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       # taz.de -- Repressionen in Belarus: Für die Kinder gibt sie nicht auf
       
       > Ein Hospiz in Belarus wird mit Gerichtsverfahren überzogen. Der Grund:
       > Die Direktorin Olga Velitschko engagiert sich aufseiten der Opposition.
       
   IMG Bild: Demonstration der Opposition am 19. August in Grodno
       
       Minsk taz | „Mein Leben hat mir viele Prüfungen aufgegeben. Mir schien, als
       hätte ich alles im Leben gesehen“, sagte Olga Velitschko unlängst dem
       Sender Radio Freies Europa.Doch da hatte sich die Direktorin des
       Kinderhospizes St. Hubert im belarussischen Grodno geirrt. „So viel wie im
       letzten Monat habe ich noch nie geweint“, sagt sie.
       
       Alles begann im Herbst 2020, als das seit zwölf Jahren bestehende Hospiz
       vor die Tür gesetzt wurde. Bis dahin war die gemeinnützige Organisation auf
       drei Gebäude verteilt. In einer Kinderpoliklinik hatten sie vor sechs
       Jahren Praxisräume gemietet und renoviert. 70 Familien mit schwerstkranken
       Kinder bekamen hier Medikamente, Hilfsmittel, Spielzeug und Kleidung.
       Während der ersten Coronawelle beschloss die Hospizleitung aber, nur noch
       Hausbesuche anzubieten.
       
       In den Praxisräumen blieben nur einige Freiwillige, die Coronaschutzmasken
       herstellten. Ihnen schlossen sich hilfswillige Erwachsene mit
       Beeinträchtigungen an.
       
       Als der Eigenbedarf des Hospizes gedeckt war, bat die Stadtverwaltung
       darum, diese „individuelle Schutzausrüstungen“ auch für andere staatliche
       Einrichtungen anzufertigen. Im Austausch dafür würde die Stadt dem Hospiz
       Miete und Nebenkosten zahlen. Insgesamt wurden 3.000 Schutzausrüstungen
       genäht und offiziell den Gesundheitsbehörden übergeben.
       
       ## Zur Zwangsarbeit eingesetzt
       
       Im Juni musste die Nähwerkstatt die Poliklinik verlassen, aber die
       Stadtverwaltung bot den Freiwilligen Räume in einem Lebensmittelkombinat
       mit der Möglichkeit an, diese auch länger gratis zu nutzen. Diese
       Übereinkunft sollte bis Jahresende gelten.
       
       Im September beanspruchte das Kombinat die Räume jedoch plötzlich selbst.
       Hospizdirektorin Olga Velitschko wurde beschuldigt, Minderjährige zur
       Zwangsarbeit eingesetzt zu haben. Es folgten eine Klage beim
       Wirtschaftsgericht und die Forderung, vorzeitig den Vertrag zu beenden, die
       Räume freizugeben und umgerechnet knapp 2.000 Euro Strafe zu zahlen.
       Angeblich seien bei dem Hospiz finanzielle Unregelmäßigkeiten festgestellt
       worden.
       
       Am 15. Dezember entschied ein Grodnoer Gericht in erster Instanz, dass das
       Hospiz die Räumlichkeiten im Kombinat aufgeben und die Gerichtskosten
       tragen müsse. Bereits im Oktober hatten Hospizmitarbeiter erfahren, dass
       sie auch ihre Räume in der Poliklinik bis zum 23. Dezember räumen müssen.
       
       So bleibt dem Kinderhospiz nur noch das Palliativzentrum in den Räumen
       einer Kirche. Dorthin kamen am 1. Dezember Vertreter der
       Finanzermittlungsabteilung und nahmen, ohne schriftliche Legitimation, ein
       neues Beatmungsgerät mit, wie das belarussische Nachrichtenportal tut.by
       meldete.
       
       ## Als Wahlbeobachterin aktiv
       
       Der wahre Grund für das starke Interesse an der Wohltätigkeitseinrichtung
       scheint [1][die politische Haltung] der Direktorin Olga Velitschko zu sein.
       Während des Wahlkampfes war sie für den oppositionellen
       Präsidentschaftskandidaten Wiktor Babariko und als unabhängige
       Wahlbeobachterin aktiv.
       
       Am 15. Oktober wurde sie festgenommen und wegen Teilnahme an einer
       Protestdemonstration zu einer Geldstrafe von umgerechnet 130 Euro
       verurteilt. Kurz darauf leiteten die Machthaber eine Untersuchung „von
       leitenden Kräften des Grodnoer Kinderhospizes in Zusammenhang mit der
       Bemessungsgrundlage für Steuern und Steuerhinterziehung“ ein, so tut.by.
       
       Nach Angaben von Olga Velitschko zahlt das Hospiz korrekt Steuern auf die
       Gehälter von elf Mitarbeitern. Trotzdem kam die Finanzermittlungsbehörde
       zur „Ortsbegehung“ ins Hospiz und beschlagnahmte zwei Computer und
       Sponsorenunterlagen.
       
       „Als Wohltätigkeitsorganisation dürfen wir nicht kommerziell tätig sein und
       waren es auch nicht“, sagt Olga. Als der Druck auf das Hospiz öffentlich
       wurde, erhielten sie viel private Unterstützung. Und Olga entschied: „Wir
       haben hohe Schulden (für Miete und Nebenkosten, deren Zahlung staatliche
       Stellen zugesagt hatten; Anm. d. Red.). Die Machthaber schlagen vor, sie
       mit Spendengeldern zu begleichen. Aber wir zahlen dem Staat kein Geld
       dafür, dass wir freiwillig Coronaschutzausrüstung für ihn genäht haben.“
       
       ## Hausbesuch angekündigt
       
       Der Druck auf die Direktorin wurde erhöht. Die Vormundschaftsbehörde
       kündigte einen Hausbesuch bei ihr und ihren zwei Kindern (sie hat einen
       Sohn und eine Tochter) an. In Belarus sind Drohungen gegen Oppositionelle,
       deren Kinder in Obhut zu nehmen, gängig. Olga reiste mit ihrer Familie nach
       Vilnius aus.
       
       „[2][Das Regime] rächt sich an Wehrlosen, an todkranken Kindern“, sagt die
       belarussische Politologin Olga Karatsch. „Aber alles, was Olga Velitschko
       politisch tut, hat nichts mit den kranken Kindern zu tun.“
       
       Doch Olga Velitschko gibt nicht auf. „Ich leite immer noch das Grodnoer
       Hospiz und arbeite mit Kollegen aus dem Vilniusser Hospiz zusammen. So kann
       ich noch aus der Ferne helfen“, sagt sie. „Aber sobald es möglich wird,
       fahren wir nach Hause.“
       
       Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
       
       30 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Zivilcourage-in-Belarus/!5714963
   DIR [2] /Polizeigewalt-in-Belarus/!5714965
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