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       # taz.de -- Junge Geflüchtete in Berlin: Ankommen, aber wie?
       
       > Damit sich junge Geflüchtete in Berlin zurechtfinden, gab es bislang das
       > Programm „Gemeinsam starten“. Nun stellt der Senat die Finanzierung ein.
       
   IMG Bild: Auf einem langen Weg: Junge Geflüchtete werden von Griechenland nach Deutschland geholt
       
       Die ersten Wochen in Deutschland, die ersten Schritte, die ersten
       Sprachbrocken sind an diesem graukalten Dezembermorgen für die sieben
       minderjährigen Geflüchteten bestimmt nicht leicht zu bewältigen. Sechs
       Jungs, ein Mädchen, zwischen 14 und 17 Jahre alt.
       
       Das Mädchen trägt einen weißen Anorak, den es die Stunde über anbehalten
       wird. Sie wird nichts sagen, weil sie noch nichts sagen kann: Die
       Somalierin ist erst vor zwei Tagen angekommen und spricht weder Deutsch
       noch Englisch noch Farsi wie die anderen afghanischen Jugendlichen im Raum.
       Um so wichtiger, dass sie von Anfang an dabei ist beim Unterricht für
       unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Berlin. „Die ersten Monate hier
       sind prägend“, sagt Jana Krüger vom Bildungsträger „lehrreich Wilmersdorf“.
       
       Am Morgen ist der kleine Trupp aus der nahen Erstaufnahmestelle
       hergelaufen. Der Unterricht findet in einer Parterrewohnung statt. Fenster
       zur Straße, im Unterrichtsraum aneinander geschobene Tische, alles ist sehr
       zweckdienlich. Der Zweck: Das Ankommen erleichtern.
       
       Seit 2016 lief das Berliner Programm „Gemeinsam starten“, das sich speziell
       an minderjährige Geflüchtete richtete. Während ihr Aufenthaltsstatus, ihre
       Unterbringung, gesundheitliche Fragen und der Bildungsstand noch geklärt
       wurden, bot es den jungen Menschen einen Schulersatz.
       
       Um später in eine Willkommensklasse gehen oder eine Regelschule besuchen zu
       können, sollten die Jugendlichen erst etwas Deutsch lernen. Die Kurse
       strukturierten auch ihren Alltag. Sie kamen raus aus der Unterkunft und
       lernten, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden.
       
       Geldgeber für das Programm „Gemeinsam starten“ war bis Ende 2020 die
       Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. Zum Jahresende lief die
       Förderung aus.
       
       Warum, wenn das Programm doch hilfreich war und, wie alle Beteiligten
       sagen, gut funktionierte?
       
       „Aus unserer Sicht war es sehr erfolgreich“, sagt Yvonne Hylla von der
       Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die das Programm für den Senat
       umgesetzt hat. Die Stiftung hat sich dafür mit acht Trägern der freien
       Jugendhilfe zusammengetan, darunter „lehrreich Wilmersdorf“, die einzige
       Sprachschule für geflüchtete Jugendliche und Kinder in Berlin, die noch
       keinen Schulplatz haben.
       
       Insgesamt etwa 450 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 27 Jahren,
       begleitet und unbegleitet, nahmen der Stiftung zufolge 2020 an dem Programm
       teil. 12 Lerngruppen gab es, über die ganze Stadt verteilt.
       
       „Wir bedauern sehr, dass es eingestellt wurde“, sagt Yvonne Hylla. Über
       Fragebögen hätten sie ein Feedback der Jugendlichen eingeholt, das sei sehr
       positiv ausgefallen – nicht allein, was die Sprachkenntnisse angeht. Die
       jungen Geflüchteten hätten angegeben, über das Projekt neue Kontakte
       geknüpft und die Stadt besser kennengelernt zu haben.
       
       In der Stunde bei „lehrreich“ in Wilmersdorf im Dezember stelle ich den
       Jugendlichen den Beruf der Journalistin vor. Das Team der Schule will
       nicht, dass ich die Geflüchteten interviewe, sie sollen sich nicht
       ausgefragt oder beobachtet fühlen. Aber über die Medien in Deutschland
       etwas erzählen, das ist möglich. Die Lehrkraft schreibt deutsche Vokabeln
       an die Tafel; ein Kollege übersetzt die Worte in Farsi, die Jugendlichen
       schreiben mit: die Tageszeitung, aber der Tag. Information, Politik,
       Wirtschaft, Kultur.
       
       Bei Sport wird es lebhaft. Einer sagt, er habe ein Champions-League-Spiel
       sehen wollen, aber das sei in der Unterkunft nicht möglich gewesen. Einige
       sprechen etwas Englisch, alle – bis auf das Mädchen – Farsi. Der Übersetzer
       fragt: „Kennt ihr eine Zeitung?“ „Ich habe noch nie eine gelesen“, sagt ein
       Junge. „Schreiben Sie auch über uns?“ fragt ein anderer. Merkel, die an
       diesem Tag auf der Titelseite der taz in einer Karikatur zu sehen ist,
       erkennen alle. „Über welches Thema sollten Zeitungen berichten?“, fragt der
       Übersetzer. „Moria“, sagt ein Jugendlicher spontan. „Ich war dort, beim
       Brand.“
       
       Nach der Stunde gehen die jungen Geflüchteten zurück in ihre Unterkunft. In
       der Erstaufnahmestelle in Wilmersdorf bleiben die Kinder und Jugendlichen
       bis zu drei Monate, so lange werden ihre Perspektive und die rechtlichen
       Zuständigkeiten geklärt. Ein Vormund muss gefunden oder die Familie
       zusammengeführt werden. Ein Teil der Jugendlichen wechselt danach in
       betreutes Wohnen oder Wohngemeinschaften.
       
       Die Teilnahme am Programm „Gemeinsam starten“ war freiwillig, die
       Gruppenzusammensetzung fluide, weil kontinuierlich junge Geflüchtete neu
       eintrafen, andere weiterzogen oder einen Schulplatz erhielten.
       
       Etwa 20 Anmeldungen gab es bei „lehrreich Wilmersdorf“ im Dezember, wegen
       Corona waren die Lerngruppen aufgeteilt in vier Einheiten: ein
       Alphabetisierungs-, zwei Anfänger-, ein Fortgeschrittenenkurs.
       
       An einem Vormittag im Dezember sitzen einige aus dem Team des
       Bildungsträgers im Unterrichtsraum zusammen. Eine Mitarbeiterin sagt:
       „Geschützt ankommen zu können, ist für die Jugendlichen wichtig.“ Die neue
       Stadt, das neue Land kennenzulernen. Erste Vokabeln, Verhaltensregeln: Wie
       funktioniert was? Zum Programm gehörten neben den Sprachkursen: einkaufen
       gehen, Bus fahren, den Zoo besuchen, Theater spielen, basteln.
       
       Auch künstlerische Projekte waren Teil des Konzepts. Und Bewegung: Alle
       spielten zusammen Fußball, egal welche Sprache sie sprachen, aus welchem
       Land sie kamen, ob Junge oder Mädchen. Der Wunsch nach Nähe, nach Austausch
       untereinander sei sehr stark, erzählt eine andere Mitarbeiterin beim
       Treffen im Dezember. Themen wie Flucht und Familie behandelten die
       Betreuenden dagegen vorsichtig. Die Teilnehmer*innen sollten nicht
       retraumatisiert werden.
       
       Was passiert jetzt, wo das Programm ausgelaufen ist? Zwar wird es weiterhin
       die „Ferienschulen“ für minderjährige Geflüchtete geben, die ebenfalls vom
       Senat gefördert werden. Doch für die schulvorbereitenden Sprachkurse gibt
       es keinen Ersatz – und für die unbegleiteten Jugendlichen in den ersten
       drei Monaten kein Angebot mehr.
       
       ## „Junge Geflüchtete machen Diskriminierungserfahrungen“
       
       Aus Sicht von Yvonne Hylla von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung ein
       Verlust: „Die jungen Geflüchteten machen viele Diskriminierungserfahrungen.
       Die Angebote stellen ein Gegengewicht dar. Sie vermitteln, dass die
       persönlichen Stärken und Erfolge im Vordergrund stehen.“
       
       Sich selbst wahrnehmen, an sich selbst glauben – darauf setzte das
       Programm. Ines Rackow, bei der Senatsverwaltung für Bildung für „Gemeinsam
       starten“ zuständig, hat das Konzept ab 2015 mit entwickelt, „als so viele
       Kinder mit Fluchterfahrung in Berlin ankamen, die nicht zur Schule gehen
       konnten“. Im Laufe der Jahre wurde das Programm finanziell stark gestutzt –
       von ursprünglich zwei Millionen Euro auf knapp 469.000 Euro im Jahr 2020.
       2021 ist kein Geld mehr dafür eingeplant.
       
       Ines Rackow sah das Projekt „mit größtem Bedauern“ zu Ende gehen. Sie sagt
       aber auch: Für das Programm gebe es, „anders als in 2015 keinen Bedarf
       mehr“, da die Kinder und Jugendlichen jetzt zügig einen Schulplatz bekämen.
       „Wir beobachten die Zuwanderung“, sagt Rackow. „Wir sind in
       Habachtstellung. Wenn es Bedarf gibt, müssen wir schnell reagieren. Wir
       haben ja die Strukturen.“
       
       Keinen Bedarf mehr? Das sieht Andrea Niemann von der Stiftung zur Förderung
       sozialer Dienste Berlin anders. Die Stiftung ist Trägerin der zentralen
       Erstaufnahme- und Clearingstellen für unbegleitete, minderjährige
       Geflüchtete in Berlin. Durchschnittlich 1,5 bis 2 unbegleitete Jugendliche
       treffen ihren Angaben zufolge pro Tag in Berlin ein. Wie schnell die
       Jugendlichen einen Schulplatz bekämen, sei sehr unterschiedlich, sagt
       Niemann, es könne auch dauern.
       
       Manchmal kommen auch mehr junge Geflüchtete, etwa im Frühherbst, als das
       Land Berlin nach dem Brand in Moria unbegleitete Kinder und Jugendliche von
       den griechischen Inseln aufnahm. Aus einem Extra-Topf des Senats für
       Bildung, Jugend und Familie wurden Gelder für einen Zehn-Wochen-Deutschkurs
       bereitgestellt. Eine Verlängerung ist nicht vorgesehen.
       
       Für „lehrreich Wilmersdorf“ ist das Ende des Programms „Gemeinsam starten“
       nicht existenzbedrohend, sagt Geschäftsführer Tilo Pätzolt. Trotzdem sieht
       er die Entwicklung kritisch: „Uns ist es ein Anliegen, verstetigte
       Strukturen zu haben.“ So ein Hauruck-Projekt wie der Sprachkurs für die
       Moria-Jugendlichen zeige, dass die Angebote weiterhin nötig seien. „Es
       stellt sich die grundsätzliche Frage: Sind wir eine Einwanderungsstadt,
       wollen wir das sein?“
       
       Mit dem Beginn der Berliner Schulferien am 19. Dezember endete „Gemeinsam
       starten“. Die jungen Geflüchteten bekamen Lernpakete für die Unterkünfte.
       Einen Schulplatz für das Jahr 2021 haben nur wenige.
       
       3 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Seifert
       
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