3, also die Hafthäuser mit der
       geringsten Freiheit und Unterbringungsort der damals an der Schlägerei
       beteiligten Insassen, haben seither getrennten Hofgang. Im großen Hof
       befindet sich dafür nochmals ein kleinerer, umzäunter Hof. Die Gefangenen
       rücken zeitversetzt in diese Höfe ab. Das Sicherheitsdenken färbt nun
       stärker alltägliche Entscheidungen in Adelsheim, egal ob es um den Hofgang,
       häuserübergreifende Freizeitgruppen oder Kunstprojekte geht. Der
       Vertrauensverlust ist noch nicht überwunden. Die Gefangenen von damals sind
       hingegen schon lange weg.
       
       ## Handys, versteckt im Deoroller
       
       Während ich in den Hof blicke, sehe ich, wie auf einer der Hoflaternen um
       das große Fußballfeld ein Mäusebussard sitzt. Keine Seltenheit im Odenwald,
       viele Greifvögel kreisen über dem offenen Gelände der Anstalt. Sie jagen
       Feldmäuse und gelegentlich auch Ratten, die vor einigen Jahren hier eine
       Plage waren und Beamten bei ihrem nächtlichen Rundgang über die Füße
       liefen. Die Anhöhe, auf der sich das Gefängnis befindet, ist ruhig.
       Vormittags, wenn die jungen Gefangenen in den Werkbetrieben arbeiten oder
       zur Schule gehen, haben die Tiere freies Feld.
       
       Über die Sinnhaftigkeit der geografischen Lage der einzigen
       Jugendvollzuganstalt in Baden-Württemberg lässt sich streiten. Ruhig ist es
       hier, aber man braucht eine Stunde in größere Städte wie Stuttgart,
       Heidelberg oder Heilbronn. Werden Gefangenen Ausgänge gewährt, laufen sie
       den Hügel hinab und essen in Adelsheim ein Eis oder einen Döner. Das ist
       für den Anfang nicht schlecht. Einige der jungen Männer müssen sich an die
       Freiheit erst wieder gewöhnen. Bei einem Gruppenausgang nach Berlin habe
       ich das selbst sehen können. Junge Männer, die mit breiter Brust und
       lässigen Gesten ihr Reich im Gefängnishof ablaufen, werden in den Straßen
       Berlins ganz leise und sehr müde. Adelsheim ist überschaubar.
       
       Die Vorbereitung der Entlassung, wenn es um weiterführende Schulen,
       Ausbildungsplätze und Unterkünfte geht, wird durch die Lage allerdings
       schwerer. Auch der Kontakt zur Familie. Nach dem Gesetz dürfen junge
       Gefangene vier Stunden Besuch im Monat empfangen. Für die Angehörigen
       vieler Insassen stellt die Anreise ein ernsthaftes Problem dar. Mit den
       öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Anstalt außerhalb der näheren Umgebung
       nur durch viele Umstiege zu erreichen. Ohne Auto dauert es zudem eine gute
       Viertelstunde den Hang hinauf, bei allein anreisenden Großeltern deutlich
       länger. Oftmals beschränkt sich der Kontakt zur Familie auf Briefe und
       manchmal nur ein Telefonat im Monat. Briefe, die regelmäßig überwacht, und
       Telefonate, die mitgehört werden.
       
       Handys sind in der JVA verboten. Auch das könnte man als Erziehung
       betrachten – sich ohne Smartphone beschäftigen können. Bei vielen
       Raubdelikten der Jugendlichen ist Tatobjekt ein solches Smartphone. Nicht
       nur draußen, auch drinnen sind die Geräte begehrt, und es wird viel
       riskiert, um ein Handy in die Anstalt zu bringen: über Besucher oder
       Mauerwürfe, versteckt in Schuhsohlen und Spielekonsolen oder verpackt
       zwischen alten Brotscheiben. Ganz kleine Geräte werden auch mal in
       Deorollern eingebaut. Sicherheitsbeauftragte katalogisieren diese
       kreativen Versuche und schließen Sicherheitslücken.
       
       Amin hat bei seiner Einlieferung kein Handy bei sich. Er bleibt noch im
       Verwaltungsgebäude und wird den Flur entlang zur Zahlstelle gebracht, wo er
       sein mitgeführtes Geld abzugeben hat. Im Gefängnis dürfen die Insassen kein
       Bargeld haben, ihren Arbeitslohn verwaltet die Anstalt. Über die Hälfte des
       Arbeitslohns geht auf ein Überbrückungsgeldkonto. Dieses Geld bleibt
       grundsätzlich unangetastet bis zur Entlassung und dient als Startkapital in
       Freiheit. In Baden-Württemberg sind es maximal 2.019 Euro.
       
       Amin hat ein paar Euro in der Tasche, mehr nicht. Viel wird er auch in Haft
       nicht verdienen, er hält sich in keinem Betrieb lange. Die Gefangenen
       dürfen sich neben ihrem Verdienst einmal im Monat Geld von Angehörigen
       einzahlen lassen, grundsätzlich maximal 35 Euro, sogenanntes Sondergeld 1.
       Es ist ein Ersatz für die inzwischen aufgrund der Schmuggelgefahr
       verbotenen Pakete. Niemand wird Amin Geld schicken.
       
       Adelsheim hat 22 Werkbetriebe, in denen die Insassen arbeiten können.
       Besonders begehrt ist die Kfz-Werkstatt. Auch eine Schule gibt es, Haupt-
       und Realschulabschluss können gemacht werden. Für die mündliche
       Realschulabschlussprüfung müssen die Gefangenen die Anstalt verlassen.
       Begründet ihr Verhalten Vertrauen und sieht die Vollzugsleitung keine
       Flucht- oder Missbrauchsgefahr, können sie allein gehen; sie haben dann
       „Ausgang“. Ist ihr Verhalten schlecht und schenkt die Anstalt ihnen kein
       Vertrauen, können sie nur unter Sicherheitsvorkehrungen „ausgeführt“
       werden. Dies heißt ständige und unmittelbare Beaufsichtigung oder auch
       Fesselung.
       
       Amin kommt nun auf die Kammer, ein kellerartiger Raum im Erdgeschoss eines
       Hafthauses nahe des Tors. Die Kammer verwahrt die Habe der Gefangenen,
       persönliche Gegenstände, die sie nicht auf dem Haftraum haben dürfen, und
       vergibt die Anstaltskleidung. Amin ist Untersuchungsgefangener. Als solcher
       darf er im Gefängnis private Kleidung tragen. Amin hat aber nur die
       Kleidung bei sich, die er am Körper trägt. Er bekommt daher
       Anstaltskleidung. Anstaltskleidung – das sind in Adelsheim einheitlich
       blaue oder rote Sportanzüge aus Baumwolle, keine Marken, keine
       Besonderheiten, nur verwaschene Farbe.
       
       Begehrte Privatkleidung sind bei den Gefangenen Trainingsanzüge bekannter
       Marken. Für besondere Anlässe müssen die jungen Männer meistens
       Sonderbestellungen über den Gefangeneneinkauf tätigen. Neben
       Bewerbungsgesprächen kann ein solcher Anlass auch eine anstaltsinterne
       Hochzeit sein. Das ist möglich in Justizvollzugsanstalten. Das Leben der
       jungen Strafgefangenen in Haft soll vom Leben in Freiheit möglichst wenig
       abweichen. Das Gesetz nennt das „Angleichung an allgemeine
       Lebensverhältnisse“.
       
       Eine solche Hochzeit erlebe ich einige Wochen nach Amins Rückkehr. Das Paar
       sitzt nach der Trauung mit Eltern, Pfarrer und Seelsorger, Werkmeister, dem
       stellvertretenden Anstaltsleiter und mir am Tisch und isst Linzertorte aus
       der anstaltseigenen Bäckerei. Alkohol darf in der Jugendvollzugsanstalt
       nicht getrunken werden. Der junge Mann trägt ein grauschwarzes, etwas zu
       kurzes Hemd, darunter ein Kreuz aus Olivenholz, und eine schwarze Jeans. Er
       spricht kaum. Seine Frau, in silberfarbenem, kurzem Kleid, spricht gar
       nicht. Ich versuche Blickkontakt herzustellen, beide schauen jedoch auf die
       Teller vor ihnen. Ihnen ist diese Hochzeit in Unfreiheit und unter Fremden
       sichtlich unangenehm.
       
       Glücklich sieht der junge Gefangene trotzdem aus, er lächelt immer wieder
       abwesend. Als jemand aus der Runde in die Stille fragt, wie sie sich
       kennengelernt haben, antwortet erst keiner der beiden. Schließlich sagt der
       Bräutigam nur: „Im Club“, schließt die Augen und grinst. Zum Abschied
       übergibt er seiner Frau einen Blumenstrauß, den der Seelsorger für ihn
       besorgt hat, und küsst sie zaghaft auf die Wange.
       
       ## Im „Aquarium“ leben die „Fische“
       
       Beziehungsaufbau im Zwangskontext – einer der Widersprüche im Strafvollzug.
       Die jungen Männer hier brauchen Bezugspersonen, also Menschen, denen sie
       vertrauen und denen sie sich mitteilen. Eine solche Bezugsperson ist sogar
       gesetzlich vorgesehen. Das Gesetz kann hier aber nicht mehr als eine
       Erinnerung sein, Erinnerung daran, dass Resozialisierung das Ziel des
       Vollzugs ist und Resozialisierung Beziehungen braucht. Beziehungen, an
       denen es Amin mangelt.
       
       Es ist inzwischen Nachmittag. Eine hellgraue Wolkendecke überzieht den
       Himmel, es riecht nach Sommerregen. Ein Bediensteter läuft mit Amin über
       das Gelände. Bevor Amin auf seinen Haftraum gebracht wird, kommt er auf das
       Revier, die medizinische Versorgungsabteilung. Dort wird er untersucht. Es
       gibt keinen Befund, Amin kann auf seinen Haftraum.
       
       Ich gehe zur selben Zeit über den großen Hof, auf dem die Gefangenen gerade
       Hofgang haben, die gesetzlich garantierte tägliche eine Stunde. Manche
       joggen im Kreis und machen oberkörperfrei Liegestütze, andere spielen auf
       den Treppenstufen Karten. Ich sage zu ihnen: „Aber ohne Spielschulden.“
       Zwei sehen auf, lächeln, schauen wieder auf ihre Karten. „Geht klar, Chef.“
       Ich führe ein paar Gespräche, höre mir Beschwerden über das Essen an,
       während Amin schon im Hafthaus D angekommen ist.
       
       Im Hafthaus D wird die Untersuchungshaft vollzogen. Bei seiner letzten
       Inhaftierung war Amin in einem Hafthaus untergebracht, das von Gefangenen,
       die unter den jungen Männern etwas zu sagen haben, als „Aquarium“
       bezeichnet wird. In einem Aquarium leben Fische, und „Fisch“ nennen diese
       Insassen andere, die sie als schwach, als Opfer, als Verräter betrachten.
       Amin ist schmächtig, sein Gesicht hager und ungesund blass, seine Augen
       sind gerötet. Er hat schnell Probleme mit anderen Gefangenen, weil er
       ständig provoziert. Unterbringung in einer Einzelzelle, gesonderter Hofgang
       und der Ausschluss vom Kirchgang waren in der Vergangenheit die Folge.
       
       Wegen Suizidgefahr kam Amin auch schon in den besonders gesicherten
       Haftraum (kurz: bgH), einen Raum, der keine Ausstattung hat und die Gefahr
       von Selbstverletzungen minimieren soll – die Gefangenen nennen ihn
       „Bunker“. Der bgH ist nach der gesetzlichen Bestimmung keine Strafe,
       sondern Sicherungsmaßnahme. Findet sich jemand, der mit Amin den Haftraum
       teilt und den Amin seinerseits akzeptiert, kommt es zu dem, was hier
       „einfache Gemeinschaft“ heißt: Jemand, der sich selbst verletzen könnte,
       schläft nicht allein. Das ist das erste Mittel der Wahl in Gefängnissen
       gegen den Suizid.
       
       Mit Amin sind an diesem Tag andere junge Männer angekommen, die Zeit
       abzusitzen haben. Strafgefangene sind dabei von Untersuchungsgefangenen zu
       trennen, Letztere können nicht einfach wie Strafgefangene behandelt werden.
       Für Untersuchungsgefangene gilt die Unschuldsvermutung.
       
       Strafgefangene kommen zuerst in die Zugangsabteilung, den C-Bau.
       „Schlauch“, sagen die Insassen. Dort kommen alle neuen Gefangenen zusammen
       – mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten und Straftaten, Starke und
       Schwache. In Zeiten hoher Belegung bedeutet das ein Jonglieren mit
       Haftplätzen, um Sicherheit für jeden Insassen zu gewährleisten.
       
       ## Wer prügelt, kriegt „Nachschlag“
       
       Nach einer gewissen Zeit im Zugang wird ein Insasse einem der zehn
       Hafthäuser auf dem Gelände zugeteilt. Manche können direkt in ein Projekt
       des freien Vollzugs und verlassen Adelsheim schon wieder. Anderen traut man
       Freiheiten in der Haftanstalt zu, sogenannte Innenlockerungen: etwa freie
       Bewegung im Hafthaus und ein eigener Haftraumschlüssel. Manche brauchen
       psychologische Betreuung oder Schutz. Einige Sexual- und Gewaltstraftäter
       kommen, sofern ein Platz frei ist, in den F-Bau zur Sozialtherapie.
       
       Der Rest kommt erst einmal in die Hafthäuser des geschlossenen
       Regelvollzugs, E2 und E3. Dort landen viele Gefangene, die als „stark“
       bezeichnet werden, was hier vor allem bedeutet, sich mit Gewalt, psychisch
       oder körperlich, über andere Insassen zu stellen. Aus dieser Stärke
       entstehen Straftaten, meist wird bedroht, erpresst und geschlagen, die
       Anstalt zeigt die Taten an, und die Staatsanwaltschaft ermittelt. Das
       Ergebnis ist meist eine längere Haftzeit – „Nachschlag“, in der Sprache des
       Gefängnisses.
       
       Es hat nicht geregnet. Über die grünen Felder der JVA weht noch ein
       leichter Wind, zwischen den Hafthäusern sieht man die langsamen Bewegungen
       des Grases. Es dämmert, als Amin seinen Haftraum bezieht. Der Beamte im
       Haus belehrt ihn über die Hausordnung. Die wichtigsten Dinge, wie den
       Tagesablauf, den Einkauf zweimal im Monat und die Disziplinierung wegen
       Regelverstößen, kennt Amin sowieso schon.
       
       Würde Amin aus seinem Haftfenster nach draußen schauen, könnte er sehen,
       wie einige Insassen aus verschiedenen Häusern Richtung Anstaltsküche
       laufen. Um 18 Uhr findet heute im Speisesaal der Gefängniskantine ein
       Rap-Contest unter den Insassen statt. Einige Mitarbeiterinnen und
       Mitarbeiter der JVA sind als Zuschauer da, ich sitze in der Jury. Die
       Gefangenen sind aufgeregt und rauchen draußen noch einmal, bevor es
       losgeht.
       
       Es sind Gefangene aus fast allen Hafthäusern. Starke und Schwache. Aber an
       diesem Abend spielt die Hierarchie unter den Gefangenen keine Rolle. Als
       ein Rapper aus dem Q-Bau seinen Auftritt zweimal abbrechen muss, weil er
       den Text vergisst, rufen ihm zwei kräftige Jungs zu: „Mach weiter, bleib
       cool, beim dritten Mal klappt’s!“ Es klappt beim dritten Mal.
       
       Der Gefangene, der den Contest gewinnt, gehört zum Hafthaus E3,
       geschlossener Vollzug, er ist einer von den Starken. Er trägt eine
       hellblaue Jeans und ein weißes, lockeres T-Shirt, hat kurze Haare und einen
       feinen Schnauzbart. Unter den Gefangenen ist er beliebt, er lacht viel und
       umschlingt seine Freunde im Hof, wenn er Geschichten erzählt. An diesem
       Abend rappt und singt er über seine Mutter.
       
       Verzeih mir für die Termine beim Polizeiinspektor 
       
       Und die vielen Anrufe vom Direktor, 
       
       du sagtest, irgendwann werden sie mich in die Zelle schließen, 
       
       und jetzt spüre ich wie deine Tränen fließen … 
       
       Was ich in dem Song erzähl, fällt mir kein bisschen leicht. 
       
       Doch ich hoffe zumindest, dass es dich mal erreicht... 
       
       Ich hab’s versucht, alle meine Fehler zu beheben,
       
       doch ein Happy End kann es nicht in jedem Leben geben … 
       
       Am Ende der Veranstaltung rappen die Jungs noch ein wenig untereinander und
       reichen sich gegenseitig das Mikrofon, bevor sie wieder auf ihre jeweiligen
       Hafthäuser gehen.
       
       Amins Geschichte veranschaulicht auch das Problem, das Kriminologen als
       „Intervention nur am Individuum“ bezeichnen. Der Vollzug kommt am Ende
       einer Reihe von Interventionen. Interventionen, die bereits viel Zeit und
       Geld gekostet haben, etwa die Unterbringung im Jugendheim. Nichts half. Und
       nun soll es der Vollzug richten. Damit kämpft der Strafvollzug gegen die
       ganze Lebensgeschichte eines jungen Mannes. Teil dieser Aufgabe sind in
       Adelsheim insbesondere der Sozialdienst und der psychologische Dienst,
       Lehrerinnen und Lehrer und die Frauen und Männer des Vollzugsdienstes und
       des Werkdienstes. Insbesondere Hafthaus und Arbeitsbetrieb versuchen
       aufzufangen, was Eltern und Gesellschaft nicht schaffen. Sie nehmen sich
       der täglichen Grundbedürfnisse der jungen Männer an, vom Pflaster über die
       zusätzliche Rolle Klopapier bis hin zu Essen, Kleidung und Duschgang. Sie
       gehen dazwischen, wenn geprügelt wird. Sie hören zu, ermahnen, streiten,
       helfen, erziehen, geben Rat. Sie sind da, täglich, Stunde um Stunde. Und
       dieses Da-Sein, wenn Respekt und Menschlichkeit hinzukommen, ist vielleicht
       die größte Chance des Vollzugs.
       
       Aber zu dieser Lebensgeschichte eines Straftäters gehört eben auch sein
       soziales Umfeld. Und diese Welt berührt der Vollzug nicht, kann sie nicht
       berühren. Das ist Gesellschaft, nicht Verwaltung. Bei Gewaltstraftätern
       kann man beispielsweise eine Gruppe festmachen, die Gewalt maßgeblich
       deshalb ausübt, weil es ihre Peergroup tut. Sie laufen mit. In diese Welt
       kehren viele junge Männer zurück. „Intervention nur am Individuum“, das
       heißt: Der Vollzug kann mit dem jeweiligen Jugendstrafgefangenen arbeiten,
       aber innerhalb der Mauern seiner künstlichen Welt liegen auch seine
       Grenzen.
       
       Es gibt Statistiken, nach denen die Rückfallquote unabhängig ist von der
       Form des Vollzugs. Anders gesagt: Egal ob geschlossener, gelockerter oder
       gar freier Vollzug, jeweils die Hälfte der Gefangenen kehrt zurück ins
       Gefängnis.
       
       Was aber ist der Sinn daran, dass Amin in Haft sitzt? Manche werden sagen:
       die Sicherheit der Allgemeinheit. Eine vorübergehende, trügerische
       Sicherheit, die einen jungen Menschen zu oft entlässt, wie sie ihn
       aufgenommen hat, wenn nicht in schlimmerem Zustand – und in der Freiheit
       steht er wieder allein vor seinen Problemen.
       
       Die Sonne geht unter über dem Gelände der Justizvollzugsanstalt. Die
       Hofgänge sind beendet, die jungen Männer auf ihren Hafträumen. Es ist
       ungewöhnlich still an diesem Abend. Der Mäusebussard kreist in der
       Dämmerung über der Anstalt, als ich den A-Bau verlasse.
       
       Einige Zeit nach seiner Rückkehr spreche ich Amin auf seinem Haftraum, weil
       er Inventar beschädigt hat. Ich klopfe an und öffne seine Tür. Ich trete
       einen Schritt in den Raum, und Amin kommt mit breitbeinigem Schritt auf
       mich zu, die Hände in den Taschen der dunklen Jogginghose. „Was gibt’s?“
       Die Haltung ist konfrontativ, aber auch bemüht lässig; er wirft den Kopf
       etwas nach hinten und reckt das Kinn. Er rechnet mit einer
       disziplinierenden Maßnahme und sein Ausdruck soll zeigen: Das juckt mich
       nicht.
       
       Die Wand in seinem Haftraum hängt voller Bilder. Neben den Ausrissen von
       Playmates sehe ich auch mit Bleistift gezeichnete Bilder. Ich frage ihn
       danach. Er stockt in seinem Auftritt und überlegt. Ich sehe mir die Bilder
       weiter an, der Stil erinnert mich an Mangas, die Kleidung der Figuren hat
       zahlreiche feine Details. Langsam antwortet er, nun leiser, die Schultern
       sacken etwas ab, und er sagt, dass er das eben gern mache, ein Hobby. Etwas
       weiter oben hängt das Bild eines alten Mannes auf einem Stein vor einer
       Wiese. Ich frage ihn, ob er mir sage, wer der Mann sei, der so ruhig und
       stolz auf dem Stein sitze. Sein Großvater. Er lebe nicht mehr, aber er
       könne sich noch aus frühen Kindheitstagen an ihn erinnern. Er sei mit ihm
       viel draußen gewesen, aber dann krank geworden. Wir reden am Ende noch kurz
       über die Disziplinarmaßnahme. „Okay“, sagt Amin nur.
       
       Amin hat eine Justiz- und Vollzugsgeschichte. Eine Geschichte auf dem
       Papier vieler Behörden. Der Junge, der mir seine Haftraumwand erklärt,
       erzählt mir eine andere, eine leisere Geschichte. Es ist ein Flüstern, ich
       sage nicht eine Hoffnung, aber etwas, dem man lauschen kann.
       
       26 Dec 2020
       
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