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       # taz.de -- Weihnachten in der Pandemie: Unser erstes Weihnachten
       
       > Weihnachten ist eine Herausforderung. Warum man in Berlin trotz
       > Kontaktbeschränkungen weniger einsam ist als anderswo, und was eine
       > Psychologin rät.
       
   IMG Bild: Aus der Serie „Der 24.12.“ von Gabriele Kahnert. Der Film „Aschenbrödel“ ist natürlich auch Kunst
       
       Berlin taz | Corona, das ist oft gesagt worden im zurückliegenden Jahr,
       lasse manche Dinge gleichsam wie unter einem Brennglas mit neuer Schärfe
       sichtbar werden. Wie ungleich Chancen und Möglichkeiten verteilt sind, zum
       Beispiel. Wer arm ist, ist nach einem Jahr Corona nicht selten noch ärmer
       dran – ob das der [1][prekäre Kunstschaffende] ist, der durch die Raster
       der Hilfsprogramme fällt oder das Kind [2][ohne Schreibtisch im
       Homeschooling]. Die Pandemie stellt die Frage nach den persönlichen
       Ressourcen, die eine jede und ein jeder von uns hat. Und das gilt gerade
       auch zu Weihnachten.
       
       Das ist gar nicht mal unbedingt so gemeint, dass die einen sich dieses Jahr
       zu Weihnachten noch die teure Uhr schenken können, weil der Job sicher ist
       und bleibt und die anderen sich dieses Jahr lieber bloß zum Schrottwichteln
       auf Zoom verabreden. Weihnachten in der Pandemie legt, als sogenanntes
       Familienfest, gnadenlos offen, wer hat – also eine Familie, und wer eben
       nicht. Und wie es um diese Familie bestellt ist.
       
       Denn es ist ja längst nicht mehr so, dass da wie zu Aschenbrödels Zeiten
       die traditionelle „Kernfamilie“ unterm Tannenbaum beisammen sitzt,
       Geschenke auspackt, streitet und gemeinsam Kartoffelsalat isst. Familie
       kann queer sein, oder sich spontan auf der Tanzfläche eines Clubs
       verbrüdern, oder im Vereinshaus sitzen oder im Kirchenkreis. Familie ist
       jedenfalls nicht unbedingt miteinander verwandt.
       
       Das Berliner Infektionsschutzgesetz ist dabei durchaus bemerkenswert an
       diesen Lebensrealitäten orientiert: „Für den Zeitraum vom 24. Dezember bis
       zum Ablauf des 26. Dezember 2020 sind private Veranstaltungen nur im Kreise
       von Ehe- oder Lebenspartnerinnen und -partnern, Angehörigen des eigenen
       Haushalts oder mit Angehörigen von bis zu vier weiteren Haushalten
       gestattet“, ist dort formuliert. Maximal fünf Menschen dürfen es werden
       unterm Tannenbaum, plus Kinder bis 14 Jahre.
       
       Explizit nicht drin steht in der Berliner Verordnung, was etwa in
       Nordrhein-Westfalen und Bayern festgehalten ist: Dort ist das
       „Zusammentreffen“ mit weiteren Hausständen nämlich auf „zum engsten
       Familienkreis gehörende Personen“ beschränkt, und der ist definiert als
       „Verwandte in gerader Linie“. In der Realität mag die Kernfamilie ein
       überholtes Konstrukt sein, politisch wird sie bevorteilt – auch in der
       Pandemie. Nur in Berlin ist man, zum Glück, im Zweifel etwas weniger
       einsam.
       
       Aber noch auf einer anderen Ebene stellt diese Pandemie die
       Ressourcenfrage. „Weihnachten ist ohne Frage immer auch ein emotionaler
       Höhepunkt, an dem zwischenmenschliche Konflikte tendenziell zunehmen“, sagt
       Ulrike Lüken, Diplompsychologin und Psychotherapeutin an der
       Humboldt-Universität und dort stellvertretende Leiterin der
       Hochschulambulanz für Psychotherapie und Psychodiagnostik. Mit KollegInnen
       hat sie ein Onlineberatungsprogramm für Menschen aufgebaut, die in der
       Pandemie verstärkt unter Stresssymptomen leiden – Schlaflosigkeit,
       Depressionen, Gedankenkreisen. Rund 700 Menschen hätten sich seit September
       bereits an die Anlaufstelle gewandt, sagt Lüken.
       
       Gerade dieses Pandemiejahr berge ein erhöhtes Konfliktpotenzial, die
       Gesellschaft sei inzwischen stark polarisiert bei dem Thema und das werde
       natürlich auch in die Familien getragen: „Die Frage, wie man es mit dem
       Masketragen und den Kontaktbeschränkungen hält, daraus können sich Streits
       entwickeln, die sehr erbittert geführt werden.“
       
       ## Häusliche Gewalt hat zugenommen
       
       Erbittert, und nicht selten auch verletzend: [3][Häusliche Gewalt gegenüber
       Kinder und Frauen] haben in der Pandemie zugenommen. Laut einer Antwort der
       Senatsverwaltung für Gesundheit auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten
       Benedikt Lux registrierte die Polizei bis zum 30. November 14.051 Fälle von
       häuslicher Gewalt – 2,6 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Das Gros der
       gemeldeten Vorfälle machte Gewalt gegen Frauen aus: 9.255 Meldungen, ein
       Plus von 1,6 Prozent.
       
       Andere Stellen wie die Gewaltschutzambulanz der Charité berichteten
       bereits im Juni von einem Anstieg von 30 Prozent der registrierten
       häuslichen Gewaltvorfälle im Vergleich zum Vorjahresmonat. Die
       (angezeigten) Fälle von Kindesmisshandlungen seien im ersten Halbjahr 2020
       um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. ExpertInnen warnen zudem
       alle Jahre wieder, dass an Feiertagen das Risiko für häusliche Gewalt – die
       Enge, der Alkohol, alte und neue Konflikte – zunehmen. Insofern ist
       Weihnachten dieses Jahr für viele Menschen doppelt gefährlich.
       
       Lüken sagt, es sei wichtig, „Weihnachten möglichst nicht zu überhöhen“. Die
       Frage sei doch: „Sind wir in der Lage, flexible Lösungen finden zu wollen?“
       Man könne das Weihnachtsfest vielleicht einfach als Familienfest im Sommer
       nachholen, oder es auch als schlicht entlastend empfinden, dass mit dem
       abgesagten Familientreffen vielleicht ein Stück weit Termin- und
       Shoppingdruck wegfalle. Das sei dieses Jahr eine „Chance“, sich zu
       überlegen: „Was brauchen wir wirklich?“
       
       Allerdings muss man das eben auch erst mal klar sagen können, möglichst
       ohne persönliche Verletzungen zu hinterlassen. Die Psychotherapeutin rät
       „zum ehrlichen Kommunizieren“ der gegenseitigen Bedürfnisse. In der
       Beratung erlebe sie die Menschen dann „eher entlastet, wenn zum Beispiel
       Missverständnisse über die Bedürfnisse der anderen geklärt werden können“.
       
       Das klingt einleuchtend – und ist in der Praxis vermutlich viel schwieriger
       umzusetzen als es theoretisch klingt.
       
       24 Dec 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
       
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