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       # taz.de -- Spätfolgen durch Coronavirus: Nicht mehr dieselben
       
       > Auch Monate nach ihrer Corona-Erkrankung leiden Steffi Maier und Birgit
       > Birner an den Folgen. Ob die Beschwerden je verschwinden, wissen sie
       > nicht.
       
   IMG Bild: „Ich habe mit Covid Dinge verloren, die mich ausmachen“, sagt Steffi Maier
       
       Für Birgit Birner fing es mit einer Bolognese an. Sie kochte sie an einem
       Montag Anfang April und bekam einfach keinen Geschmack hin, erzählt sie.
       Als ihr Mann nach Hause kam, ließ sie ihn probieren. Er sagte, die
       Bolognese schmecke doch in Ordnung. Erst in diesem Moment sei ihr bewusst
       geworden, dass sie nichts schmeckte, sagt Birner. Die Bolognese sei
       eigentlich etwas zu würzig gewesen, ihr Mann habe es vermutlich nur nicht
       sagen wollen. Und dann sagte er: „Na, du wirst auch Corona haben.“ „Mal den
       Teufel nicht an die Wand“, entgegnete sie.
       
       Birgit Birners Mann ist Hausmeister in einem Altenheim. Am Wochenende zuvor
       waren dort die ersten Coronafälle aufgetreten. Das Personal wurde getestet,
       auch Birners Mann. Das Ergebnis stand an diesem Montag noch aus. Birgit
       Birner, die bei einer Sparkasse angestellt ist, arbeitete trotzdem schon
       von zu Hause aus, zur Sicherheit.
       
       Mittwoch kam das Test-Ergebnis ihres Mannes: positiv. Da saß Birgit Birner
       schon mit dem Fieberthermometer unterm Arm am Laptop. „Ich hab schon
       gedacht: Irgendwie geht’s dir nicht so gut.“
       
       Auch als sie Mitte Dezember an ihrem Küchentisch im bayerischen Hirschau
       sitzt, ist Birgit Birner all das, was vor Monaten passiert ist, noch sehr
       präsent. Auch, weil es ihr Leben bis heute beeinflusst. Sie ist eine von
       den Menschen, die eine Corona-Infektion zu Hause durchgestanden haben. Und
       eine von denen, die, obwohl sie nicht im Krankenhaus waren, noch Monate
       danach mit den Folgen kämpfen. „Ich bin nicht mehr die, die ich vorher
       war“, sagt sie.
       
       Birner hat Kuchen gebacken und ihn zusammen mit Stollen und Keksen, Kaffee
       und Wasser auf den Tisch gestellt. Sie erzählt erst einmal von der Stadt
       Hirschau. Aus dem schrägen Dachfenster im Flur sieht man den Monte Kaolino,
       die Halde des Kaolinbergbaus. Dort ist auch ein Freizeitpark, eine
       Langlaufstrecke, ein Schwimmbad. Und dort war Birgit Birner früher oft
       Schwimmen, ist im Winter Ski gelaufen, erzählt sie.
       
       Birner weiß nicht nur so viel über die Gegend, weil sie schon ihr ganzes
       Leben hier in der Oberpfalz verbracht hat. Die 46-Jährige war auch
       jahrelang in der CSU aktiv, war Ortsvorsitzende, Kreisvorsitzende der
       Frauenunion, Stadträtin. Irgendwann konnte sie das Ehrenamt nicht mehr mit
       dem Beruf in Einklang bringen. Daran, es jetzt wieder aufzunehmen, ist
       nicht zu denken. Zu sehr hat sie noch mit den Folgen ihrer
       Covid-19-Erkrankung zu kämpfen.
       
       Im April hatte Birgit Birner sehr lange Fieber, „wahnsinnigen Husten“,
       teilweise Herzrasen und Schweißausbrüche, erzählt sie. „Weil das Wetter so
       schön war, habe ich mich mal in den Garten gelegt, um frische Luft zu
       atmen. Als ich dann die Treppen wieder raufging, musste ich anhalten. Ich
       wäre in einem Stück nicht hinaufgekommen.“ Dann kam der Geschmacks- und
       Geruchsverlust. Und bis September hatte sie noch Haarausfall. Dass das
       etwas mit Corona zu tun hatte, wusste sie lange nicht.
       
       Auch dass sie sich wirklich mit Corona infiziert hatte, wusste Birner lange
       nicht. Zuerst wurde sie beim Testen einfach vergessen, dann war ihr
       Testergebnis negativ. Vielleicht war es schon zu spät für einen Nachweis.
       Birner sagt aber auch, der Abstrich beim Coronatest sei vielleicht ungenau
       gemacht worden.
       
       Sie blieb die ganze Zeit zu Hause, ihr Mann kümmerte sich, der Hausarzt
       erkundigte sich nach ihr. Irgendwann ging es Birner besser. In der ersten
       Maiwoche ging sie wieder arbeiten. „Aber ich bin nicht wirklich auf die
       Füße gekommen. Ich hatte zwar kein Fieber mehr, aber ich war total kaputt“,
       erzählt sie. Ihr Hausarzt machte einen Antikörpertest und kümmerte sich
       darum, dass bei Birner schnell eine Computertomografie der Lunge gemacht
       wurde.
       
       Birgit Birner sagt, sie hatte so viele Antikörper, dass die Skala des Tests
       nicht ausreichte. Und das Bild ihrer Lunge sah so schlecht aus, dass ihr
       Arzt sie sofort zu sich bestellte. In der Akutphase hatte sie wohl eine
       Lungenentzündung gehabt. Ihr Arzt schrieb Birner krank, sie machte eine
       Reha.
       
       „Ich habe gedacht, ich gehe in die Reha und danach ist alles wieder gut“,
       erzählt Birner. Sie räuspert sich beim Sprechen mittlerweile etwas
       häufiger. Birner war immer eine sportliche Frau. „Wenn es in den Urlaub
       ging, war immer ein Sportgerät dabei“, sagt sie. „Im Winter die
       Langlaufski, im Sommer das Fahrrad.“
       
       Heute muss sie kleinere Brötchen backen, wie sie sagt. Das heißt auch,
       herausfinden, wo die Grenzen sind. Birner hat sich mittlerweile ein E-Bike
       gekauft. Nicht nur wegen ihrer Krankheit, sie dachte schon vorher darüber
       nach, sagt sie. Als sie einmal mit ihrem Mann und einem Freund eine Radtour
       machte, schätzte sie die Grenzen noch nicht richtig ein, überschätzte sich.
       „Ich weiß nicht, wo mein Puls war, ich war total fix und alle und
       kurzatmig“, erzählt sie. Ihr Mann und der Freund haben sie gefragt, ob sie
       wieder werde. Birgit Birner lacht, als sie davon erzählt.
       
       Das Lachen geht in ein Husten über. Im November wurde ein neues Bild von
       ihrer Lunge gemacht. Trotz Reha, trotz Atemtherapie hat es sich nicht
       verbessert, hat sich die Lunge nicht erholt. Für Birner war das aber nicht
       nur eine schlechte Nachricht, sondern auch eine gute: „Ich habe es jetzt
       schwarz auf weiß“, sagt sie. „Ich bilde mir das nicht ein.“
       
       „Ich wollte mir das am Anfang auch nicht eingestehen, aber wenn du vom Rad
       steigst und denkst, du erholst dich nicht mehr, dann wirst du schlauer“,
       sagt Birner. Sie habe auch zugenommen, bestimmt 10 Kilo. „Wenn das der
       Preis ist, dann ist das so.“
       
       Wenn Menschen unter den Langzeitfolgen einer Covidinfektion leiden, wird
       oft von Long Covid gesprochen. Weil das Krankheitsbild noch so neu ist und
       wegen der sehr unterschiedlichen Symptome, gibt es noch keine einheitliche
       Definition von Langzeitfolgen, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) [1][auf
       seiner Webseite schreibt].
       
       Mittlerweile gibt es in ganz Deutschland Post-Covid-Ambulanzen. Es sind
       Anlaufstellen für Menschen, die eine Infektion durchgemacht haben, aber
       auch Wochen oder Monate danach noch nicht gesund sind. Und das betrifft
       nicht nur Menschen, die im Krankenhaus, vielleicht sogar auf der
       Intensivstation waren, sondern eben auch solche, die einen leichteren
       Verlauf hatten.
       
       „46 Prozent unserer Patienten haben die Erkrankung zu Hause durchgemacht“,
       sagt Andreas Stallmach. Er ist Direktor der Klinik für Innere Medizin IV an
       der Uniklinik Jena und leitet die dortige Post-Covid-Ambulanz.
       
       Die Ambulanz in Jena gibt es seit August. „Wir haben hier ein neues
       Krankheitsbild gesehen und es ist wichtig, diesbezüglich
       klinisch-wisenschaftliche Erfahrungen zu generieren und natürlich Patienten
       zu helfen“, sagt Stallmach am Telefon. „Deshalb haben wir die Ambulanz
       eröffnet.“ Der Bedarf ist offenbar groß. Aus ganz Deutschland riefen
       Patient:innen an, um aufgenommen zu werden. Die Warteliste gehe bisher bis
       in den Februar des nächsten Jahres, sagt Stallmach.
       
       „Die Patienten haben verschiedene Symptome: Luftnot bei körperlicher
       Belastung, zum Beispiel beim Treppensteigen, Geschmacks- und
       Geruchsverlust, Bauchschmerzen, Durchfall, Depressionen, Schlafstörungen
       und Müdigkeit, die sogenannte Fatigue“, fährt er fort.
       
       Die Folgen einer Corona-Infektion betreffen offenbar jede Altersgruppe.
       Stallmach sagt, seine jüngste Patientin sei 17 Jahre alt, das
       Durchschnittsalter liege bei etwa 51 Jahren. In der Ambulanz werden die
       Patient:innen gründlich untersucht, Blutentnahmen, Ultraschall und Weiteres
       gemacht. „Aus den geschilderten Beschwerden und Befunden entsteht dann ein
       Bild, ein Verdacht, und wir entscheiden, was die richtige Therapie ist“,
       sagt Stallmach.
       
       Wie viele Menschen sind überhaupt von Langzeitfolgen betroffen?
       „Verlässliche, repräsentative Daten zum Anteil der Erkrankten mit
       Langzeitfolgen liegen derzeitig nicht vor“, schreibt das RKI. Eine
       englische Studie lege nahe, dass bei 40 Prozent der Menschen, die im
       Krankenhaus behandelt wurden und 10 Prozent derer, die nur leicht erkrankt
       waren, Beschwerden auch nach vier Wochen noch anhalten.
       
       Andreas Stallmach hat in seiner Post-Covid-Ambulanz die Erfahrung gemacht,
       dass chronische Beschwerden langsam besser werden. „Ob die Symptome
       vollständig verschwinden, können wir nicht sagen, weil wir das
       Krankheitsgeschehen noch nicht vollständig überblicken“, sagt er.
       
       „Wir brauchen noch mehr Beobachtungszeit“, sagt auch Stefanie Joos. Sie ist
       Professorin, Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin und
       Interprofessionelle Versorgung an der Uniklinik Tübingen und arbeitet
       selbst in einer Hausarztpraxis. Auch sie sieht oft Menschen, die mit den
       Folgen einer Corona-Infektion zu kämpfen haben. „Die häufigste
       Post-Covid-Folge ist die Fatigue, also diese Müdigkeit, die mit mangelnder
       Belastbarkeit einhergeht. Auch Atemnot ist recht häufig.“ Es gebe auch
       Menschen, die kognitive Probleme haben, sich Dinge nicht gut merken können,
       nicht mehr abstrahieren oder definieren können. Auch psychische Probleme
       wie Depressionen seien häufig.
       
       Joos möchte herausfinden, wie viele Menschen mit leichten
       Krankheitsverläufen auch nach dem eigentlichen Ende der Infektion noch
       gesundheitliche Beschwerden haben. Im Rahmen einer Studie sollen deshalb
       insgesamt etwa 2.000 Menschen aus fünf Landkreisen in Baden-Württemberg
       befragt werden, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Ein
       Beispiel dafür kann die Frage sein, ob ein bestimmtes Medikament den
       Verlauf der Erkrankung oder die Entwicklung von Langzeitfolgen beeinflusst
       habe. Joos rechnet Anfang oder Mitte Februar mit Ergebnissen. Bis wirklich
       klar ist, wie viele Menschen betroffen sind und wie lange Beschwerden
       anhalten können, wird es aber noch dauern.
       
       Mit genau dieser Unsicherheit muss Steffi Maier schon seit Wochen leben.
       Die junge Lehrerin hat sich im Oktober mit dem neuartigen Coronavirus
       infiziert. Und bis heute hat sie sich nicht davon erholt. Während der
       Infektion hatte sie Gliederschmerzen und starke Kopfschmerzen, war müde und
       hat auch mal ein Brennen in der Lunge gespürt. Ihre Symptome haben etwa
       eineinhalb Wochen angehalten. Dann waren sie erst einmal weg. „Ich dachte,
       das war es. Aber dann gingen die Kopfschmerzen wieder los“, erzählt die
       27-Jährige Mitte Dezember bei einem Spaziergang durch einen Park in
       Leipzig.
       
       Maier hat angefangen, ihre Symptome aufzuschreiben. Sie sei während der
       Infektion vom Gesundheitsamt dazu aufgefordert worden, erzählt sie. Und als
       die Symptome wieder losgingen, hat sie das wieder gemacht. Die Liste ist
       lang und vielfältig. Da waren die Kopfschmerzen, die krassesten, die sie je
       hatte. „Konnte nichts und habe nur geschlafen“, notierte sie am 12.
       November. Heute sind die Kopfschmerzen besser.
       
       Geblieben sind aber Kreislaufprobleme. Dass sie überhaupt einen längeren
       Spaziergang machen kann, ist deshalb ein Fortschritt. „Vor vier Wochen
       hätte das so nicht funktioniert“, sagt sie. Da wollte sie mit einer
       Freundin einen Spaziergang machen. Bis zum Eingang des Parks musste sie
       schon zweimal Pause machen. Weiter hat sie es nicht geschafft, musste
       umdrehen, weil ihr schwindelig war.
       
       Den Schwindel hat sie immer noch. Auf dem Spaziergang holt sie irgendwann
       ein Trinkpäckchen aus ihrer Tasche. „Ist nicht das Umweltfreundlichste, ich
       weiß“, sagt Maier. „Aber wenn mir schwindelig ist, dann muss ich etwas
       trinken oder essen und so ein Trinkpäckchen hilft schnell.“
       
       Maier hat gelernt, mit dem Schwindel umzugehen. Im Gespräch wird aber immer
       wieder deutlich, wie sehr es ihr zu schaffen macht, dass ihr Kopf nicht
       richtig funktioniert. So nennt sie das. „Ich bin eine sehr organisierte
       Person, die sehr sportlich ist“, erzählt sie. „Ich baue Fahrräder selber
       zusammen und bin Radrennen gefahren.“ Jetzt sei sie nicht mehr sportlich,
       ist im Kopf nicht mehr so schnell wie früher, nicht mehr so organisiert.
       „Das ist krass, wenn ich das so ausspreche“, sagt Maier. „Ich habe mit
       Covid Dinge verloren, die mich ausmachen.“
       
       Sie erzählt davon, wie sie an Orte gefahren ist, an die sie gar nicht
       wollte. In ein Möbelhaus zum Beispiel. Bei der Ankunft wusste sie nicht
       mehr, was sie dort wollte. Sie habe Namen und Passwörter vergessen.
       
       Momente, in denen Maier Hilfe gesucht, aber nicht gefunden hat, gab es
       viele. Ihr Hausarzt nehme sich viel Zeit, sagt sie. Er erzählte ihr auch,
       dass er eine Patientin habe, Jahrgang 1986, der es ähnlich gehe. „Aber
       eigentlich hat mein Arzt gar keine Zeit, jetzt herauszufinden, wo ich als
       Covid-Patientin hin kann“, sagt Maier.
       
       An einem Morgen habe sie die Kraft aufgebracht, herumzutelefonieren, um
       Hilfe zu finden. Die Covid-Ambulanz der Charité habe ihr gesagt, sie nehmen
       nur Patient:innen aus Berlin und Brandenburg auf. Beim ärztlichen
       Bereitschaftsdienst habe sie angerufen, bei der unabhängigen
       Patientenberatung, ihrer Krankenkasse, der Corona-Hotline. „Sie wussten
       alle nicht, was sie machen sollen, wo sie mich hinschicken sollen“, sagt
       Maier.
       
       Mittlerweile wurde ihre Lunge geröntgt, wurde ein EKG gemacht, sie wurde
       neurologisch untersucht. Gefunden wurde bisher nichts.
       
       Maier arbeitet an einer demokratischen Schule, wo Kinder selbstbestimmt in
       offener Unterrichtsstruktur lernen. Sie schätzt die Schule sehr. Seit der
       Coviderkrankung konnte sie nicht wieder arbeiten, mittlerweile bekommt sie
       Krankengeld. Nicht arbeiten zu können, war am Anfang schwer. „Weil meine
       Kollegin jetzt Mehrarbeit macht“, sagt Maier. Heute ist sie entspannter.
       Sie frage sich schon, ob sie je wieder so fit sein wird, 25 Kinder zu
       begleiten. „Das kann ich mir nicht beantworten“, sagt sie.
       
       Sie weiß aber auch, dass viele, die mit Folgen einer Corona-Infektion zu
       kämpfen haben, sich zur Arbeit schleppen, weil sie Angst um die Zukunft
       haben. Gelesen hat sie davon in einer Gruppe auf Facebook. In die war Maier
       eingetreten, als sie Symptome bekommen hatte.
       
       Mittlerweile gibt es [2][einige Gruppen], in denen sich Coronabetroffene
       austauschen. Es gibt welche für aktuell Infizierte und andere für die mit
       Langzeitfolgen. „Die Vernetzung mit Betroffenen hat mir mehr geholfen als
       das Gesundheitssystem“, sagt Maier. Ihr sei bewusst, dass es in den
       Facebookgruppen nicht nur validierte Quellen gebe. „Aber es hat mir etwas
       gebracht zu fragen, ob jemand so etwas auch schon erlebt hat und was man
       dagegen tun kann.“
       
       Diese Unterstützung durch Gleichgesinnte gewinnt mit Blick auf Covid-19
       immer mehr an Bedeutung. [3][Ein paar Selbsthilfegruppen gibt es schon],
       viele örtliche Kontaktstellen schreiben der taz, dass es wahrscheinlich
       bald mehr geben werde. Im Moment sind persönliche Treffen der
       Selbsthilfegruppen jedoch nicht möglich.
       
       Constanze Jacke hat den Verein [4][„Leben mit Corona“] gegründet. Sie und
       ihr Mann haben sich im März infiziert. Jacke selbst hatte nur leichte
       Symptome, ihr geht es heute gut. Ihr Mann jedoch lag wochenlang auf der
       Intensivstation, lange war unklar, ob er überlebt. Jacke war und ist
       mehrfach von der Coronapandemie betroffen: als Infizierte, als Angehörige
       eines schwer Kranken und als Pflegedienstleiterin in einer großen
       Pflegeresidenz in der Schweiz.
       
       Für andere Betroffene im deutschsprachigen Raum will Jacke mit dem Verein
       nun ein Angebot schaffen. „Es geht um Austausch und Unterstützung“, erzählt
       sie. Ein erstes Videogespräch soll bereits Anfang des neuen Jahres
       stattfinden. In der Zukunft soll es dann auch Veranstaltungen mit
       Fachdozent:innen oder Wissenschaftler:innen geben.
       
       Auch Birgit Birner ist in einer Selbsthilfegruppe. Gegründet hat sie ein
       Mann, der mit ihr in der Reha war. Dazu ermuntert wiederum hatte ihn der
       Psychologe Günter Diehl in der Reha-Einrichtung. Er betreut dort [5][seit
       März Covidpatient:innen]. „Viele Betroffene sind erschüttert über das,
       was mit ihnen passiert ist“, sagt Diehl. Bei der Genesung sei oft Geduld
       gefragt. „Das ist in unserer Leistungsgesellschaft natürlich ein Problem.“
       
       Hinzu komme: Man sieht den Betroffenen ihre Erkrankung meist nicht an.
       Betroffene schildern auch immer wieder, dass sie an Ärzt:innen geraten, die
       ihnen nicht glauben, die unterstellen, sie würden nur nicht arbeiten
       wollen. Und auch von Menschen aus ihrem Umfeld hören Betroffene: Du sieht
       doch gesund aus, so schlimm kann es ja nicht sein.
       
       Birgit Birner kennt solche Sprüche. Da war der Kollege, der gesagt habe,
       wenn die zweite Welle komme, könnte sie ja arbeiten, weil sie jetzt
       Antikörper habe. „Da habe ich gesagt: Hast du einen Vogel? Ich bin noch
       nicht wieder gesund!“, erzählt Birner. Da war die junge Frau mit ihrem Kind
       vor dem Supermarkt. Sie sagte zu Birner und einem älteren Paar, mit dem sie
       sich unterhielt, sie bräuchten ihre Masken nicht, Corona gebe es nicht,
       niemand hätte das. Und als Birner sagte: „Doch, ich“, schrie die Frau laut
       auf und zog ihr Kind weg.
       
       Für Birner ist die Selbsthilfegruppe eine wichtige Stütze. „Es gibt da
       keinen, der dir Vorwürfe macht, keinen, der mit vorwurfsvollem Unterton
       fragt, wie man sich angesteckt habe“, sagt sie. Sich in einer Gruppe mit
       Gleichgesinnten öffnen zu können, sei für viele hilfreich. Und Betroffene,
       die schon viel Erfahrung haben, können anderen helfen. „Manche fragen sich:
       Warum ich? Hätte ich das vermeiden können?“, sagt Birner. „Das kann niemand
       nachfühlen, der das nicht durchlebt hat.“
       
       Auch weil sie verletzende Sprüche kennt, sei es ihr ein Anliegen, ihre
       Geschichte zu erzählen, sagt Birner. Manche Menschen reagieren vielleicht
       unsensibel, weil sie niemanden kennen. „Vielleicht haben sie mehr
       Verständnis, wenn sie mal ein Gesicht und einen Namen dazu kriegen.“ Sie
       selbst habe die Kraft, von ihrer Krankheit zu berichten. Sie wisse aber
       auch, dass andere schwerer getroffen sind und diese Kraft nicht haben.
       „Vielleicht ist es für mich eine Hilfe, mit der Krankheit umzugehen“, sagt
       Birner.
       
       Ihren Geschmacks- und Geruchssinn hat sie mittlerweile wieder. An den Tag,
       als der wieder kam, erinnert sie sich gut. Das war Ende April, es gab
       Spargel, der Schwiegervater hatte Bratwürste gekauft, ihr Mann das
       Lieblingsbier. Und Birner dachte, sie würde nichts schmecken. „Ich werde
       nicht vergessen, wie ich in diese Bratwürste gebissen habe und etwas
       geschmeckt habe“, erzählt sie. „Das war ein richtiges Glücksgefühl. Ich
       habe mich total überfuttert an dem Tag.“
       
       Seit September macht Birner eine Wiedereingliederung auf der Arbeit. Sie
       hat aber schnell gemerkt: Mit der geschädigten Lunge, dem Reizhusten der
       kommt, wenn sie viel redet, kann sie ihren alten Job nicht machen. Sie war
       Kundenberaterin bei der Sparkasse und hat an der Sparkassen-Akademie
       unterrichtet. Birner sprach mit ihrem Chef, und der habe sehr
       verständnisvoll reagiert. Jetzt hat sie eine neue Stelle, bei der sie nicht
       so viel reden muss.
       
       2 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=33DF08DE79811BFD29CF1607B6663213.internet061#doc13776792bodyText9
   DIR [2] https://www.facebook.com/groups/725782328256830
   DIR [3] https://www.nakos.de/data/Online-Publikationen/2020/NAKOS-Corona-Selbsthilfegruppen.pdf
   DIR [4] https://www.leben-mit-corona.ch/Willkommen/
   DIR [5] https://espan-klinik.de/die-klinik/team/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marthe Ruddat
       
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