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       # taz.de -- Einblicke ins kriminelle Milieu Berlins: Der Chronist der Unterwelt
       
       > Leo Heller ist es zu verdanken, dass man heute weiß, wie es in den
       > 1920ern im Milieu ausgeschaut hat. Vor 80 Jahren ist der Journalist
       > gestorben.
       
   IMG Bild: Leo Heller
       
       „Zwee Jlas Vollbier, een Prozent stärker als Spreewasser!“ Mit diesem
       flotten Spruch auf den Lippen bringt der Kellner den beiden Herren in der
       dunklen Kaschemmenecke die Getränke. Diese typische Milieubeschreibung ist
       der Einstieg in eine Anekdote, die einer der beiden Männer, der
       Schriftsteller Leo Heller, in seinem Buch „Berliner Razzien“ literarisch
       festhalten wird.
       
       Natürlich weiß der kesse Kellner wie alle anderen Anwesenden auch, um wen
       es sich bei den Gästen handelt. Durch seine Feuilletonartikel über
       Verbrechen in Berlin ist Heller, dessen Todestag sich Ende Januar 2021 zum
       80. Mal jährt, längst stadtbekannt.
       
       Dass der „Schrank“ neben ihm also ein Bulle ist, haben daher auch alle in
       der Kaschemme sofort registriert. Zu seinem eigenen Schutz bringt Heller
       sich nämlich meistens noch einen Polizisten als Bodyguard mit. Heller hat
       einen guten Draht zum Berliner Polizeipräsidium, geht dort praktisch ein
       und aus und ist unter anderem mit den Kommissaren Ernst Engelbrecht und Dr.
       Erich Anuschat befreundet.
       
       Wir schreiben das Jahr 1923. Das Publikum in dem brechend vollen
       Etablissement ist „unter sich“, denn bis auf die beiden Neuankömmlinge sind
       alle der Kategorie Verbrecher zuzuordnen. Der Abend in der nördlichen
       Turmstraße wird für Heller zu einem spannenden Erlebnis. Unter neckischen
       Holztafeln, auf denen zum Beispiel „Wer die Wirtin kränkt, wird gehängt“
       geschrieben steht, erleben Heller und sein Begleiter Menschen, die sich in
       ihrem Freizeitverhalten kaum von anderen unterscheiden, die einer legalen
       Arbeit nachgehen.
       
       „Musike!“ wird gefordert, ein Tusch ertönt, und schon bald legen die ersten
       Paare einen kessen Foxtrott auf’s Parkett, denn ohne Musik im Stammlokal
       geht schon mal gar nichts. Ob Heller selbst auch das Tanzbein geschwungen
       hat, geht aus seinem Text über diesen Kaschemmenbesuch allerdings nicht
       hervor.
       
       ## Unterwegs in dubiosen Kneipen
       
       Leo Heller besucht solche dubiosen Kneipen regelmäßig, hat langsam das
       Vertrauen der Klientel gewonnen und wird mit der Zeit tatsächlich geduldet.
       Die Verbrecher wissen durch seine Artikel, die sie natürlich begierig
       verschlingen, dass er sie nicht mit Vorverurteilung straft, dass er
       tatsächlich ehrlich über sie und ihre fremde Welt berichten will.
       
       „Ich habe ihren Artikel über Berlin N im 8-Uhr-Abendblatt gelesen und mich
       gefreut, endlich einmal eine wenigstens halbwegs vernünftige Ansicht über
       Ganoven in der Presse zu finden“, wird ihm der Taschendieb „Skorpion“ 1929
       schreiben. Für Heller kommt das einem Ritterschlag gleich.
       
       Als Redakteur beim Berliner 8-Uhr-Abendblatt, aber auch als freier
       Mitarbeiter für andere Zeitungen, hat Heller unzählige solcher Artikel
       geschrieben und darin eine Welt verewigt, von denen zwar viele Menschen
       wussten, dass sie existiert, sie aber meist ausblendeten: Menschen am Rande
       der Gesellschaft, die aus wirtschaftlicher Not in die Kriminalität
       abgerutscht waren.
       
       ## Eine Topographie des Verbrechens
       
       Heller schilderte den mitunter engen Radius, in dem sich viele von ihnen
       bewegten: das ärmliche Zuhause, das überfüllte Mietshaus, die
       Obdachlosenunterkunft, die Volksküche und im Ernstfall das
       Untersuchungsgefängnis Moabit oder das Polizeigefängnis. So schuf er auch
       eine Topografie des Verbrechens, bei der sich klar herauskristallisierte,
       welche Gegenden der brave Bürger besser meiden sollte, nämlich unter
       anderem die Gegend um den Schlesischen Bahnhof oder eben Moabit, wo
       Spelunken wie der Albertkeller berühmt-berüchtigt waren.
       
       Auf den dunklen Straßen dieser Viertel lungerten zumeist auch „Spanner“
       herum, die nichts mit Voyeuren zu tun hatten, sondern die die Passanten zu
       dem Besuch eines Nackttanzlokals oder einer Spielhölle animieren sollten.
       
       Heller wollte vor allem den Menschen hinter dem Verbrecher zeigen. Und der
       konnte Humor haben, war schlagfertig, auch sehr gesellig, ging zum Tanz und
       feierte bis zum Morgengrauen. Doch das gefiel nicht jedem. „Er zeigt die
       Deklassierten so, wie sie sind, und überlässt es mit mildem Lächeln dem
       Zuschauer, das alles entweder ekelhaft zu finden oder zu bemitleiden“,
       stand zum Beispiel in der Berliner Nachtausgabe über Hellers Feuilletons.
       
       Doch wie kam Heller, der 1876 in Wien in eine jüdische Fabrikantenfamilie
       hineingeboren wurde, dazu, in Berlin über „Glücksspieler, Nepper sonstiger
       Art, Einbrecher, Räuber, Defraudanten und Nackttänzerinnen“ zu
       berichten, wie er in seinen „Berliner Razzien“ schrieb?
       
       1922 verriet er im Neuen Wiener Journal, dass er wegen des Besuchs eines
       „verpönten Lokals“ von der Schule geflogen sei, er somit also schon als
       junger Mann die Gesellschaft derjenigen Menschen suchte, die er durch seine
       Herkunft gar nicht kennen konnte. Und das zum Entsetzen seines Vaters, der
       ihn gern bis zur Rente als braven Bankbeamten gesehen hätte.
       
       ## Bewusst antibürgerlich
       
       Hellers Herangehensweise war an die Naturalismusbewegung des ausgehenden
       19. Jahrhunderts angelehnt, die Elend und Tabuthemen wie zum Beispiel
       Prostitution bis zur Schmerzgrenze konsequent künstlerisch umsetzte, was
       auch eine bewusst antibürgerliche Haltung darstellen sollte. Ebenso verfuhr
       man um die Jahrhundertwende im literarischen Kabarett Überbrett’l von Ernst
       von Wolzogen, der Heller 1901 eingeladen hatte, für ihn als Textlieferant
       zu arbeiten.
       
       So eilte Heller nach Berlin, um sich dort über 30 Jahre lang dieser sehr
       speziellen Kunstform zu widmen, sei es in Kabaretttexten, Zeitungsartikeln,
       Büchern oder Gedichten. Nach dem Ersten Weltkrieg gelang ihm eine
       künstlerische Weiterentwicklung mit aktuellem Bezug zu der schwierigen
       Weimarer Zeit, in der die Kriminalität in Berlin 1921, wie Heller selber
       schrieb, „erschreckend“ gestiegen war.
       
       Und so wurde er in den 1920er Jahren zum Chronisten der Berliner Unterwelt.
       Er verbrachte viel Zeit in Kaschemmen, sagte auch nicht Nein, wenn
       Kommissar Engelbrecht, der Leiter der Streifmannschaften im
       Polizeipräsidium, ihn einlud, ihn und seine Mannen zu begleiten, wenn die
       mal wieder einen illegalen Spielclub ausheben wollte.
       
       Der neugierige Journalist begutachtete auch die Zustände im „Irrenhaus“ und
       schreckte nicht vor dem Besuch des Leichenschauhauses zurück. Er berichtete
       über „Soldaten-Gustavs Selbstmord“, „Penners Frühling“, über „Mord“,
       „Leichenschmaus“ und den „guten Ton in Verbrecherkreisen“. Die Titelliste
       aus seinen Büchern wie unter anderem „Kinder der Nacht“ und „Berliner
       Razzien“, Sammelbände seiner Feuilletonartikel aus verschiedenen Zeitungen,
       ließe sich noch viel länger fortführen.
       
       Was Hellers Ehefrau Regina derweil über die Leidenschaft ihres Manns
       dachte, ist nicht überliefert. Während die gelernte Hutmacherin ihren
       feudalen Modesalon „Regina Friedländer“ führte – Friedländer war der Name
       ihres ersten Ehemannes –, sehnte sich ihr Mann sogar während des
       Sommerurlaubs „nach den wilden Kreuz- und Querzügen … in den Jagdgründen
       der Diebe, Einbrecher, Zuhälter und Räuber“, wie er gleich am Anfang seiner
       Geschichte „Am ‚Berliner Alex‘“ (im Sammelband „Aus Ecken und Winkeln“,
       1924) freimütig bekannte.
       
       ## In Vergessenheit geraten
       
       1932 verließ Leo Heller nach Reginas Tod Berlin und kehrte zunächst nach
       Teplitz-Schönau zurück, der Heimatstadt seines Vaters, in der er auch
       aufgewachsen war. Dann zog er nach Prag, wo er am 31. Januar 1941 an einer
       Nierenentzündung verstarb. Vorher hatten die Nationalsozialisten 1935
       seinen Roman „Der Liebesrentner“ auf die „Liste des schädlichen und
       verbotenen Schrifttums“ gesetzt, sodass Leo Heller mit der Zeit etwas in
       Vergessenheit geriet.
       
       Doch die Nationalsozialisten haben ihr Ziel nicht erreicht: Seit einiger
       Zeit wird der einst geschmähte Heller wieder neu entdeckt. So gibt es ein
       Programm mit vertonten Heller-Texten von dem in Berlin lebenden
       Akkordeonspieler Dirk Rave und der Sängerin Sophia Brickwell, mit dem die
       beiden nach den derzeiten Einschränkungen wohl auch wieder zu hören sein
       werden. Es heißt nach dem Heller-Buch [1][„Kinder der Nacht“]. Hellers
       Biografie hingegen hat die Autorin dieser Zeilen 2018 in einem
       dreißigseitigen Aufsatz im [2][Jahrbuch für brandenburgische
       Landesgeschichte, Band 69] aufgearbeitet.
       
       29 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=CxRl91GV00E
   DIR [2] http://geschichte-brandenburg.de/lv-neu/veroeffent.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Müller
       
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