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       # taz.de -- Coronapandemie in China: Wuhan feiert wieder – vorerst
       
       > In China lässt es sich fast genauso leben wie vor der Pandemie, mit
       > Kneipenabenden und Konzerten. Die neue Freiheit ist indes schon wieder
       > brüchig.
       
   IMG Bild: Wuhan, 12.12.2020: Die Party rollt in diesem Club und ist vielleicht auch schon wieder vorbei...
       
       Wuhan/Peking taz | Das holzvertäfelte Café im Studentenviertel von Wuhan
       scheint an diesem Abend fast ausschließlich von verliebten Pärchen besucht
       zu sein, die händchenhaltend Waffelteller verputzen. Lilly, blass
       geschminkt, überbrückt beim Cappuccino die Wartezeit auf ihre Freundin.
       „Ich habe die letzten Wochen fast niemand gesehen“, sagt sie. Doch die
       21-Jährige redet nicht von Quarantäne oder Selbstisolation, sondern
       Liebesschmerz: Ihr nunmehr Ex-Freund, ein Englischlehrer, sitzt seit
       Monaten wegen der Pandemie in Europa fest. Nun also wirft sich die junge
       Chinesin erstmals wieder ins Nachtleben: Zu Abend wird in einem russischen
       Restaurant gegessen, später eine Geburtstagsfeier besucht und danach
       vielleicht noch weiter in Wuhan herumgezogen.
       
       Noch 2019 würde ein solches Gespräch maximal belanglos wirken, doch gegen
       Ende 2020 wirkt es fast utopisch, schließlich klingen global gesehen
       rappelvolle Cafés oder gar Clubbesuche wie weit entfernte Zukunftsmusik.
       Denn während in Berlin längst wieder die Kneipen geschlossen sind, in Seoul
       Treffen mit über vier Personen verboten und New York auf einen erneuten
       Lockdown zusteuert, gehören im Studentenviertel von Wuhan, jener Stadt, von
       der das Coronavirus seinen Lauf nahm, ebenjene Vergnügungen längst wieder
       zum Alltag.
       
       Es ist eine Parallelwelt, die sich in China darbietet: Nach
       entbehrungsreichen Monaten im Frühjahr herrscht mittlerweile eine
       postpandemische Realität vor. Zu dieser gehören weiterhin Gesichtsmasken,
       auch Wärmebildkameras und Smartphone-Registrierpflicht. Doch im Gegenzug
       haben Chinas 1,4 Milliarden Einwohner ihre physische Bewegungsfreiheit
       längst wiedergewonnen. Überfüllte Poolpartys in Wuhan? Waren schon im
       Sommer kein Problem. Seither fahren auch die Hochgeschwindigkeitszüge
       wieder mit voller Auslastung. Und in Chat-Gruppen auf [1][Wechat]
       organisieren sich gerade die Freundeskreise für die anstehenden
       Silvesterfeiern.
       
       Vor Kurzem erst schrieb ein Kolumnist von Bloomberg mit geradezu schlechtem
       Gewissen von seinem „lächerlich normalen“ Pandemiejahr, das er in Taiwan
       verbrachte. Über acht Monate lang registrierten die Behörden dort keine
       einzige lokale Infektion – ehe das Virus wieder kurz auftauchte. Mit
       „gemischten Gefühlen“ blickt der Kolumnist nun von seiner momentan
       virusfreien Festung darauf, wie die Welt da draußen kämpft: Einerseits sei
       man stolz, doch andererseits fühle er gleichzeitig die „Schuld eines
       Überlebenden“.
       
       ## Effizient, rasch und koordiniert
       
       Wer die Pandemie in Peking durchgemacht hat, dürfte wohl ebenfalls eine
       gewisse Portion Dankbarkeit verspüren – gegenüber der disziplinierten
       Bevölkerung, die sich aus freien Stücken verantwortungsvoll gegenüber dem
       Gemeinwohl verhalten hat. Doch letztendlich auch gegenüber den Behörden,
       die – nach den Vertuschungsaktionen zu Beginn – effizient, rasch und
       koordiniert reagiert haben.
       
       Ein schlechtes Gewissen jedoch braucht Peking im Hinblick auf die Zustände
       in Europa nicht haben. Alle bezahlten das derzeit verschwindend geringe
       Infektionsrisiko mit ungleich drastischeren Opfern im Frühjahr: Was
       Deutschlands Politiker damals als Lockdown bezeichneten, hat wenig damit zu
       tun, was ein Gros der Chinesen erdulden musste. Über Monate konnte man in
       Peking nirgends hin, ohne von einem uniformierten Mitglied des
       Nachbarschaftskomitees über Beweggründe ausgefragt zu werden. Schaltete der
       „Gesundheitscode“ des Smartphones wegen eines technischen Defekts von
       „Grün“ auf die Zwischenstufe „Gelb“, konnte man nicht raus. Und Quarantäne,
       das heißt in China: zwei Wochen in einem staatlich angeordneten Zimmer zu
       verbringen. Doch all das zählt auch in Peking längst zur Vergangenheit.
       Spätestens im Dezember haben die Behörden auch im politischen Machtzentrum
       ihren bürokratische Eifer schleifen lassen.
       
       „Wir wollen hier einen kulturellen Ort erschaffen“, sagt Marketingmanager
       Krish zufrieden, während er die Soundtechnik überprüft. Im schummrig
       beleuchteten Hinterzimmer des Pekinger „Jing-A“ haben sich bereits Dutzende
       Besucher eingefunden, die zu Craft Beer gespannt auf die noch leere Bühne
       schauen. In jenem Moment lässt sich auch in Peking zum ersten Mal eine
       Zukunft ohne Virus erahnen.
       
       Doch bereits am nächsten Morgen, nicht mal eine Woche vor Heiligabend,
       zeigt sich die Brüchigkeit dieser Utopie. Nach 134 Tagen ohne lokale
       Infektion haben die Gesundheitsbehörden wieder einen Fall registriert – in
       Folge werden mehrere Dutzend hinzukommen. Und die epidemiologischen
       Maßnahmen? Sie werden wieder hochgefahren.
       
       ## Pub darf öffnen
       
       Entlang des abgerissenen Arbeiterstadions, wo sich in einer
       neonbeleuchteten Häuserzeile Nachtclubs, Karaokebars und Pubs
       aneinanderreihen, haben sich denn in der Nacht unter den Hunderten
       Partygehern am Gehsteig bereits viele Polizisten gemischt. Am nächsten
       Abend ist der Vorplatz verlassen, die Neonbeleuchtung einem gespenstischem
       Dunkel gewichen und die Clubs geschlossen.
       
       Ob zumindest die Kneipen noch offen haben? „Niemand hat uns gesagt, dass
       wir schließen sollen“, sagt die leicht mürrische Kellnerin in einem Irish
       Pub unweit vom Botschaftsviertel. Sie scheint selbst überrascht zu sein,
       dass in dem abgerockten Innenraum, wo sonst Shotgläser gereicht und zu
       Britpop getanzt wird, nun vorerst wieder gähnende Leere herrscht.
       
       30 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.wechat.com/en/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
       ## TAGS
       
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