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       # taz.de -- Feministischer Jahresrückblick: Wut in den Augen
       
       > 2020 war für die Gleichberechtigung ein dunkles Jahr, gleichzeitig aber
       > auch eines des feministischen Protestes. Sicher ist: Die Kämpfe gehen
       > weiter.
       
   IMG Bild: Demonstrierende der Pro-Choice-Bewegung in Warschau im November
       
       Im Frühling sah es kurz so aus, als könnte sich tatsächlich etwas ändern.
       Nachdem die erste Coronawelle in Europa angekommen war, wurde über
       ungleichmäßige Verteilung unbezahlter Care-Arbeit und über
       Arbeitsbedingungen von Pfleger:innen und Kassierer:innen diskutiert.
       Themen, die relevant für die Gleichberechtigung sind und in den vergangenen
       Jahren in der Öffentlichkeit kaum sichtbar waren. Doch viel mehr als ein
       bisschen Applaus vom Balkon folgte nicht.
       
       Neun Monate später zeigt sich nun, was Expert:innen schon früh
       befürchteten: Frauen sind [1][die sozialen Verliererinnen der Krise]. Das
       Bild der Pandemie als Brennglas, das bestehende soziale Probleme und
       Ungerechtigkeiten vergrößert, hat sich bestätigt. So übernehmen Frauen noch
       mehr unbezahlte Care-Arbeit, häusliche Gewalt gegen sie nimmt zu, und auch
       wirtschaftlich leiden sie stärker.
       
       Der für viele ohnehin schon herausfordernde Alltag wird zu einer Doppel-
       und Dreifachbelastung. Alleinerziehende und Kranke, Frauen in
       Systemerhalterinnenjobs und in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen,
       mehrfach Diskriminierte, solche mit Kindern und weitere, die Gewalt
       erfahren – diese sind es, die die Folgen der Krise am stärksten zu spüren
       bekommen. Und sie noch lange spüren werden. Corona wird die
       Gleichberechtigung um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückwerfen. Die
       meisten Regierungen der Welt haben zwar Maßnahmen ergriffen, [2][um Frauen
       in der Krise zu schützen], doch sie werden nicht ausreichen, um einen
       Backlash zu verhindern.
       
       Nun verläuft gesellschaftlicher Fortschritt selten linear, sondern meistens
       in Wellenbewegungen. Natürlich hat auch 2020 feministische Erfolge
       hervorgebracht: Gut drei Jahre nach dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung wurde
       mit Harvey Weinstein ein erster prominenter Täter verurteilt. Deutschland
       führt eine Frauenquote in Vorständen von börsennotierten Unternehmen ein,
       und in den USA wird zum ersten Mal eine Woman of Color Vizepräsidentin.
       Doch im Grunde sind es nur kleine Lichtblicke in einem – auch für die
       Gleichberechtigung – dunklen Jahr.
       
       Höchstens Privilegierte profitieren 
       
       Die Phrase „Die Krise als Chance begreifen“ war in den vergangenen Monaten
       vermutlich so häufig wie kaum eine andere. Doch an der Pandemie und der von
       ihr verursachten Krise ist nichts gut; höchstens Privilegierte profitieren
       auf individueller Ebene. Auch diese Gewissheit wird dazu beigetragen haben,
       dass der feministische Protest 2020 enorm groß war.
       
       Weltweit gingen Feminist:innen für reproduktive Rechte, gegen Gewalt,
       gegen autoritäre Systeme oder für bessere Arbeitsbedingungen auf die
       Straße, vernetzten sich über Ländergrenzen hinweg und zeigten, sich durch
       nichts und niemanden aufhalten wollen zu lassen.
       
       Etwa die Pro-Choice-Bewegung aus Polen, die trotz Repressionsmaßnahmen mit
       Tausenden Menschen auf die Straße ging, zum Streik, zu Blockaden und
       kreativen Protestaktionen in Kirchen und leerstehenden Krankenhäusern
       aufrief. Der Protest richtete sich in erster Linie gegen die Verschärfung
       des Abtreibungsrechtes, doch daraus wurde ein sozialpolitischer Kampf.
       
       So fordern die Demonstrierenden auf den Straßen von Warschau und Poznań
       beispielsweise auch eine komplette Neubewertung der Reproduktions- und
       Pflegearbeit. Denn wenn ein Gesundheitssystem kaputtgespart wird, sind es
       in der Regel die Frauen, die auch diese Form der Mehrarbeit übernehmen.
       
       Proteste weltweit 
       
       Und es ist nicht nur Polen, wo Frauen die Straßen dominieren. Auch die
       [3][Demos in Belarus werden von Frauen angeführt], in Indien kam es zu
       Massenprotesten gegen sexualisierte Gewalt, in Israel fand im August nach
       einer Gruppenvergewaltigung einer 16-Jährigen ein feministischer Streik
       statt. Und in Argentinien wurde Ende Dezember nach monatelangen Kämpfen
       eine historische Abtreibungsreform auf den Weg gebracht.
       
       Es sind die Bilder dieser Proteste, die von diesem Jahr im Gedächtnis
       bleiben werden. Mit Schildern in den Händen, Maske im Gesicht und Wut in
       den Augen auf den Straßen dieser Welt. Die Krise hat offene und versteckte
       Ungerechtigkeiten noch einmal sichtbarer gemacht.
       
       Sie hat gezeigt, dass es nie nur um Geschlecht gehen kann, sondern jede
       Form der Marginalisierung mitgedacht werden muss, wenn man wirkliche
       Gleichberechtigung erkämpfen will. Und sie hat gezeigt, wie wichtig das
       Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten und Kämpfe um Gleichberechtigung sind.
       Wie gut, dass 2020 schon damit begonnen wurde.
       
       30 Dec 2020
       
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