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       # taz.de -- Geflüchtete auf Lesbos: Ständiger Ausnahmezustand
       
       > 2020 verschärfte sich die Lage Geflüchteter am Rand Europas. Unsere
       > Autorin berichtet regelmäßig von Lesbos. Hier blickt sie auf das Jahr
       > zurück.
       
   IMG Bild: In der Nacht vom 9. September brannte das Lager Moria auf Lesbos ab
       
       Blechern schallt „Frosty The Snowman“ aus den Lautsprechern an der
       Hafenpromenade. Auf dem Schiff der griechischen Marine rauchen Männer in
       Uniformen. Inselbewohner:innen stehen vor den Gemüsegeschäften an. Es ist
       Freitagmorgen in Mytilini auf der Insel Lesbos. Die Sonne scheint. Zusammen
       mit einem Freund laufe ich zum Industriehafen. Wir blinzeln gegen die
       Wintersonne an. Am Morgen erreichte uns die Nachricht von einem Schiffbruch
       vor der Insel. Noch immer werden drei Menschen vermisst.
       
       Das letzte Mal sah ich im März Menschen aus den Booten steigen. Immer
       wieder wurden Journalist:innen in den vergangenen Monaten auf der Insel
       kurzzeitig verhaftet, bedrängt oder eingeschüchtert, wenn sie bei einer
       Ankunft von Geflüchteten anwesend waren. Sie sollen nicht Zeugen
       [1][illegaler Pushbacks] werden. In diesem Jahr erreichten 9.600 Menschen
       in Schlauchbooten Griechenland. 50.000 weniger als im Jahr zuvor.
       
       Lesbos wurde vor zwei Jahren zu meinem Zuhause. Schon zu diesem Zeitpunkt
       war die Insel im Ausnahmezustand, doch es wurde nicht mehr viel darüber
       berichtet. Das Flüchtlingscamp Moria war ein Ort der Gefahr, in dem Exzesse
       der Gewalt durch die Isolation immer weiter befördert wurden. Schon damals
       wurden Menschen beim Warten auf ihr Asylverfahren traumatischen Bedingungen
       ausgesetzt. Europa verschloss die Augen vor den eigenen Rechtsnormen wie
       Schutzverantwortung und Rechtsstaatlichkeit. Ich wollte die politischen
       Zusammenhänge verstehen und blieb.
       
       [2][Seit Moria im September niedergebrannt ist], hat sich die psychische
       Gesundheit vieler Campbewohner:innen im neuen Lager laut Ärzte ohne
       Grenzen dramatisch verschlechtert. Immer mehr Eltern berichten, dass ihre
       Kinder nachts schlafwandeln, Panikattacken haben oder schreien, ohne
       aufzuwachen.
       
       Schon vor dem Brand seien die Ärzte und Krankenschwestern im Krankenhaus
       von Lesbos nicht darauf vorbereitet gewesen, Folteropfer oder Menschen mit
       posttraumatischer Belastungsstörung zu betreuen. „Spätestens nach einer
       Woche haben Menschen hier mit Bildern zu kämpfen, die sie ein Leben lang
       verfolgen“, erzählte mir die somalische Krankenschwester Yasmin A., die
       selbst knapp zwei Jahre lang in dem Lager lebte. „Jeden Tag ein neues Bild,
       das man im Sand verwischen möchte, doch der Strand bleibt unerreichbar.“
       
       Für die Menschen auf Lesbos hörte der Ausnahmezustand nie auf, auch nicht
       in diesem Winter. Doch fangen wir von vorn an.
       
       Im Januar 2020 fangen immer mehr Campbewohner:innen an, gegen die
       Unterversorgung in Moria zu demonstrieren. Sie laufen mit ihren Kindern auf
       den Schultern in die Hafenstadt, fordern „Freiheit“ auf abgeschnittenen
       Pappkartons. Die Demo wird mit Tränengas zurückgedrängt.
       
       ## Rechte bewaffnen sich mit Steinen
       
       [3][Im Februar bewaffnen sich rechtsradikale Gruppierungen mit Ketten und
       Steinen, patrouillieren in den Straßen, schlagen auf Mietautos ein, die
       vermeintlich internationalen Helfern gehören.] Der Gewalt folgen
       Demonstrationen der Inselbevölkerung, die sich gegen den Plan der
       griechischen Regierung, eine neue „geschlossene Campstruktur“ im Hinterland
       der Insel zu errichten, stemmen.
       
       Als die Türkei ankündigt, die Grenzen zu öffnen, werden Ärztinnen aus ihren
       Wagen gezogen. Immer wieder berichten Geflüchtete in den Lagern von
       gewalttätigen Übergriffen auf dem Weg zum Supermarkt oder Fußballplatz. An
       einem Sonntag steht das Transitlager des Flüchtlingshilfswerks UNHCR in
       Flammen. Humanitäre Hilfsorganisationen schicken ihre Mitarbeiter:innen aus
       Sicherheitsgründen auf das Festland. Meine Freunde, die in diesen Wochen
       gehen mussten, sind großteils nicht mehr auf die Insel zurückgekehrt.
       
       Als Reaktion auf die Ankündigung der Türkei setzt Griechenland Ende Februar
       das Recht auf Asyl aus. Bis Mitte April können Asylsuchende nicht befragt
       werden und bekommen keine Entscheidungen über ihren Asylstatus.
       EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen fliegt im Hubschrauber über die
       Insel, dankt der griechischen Regierung, das „Schild“ Europas zu sein, und
       sichert weitere 700 Millionen Euro Finanzhilfe zu.
       
       Eine ältere Afghanin, die ich seit einem Jahr begleite, sagt mir Mitte März
       am Telefon, „alles ist so still geworden“. Sie konnte die Nacht über nicht
       schlafen. Ihr Container sei voller Rauch. Ich bin da gerade auf dem Weg
       nach Deutschland und lese noch am Flughafen, dass ein Kabelbrand ein
       sechsjähriges Mädchen tötete. Tausende Menschen flohen aus den
       Unterkünften. Währenddessen kündigt die Bundesregierung an, die humanitäre
       Aufnahme von Geflüchteten aus dem Ausland wegen Corona „bis auf Weiteres“
       zu stoppen.
       
       Vier Tage später dürfen die 14.000 Campbewohner:innen das alte
       Militärgelände von Moria nur noch mit Ausnahmegenehmigung verlassen. Die
       Ausgangssperre hat schon vor dem Eintreffen des Coronavirus im Lager Anfang
       September verheerende Folgen: Nur die Polizei kann jetzt einen Krankenwagen
       für eine Behandlung rufen. Krankheiten wie Tuberkulose oder HIV kann das
       lokale Gesundheitssystem gar nicht stemmen. „Es wird Zeit, persönlich zu
       werden“, sagt mir Yasmin in dieser Zeit.
       
       Sie sitzt dabei in einem gelben Kleid vor dem Campeingang in der Sonne.
       Ein Freund von ihr war am Tag zuvor mit 30 Jahren an einer Herzkrankheit
       gestorben. Tagelang sei er nicht von der Polizei zur Behandlung ins
       Krankenhaus überwiesen worden. Es sind nicht die lauten Tage, die bleiben,
       es sind immer die leisen. „Die Tage danach“, sagt Yasmin.
       
       Anfang Juni teilt der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis mit,
       dass die Asylbehörden seit Januar 11.000 negative Asylbescheide ausgestellt
       hätten, um Deportationen zu beschleunigen und die Insellager zu entlasten.
       Im selben Zug bekommen Hunderte Familien binnen weniger Tage im Juli einen
       roten Stempel in den Ausweis gedrückt, der sie als „Flüchtling“ anerkennt.
       Ganz gleich ob Anerkennung oder Ablehnung: beide Gruppen dürfen nur 30 Tage
       in den Camps bleiben. Ihnen wird die monatliche Unterstützung von etwa 90
       Euro entzogen.
       
       Hunderte Menschen packen in diesen Wochen ihre Habseligkeiten in
       Plastiktüten und laufen zum Hafen von Mytilini, um nach Athen überzusetzen.
       Die Hoffnung der Geflüchteten: raus aus Moria, irgendwie wird es auf dem
       Festland schon weitergehen. Eine von ihnen ist die 20-jährige Bara aus dem
       syrischen Idlib. Wir stehen zusammen an der Reling und sehen die Hafenstadt
       in der Gischt verschwinden. „Kann ich dich etwas fragen?“, sagt sie. „Meine
       Freunde sagten mir, ich solle das Kopftuch ausziehen, da ich jetzt in
       Europa bin. Stimmt das? Ich habe das Gefühl, dass ich Europa noch gar nicht
       gesehen habe.“
       
       Die Hoffnung der griechischen Regierung in dieser Zeit: Die Schutzsuchenden
       werden Wege finden, in andere EU-Länder zu reisen, statt in Athen auf der
       Straße zu leben. Ein Weg ist es, Reisepapiere zu beantragen, mit denen sie
       sich als anerkannte Geflüchtete 90 Tage in anderen Schengenstaaten
       aufhalten können. Die Realität: Die meisten landen in Griechenland in der
       Obdachlosigkeit. Immer mehr Familien berichten in Moria, dass Freunde sie
       anriefen, ob es möglich sei, zurück nach Moria zu gehen. Dort hätten sie
       zumindest etwas zu essen bekommen.
       
       [4][Am 2. September wird der erste Fall von Corona im Lager bekannt.]
       Sicherheitskräfte riegeln die Menschen fortan komplett ab.
       
       Eine Woche später brennt das Lager Moria dann bis auf die Grundfesten ab.
       13.000 Menschen sind abermals auf der Flucht. Neun Tage lang müssen sie
       sich in den Feldern wegducken, um ihre Notdurft zu verrichten. Mütter
       waschen ihre Kinder an einem Wasserhahn an einer geschlossenen Tankstelle.
       Auf Demonstrationen der Vertriebenen antwortet die Polizei mit Tränengas.
       Humanitäre Helfer:innen werden nur willkürlich durchgelassen.
       
       Eine junge Frau aus Afghanistan steht drei Tage hintereinander auf einem
       Abrisshaus neben der Straße und hält ein Schild in die Luft: „Es ist
       besser, für die Freiheit zu sterben, als das ganze Leben im Gefängnis zu
       sein.“
       
       Ein neues temporäres Lager wird innerhalb weniger Stunden auf einem
       Militärübungsplatz errichtet, direkt neben dem Ort, an dem die Menschen
       neun Tage lang nach dem Brand von der Polizei eingekesselt wurden. Die
       Menschen berichten von der Panik, abermals in eine isolierte „Struktur“ zu
       kommen. Polizist:innen verteilen Zettel, auf denen steht, „im neuen Camp
       wird es genug Essen, Wasser, Elektrizität und Wi-Fi geben“.
       
       Heute, vier Monate nach dem Brand, hausen 7.300 Menschen noch immer in
       Zelten, im Regen, am Meer. Ohne durchgängige Elektrizität, viele ohne
       einmal heiß geduscht zu haben seit dem Feuer.
       
       „Wir Migranten sind die Fenster, durch die die Einheimischen die Welt sehen
       können“, schrieb der Medientheoretiker Villem Flusser, der 1940 vor den
       Nationalsozialisten von Prag nach London geflohen war. „Die Heimat des
       Heimatlosen ist der Andere.“
       
       Doch was passiert, wenn „der Andere“ überhaupt nicht mehr zu sehen ist?
       Wenn es immer weniger Schnittstellen der Begegnung zwischen Fliehenden und
       Einheimischen gibt? Wenn die Ränder der Peripherie immer breiter werden?
       
       Zwanzig Minuten lang holpere ich einen Tag nach dem Schiffsunglück im
       Dezember die Schotterpiste zu einer Mülldeponie hinauf. Hier soll bis
       September 2021 ein neues permanentes Lager entstehen. Bis zum nächsten
       Supermarkt sind es zwei Stunden zu Fuß. Die Ein- und Ausgänge sollen streng
       bewacht werden.
       
       Auf dem Handy eine neue Nachricht von einem Freund: Zwei Menschen wurden
       nach dem Bootsunglück lebend geborgen. Eine Frau ist bei dem Versuch
       gestorben, in Europa Sicherheit zu finden.
       
       24 Dec 2020
       
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