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       # taz.de -- Comic „Altglas Tagtraum Blaues Huhn“: Schatz in der Schublade
       
       > Torben Siebert hat einen wunderbaren Comic gezeichnet, den vielleicht nie
       > jemand lesen wird. Das liegt auch am fehlenden Nachwuchskonzept der
       > Branche.
       
   IMG Bild: Wer hier blättert, schreibt die Geschichte mit: Torben Sieberts „Altglas Tagtraum Blaues Huhn“
       
       Eine Fliege im Zimmer kann nerven, ganz besonders, wenn sie zwischendurch
       von der Bildfläche verschwindet, um dann plötzlich wieder loszulegen. Das
       kann sehr belastend sein, klar, aber gibt sie darum auch eine spannende
       Geschichte ab? In diesem Comic erstaunlicherweise schon, oder besser
       gesagt: in diesen 759.375 Comics, in denen die Fliege gar nicht immer
       vorkommt – bis sie dann eben doch plötzlich wieder loslegt.
       
       „Altglas Tagtraum Blaues Huhn“ ist Torben Sieberts Abschlussarbeit an der
       Hochschule Hannover. Dort hat er [1][Visuelle Kommunikation bei Ulli Lust
       studiert], die jede:r kennt, der oder die sich für zeitgenössische Comics
       interessiert. Und so einer ist Sieberts Band dann auch, obwohl er erst mal
       nicht so aussieht. Es ist ein Ringbuch, die Seiten gleichmäßig in fünf
       Streifen geschnitten, die sich unabhängig voneinander blättern und so immer
       wieder neu kombinieren lassen. Daher rührt auch die absurd hohe Zahl, die
       der Künstler verspricht: Es stecken 759.375 potenzielle einseitige Strips
       in dem Buch.
       
       Erschienen ist der Band noch nicht. Man kann ihn bislang höchstens beim
       Künstler erwerben zu einem Preis, der seine Schneid-, Sortier- und
       Bindearbeit berücksichtigt und auch die Druckkosten in Kleinstauflage – der
       also schlichtweg auch beim besten Willen nicht zu bezahlen ist. Den
       gründlichen Blick wert ist er trotzdem, oder auch gerade deshalb. Weil
       Torben Siebert bei Weitem nicht der einzige Nachwuchskünstler ist, der
       solch sperrige Schätze in der Schublade hat.
       
       Wer sich in der Szene bewegt, kennt sie von Ausstellungen der
       Abschlussjahrgänge, von Conventions oder aus der stets erbaulichen, aber
       auch ein bisschen tragischen Abteilung der Nachwuchskünstler etwa beim
       Comic-Salon Erlangen – einer Veranstaltung übrigens, die mit ihrem [2][Max-
       und-Moritz-Preis] (dem wichtigsten im deutschsprachigen Raum) immerhin eine
       eigene Sparte für die beste studentische Publikation unterhält.
       
       Aber eben: Publikation. Und Veröffentlichen ist schwierig für
       Künstlerinnen, die es ernst meinen mit der Materialität ihres Mediums, die
       mit Sonderformaten experimentieren oder ihre Arbeiten wie eben Torben
       Siebert in Stücke hacken, die sich so ohne Weiteres nicht wegdrucken
       lassen.
       
       ## Ein Problem der Branche
       
       Man könnte das abtun als persönliches Pech – oder es aber ernst nehmen als
       das Problem einer Branche, deren inzwischen hochkarätige Ausbildungsstätten
       solche Extravaganzen entschieden einfordern. Denn viel von dem, was an den
       Kunsthochschulen in Hannover, [3][Hamburg], [4][Kassel] oder sonstwo zu
       recht abgefeiert wird, bewegt sich genau in dieser diffusen Schnittmenge
       von Malerei und Illustration, von Comic und Kunsthandwerk.
       
       Aber zurück zu Torben Siebert und seiner unveröffentlichten Fliege: Die
       zufällig kombinierten Bilder erzählen erstaunlich zuverlässig schlüssige
       Geschichten. Sie etablieren im ersten Bild ein Setting: In der S-Bahn, am
       Schreibtisch, auf der Straße … Im nächsten Bild passiert was, dann schwenkt
       der Blick auf ein Detail, es folgt eine Bewegung und schließlich der meist
       offene Ausklang. Das funktioniert fast immer – natürlich auch, weil der
       oder die Leser:in das so will.
       
       Sieberts literarisches Vorbild sind [5][Raymond Queneaus „Hunderttausend
       Milliarden Gedichte“] von 1961, in denen man sich aus 14 austauschbaren
       Zeilen ein Sonett zusammenstückeln konnte. Von einer Maschine zur
       Herstellung von Kunst hatte Queneau damals gesprochen; eine Provokation,
       die in Zeiten von Netflix’ Drehbuch-Algorithmus niemanden mehr schocken
       dürfte.
       
       Nur ging es dem Dichter, anders als der Kulturindustrie, nicht um möglichst
       zielgruppengerechte Abendunterhaltung, sondern um ein ergebnisoffenes Spiel
       mit der Form. Darum waren es auch ausgerechnet Sonette, die gerade ihrer
       formalen Strenge wegen dazu einladen.
       
       Torben Siebert arbeitet nun zwar zeichnerisch, aber doch ganz ähnlich: „Ich
       habe mir Regeln gesetzt“, sagt er und räumt direkt ein, dass seine
       Geschichtenblöcke für sich genommen ziemlich schematisch daherkommen. Weil
       sie eben mustergültig abarbeiten, wie visuelles Erzählen so funktioniert,
       vom Aufbau der Geschichten her, aber auch in der Komposition der einzelnen
       Zeichnungen und ihrer Sichtachsen. Ein mögliches Schlussbild zeigt etwa
       einen Menschen vor weißem Hintergrund, der vom rechten Bildrand nach links
       oben guckt – und in der Zeile drüber dann auch zuverlässig etwas findet.
       
       Im ersten Schritt ist das eine eher dröge Forschungsarbeit: Woraus
       entstehen Szenen? Wie bricht man sie auf? Und wie geht eigentlich Action?
       Das klingt nach einem reproduzierenden Gesellenstück – aber nur, bis man
       anfängt, es wirklich zu lesen. Tatsächlich schlummert nämlich eine enorme
       Spannung zwischen der starren Form und ihren zufälligen Arrangements. Dort
       also, wo der Künstler selbst abtritt.
       
       „Es sind Tausende Geschichten in meinem Buch“, sagt Siebert, „und ich kenne
       nicht mal die Hälfte davon.“ Die Verantwortung liegt nun bei der
       Leser:innenschaft, die dadurch zwangsläufig unruhig werden muss. An wem
       liegt es nun, wenn eine Geschichte mal nicht funktioniert? Ist es am Ende
       meine Schuld, weil ich sie nicht kapiere? Und was ist, wenn ich nun den
       zweiten oder dritten Streifen austausche?
       
       Wie beiläufig lässt einen „Altglas Tagtraum Blaues Huhn“ die eigenen
       Ansprüche an Erzählungen reflektieren. Ob es nun um ein Unbehagen beim
       ausbleibenden Happy End geht oder um den nagenden (weil uneinlösbaren)
       Anspruch, auch wirklich alles mitzukriegen. Das Buch hat eine
       Flatterhaftigkeit, die der heute nicht nur bei Netflix publikumsgerechten
       Schreiberei unversöhnlich entgegensteht. Und es karikiert die krampfhafte
       Suche nach Bedeutung. Denn natürlich lässt sich der zweihundertste Auftritt
       dieser Fliege interpretieren – nur hat das eben nichts mit dem zu tun, was
       der Künstler uns damit sagen will.
       
       ## Es fehlen die Plattformen
       
       Torben Siebert knüpft hier nicht nur an die inzwischen etwas in die Jahre
       gekommene Rede vom Tod des Autors an, sondern führt auch höchst elegant
       vor, was die Gattung Comic im Kern ausmacht. In seinem Standardwerk
       „Understanding Comics“ erklärt der Künstler Scott McCloud das Comic als ein
       Lesen zwischen den Panels: wenn das Leser:innengehirn zunächst unabhängige
       Einzelbilder in Geschichten verwandelt – wenn es Zeitsprünge, Szenenwechsel
       oder sonstwie ungezeigtes Geschehen ergänzt. Nur passiert das sonst völlig
       automatisch und vom Publikum unbemerkt, während Sieberts Buch diesen
       Prozess offenlegt.
       
       Kurz gesagt: „Altglas Tagtraum Blaues Huhn“ ist ein unerwartet aufregender
       Comic dafür, dass in den meisten der 759.375 Geschichten gar nicht viel
       passiert. Es sind lakonisch erzählte Episoden aus dem Alltag plus dem, was
       Leser:innen an eigenem Seelenballast so mitbringen. Ein bisschen wie
       meditieren fühlt sich das an, nur lustiger und näher an der Ratio. Und
       wirklich: Dieses Buch sieht nicht nur bei jedem Aufschlagen anders aus,
       sondern prägt nachhaltig auch das Lesen selbst.
       
       Torben Siebert sucht nach einem Verlag und ist damit – wie gesagt – nicht
       allein. Vielleicht hat er Glück und dafür jemand anderes Pech. Vielleicht
       passt die aufwendige Produktion irgendwo ins Programm, vielleicht erscheint
       das Buch auch einfach nicht. So oder so: Die hiesige Comicszene fabriziert
       ihre größten Würfe derzeit im Kunstsegment.
       
       Und wenn schon nicht die Verlage, dann müssten wenigstens die einschlägigen
       Ausstellungshäuser die Kurve kriegen, solche Arbeiten sichtbar zu machen,
       statt das PR-trächtige Zauberwort „Comic“ immer wieder mit öde an die Wand
       geklatschten Originalzeichnungen irgendwelcher Graphic Novels von
       vorgestern zu bespielen. Sonst passiert aufregendes Comiclesen nämlich
       nicht „zwischen den Panels“ – sondern gar nicht.
       
       4 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://f3.hs-hannover.de/studium/bachelor-studiengaenge/visuelle-kommunikation-bvk/
   DIR [2] https://www.comic-salon.de/de/max-und-moritz-preis
   DIR [3] https://www.haw-hamburg.de/
   DIR [4] https://www.kunsthochschulekassel.de/studium/visuelle-kommunikation/illustrationcomic.html
   DIR [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Hunderttausend_Milliarden_Gedichte
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan-Paul Koopmann
       
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