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       # taz.de -- Chinesisches Kunstkollektiv in Frankfurt: Modisch gegen Repressionen
       
       > „Mothers of Ultra“ nennt sich ein gewitztes Kollektiv von Künstlerinnen
       > und Näherinnen in China. Der Frankfurter Kunstraum Synnika stellt sie
       > vor.
       
   IMG Bild: Die Künstlerin Miao bei der Materialbeschaffung
       
       Dieser Tage, wo Schaufenster aufgrund geschlossener Türen zu ultimativen
       Sehnsuchtsfiltern werden, genießen Mikro-Ausstellungsorte wie Auslagen und
       Vitrinen plötzlich einen aufmerksamkeitsökonomischen Vorteil gegenüber den
       etablierten Kunsthäusern.
       
       Bei Synnika, dem kollektiv betriebenen „experimentellen Raum für Theorie
       und Praxis“ im Frankfurter Bahnhofsviertel, kann man so aktuell Kunstmode
       (oder Modekunst?) nebst kurzen Videos in einer Schaufensterinstallation
       entdecken. Die Ausstellung „Mothers of Ultra“ zeigt Arbeiten der
       chinesischen Künstlerin und Modeschöpferin Miao und ist zugleich Auftakt
       des Jahresprogramms zum Thema Konversion, das verschiedene Gäste bestreiten
       werden.
       
       Die Mini-Kollektion, die nun im Schaufenster hängt, zeigt fantastische
       T-Shirts, die Achselhaar durch überlange, pinke Fransen imitieren und damit
       unangenehme Nachfragen („Was ist los mit deinem spärlichen Haarwuchs?“,
       fragt beispielhaft der Katalogtext) zum selbstermächtigenden
       Fashionstatement umdeuten helfen sollen.
       
       Modische contraptions wie ein Paar überlanger, feuerroter Strickhandschuhe
       mit Rüschenband in glitzerndem Pink („Möchten Sie auch im Winter kurze
       Ärmel tragen?“) sind zu sehen, Shirts mit eingenähtem Still-BH und
       zauberhafte Kimonos mit zarten Stickereien, collagenhaft als
       Gemeinschaftsarbeit mit Perlen, Motiven und guten Wünschen verziert; die
       langen Arbeitsstunden der einzelnen Künstlerinnen fein säuberlich im
       zugehörigen Text aufgelistet.
       
       ## Geldstrafe bei Schwangerschaft
       
       Dramaturgisch betrachtet lässt sich „Mothers of Ultra“ als Fortsetzung
       einer vorangegangenen Arbeit beschreiben. Im August 2019 war Miao schon
       einmal zu Gast im Projektraum Synnika, diesmal als Teil des Offspaces
       SoengJoengToi (SJT) aus dem südchinesischen Guangzhou, in einer Art
       Kunstkollektiv-Austausch.
       
       Damals ließ die hochschwangere Künstlerin den Frankfurter Stadtraum mit
       Anzeigen plakatieren: „HEIRATE MICH DOCH!!!!!“ stand dort über ihrem
       Porträt geschrieben, darüber eine ausführliche Erklärung der Dringlichkeit
       ihres Vorhabens, ausgehend von dem Satz „Ich bin schwanger und kann mit
       einer Geldstrafe rechnen, wenn ich ein nichteheliches Kind in China
       bekomme“. Von der für sie zuständigen Regierung in einer besonders
       konservativen Provinz des Landes befürchtete Miao Repressalien; in der
       kostspieligen, qua Gesetz nicht für sie zuständigen Metropole Guangzhou
       wiederum keinen Zugang zu Krankenversicherung und Bildungssystem für ihr
       ungeborenes Kind zu erhalten.
       
       Die mit „Heiratsanzeige“ übertitelte Plakatierung war strategisch vermengte
       Kunstaktion – performatives Spiel und pragmatische Lösungssuche, aber auch
       politisches Statement zur Entideologisierung von Mutterschaft, die ja
       reaktiviert wird durch Schlagworte wie Attachment Parenting (deutsch:
       Bindungsorientierte Erziehung) und Ähnlichem, das auch in sogenannten
       alternativen Zirkeln wieder unmittelbar auf den Körper der Frau abzielt.
       
       „Ich denke, dass Kinder von vielen Menschen erzogen werden können“, hielt
       Miao auf den Plakaten dagegen und formulierte damit einen Gegenentwurf zum
       traditionellen Familienmodell.
       
       Ein platonischer Ehepartner mit deutscher Staatsangehörigkeit ließ sich
       nicht rechtzeitig finden. Im Dezember 2019 war der errechnete Geburtstermin
       für Tochter Ah Chao, übersetzt „Ultra“. Heute lebt die Künstlerin Stunden
       von ihrer urbanen Wahlheimat Guangzhou entfernt, wo sie in ländlicher
       Umgebung unverhofft doch ein Modell für sich und andere gefunden hat.
       Zusammen mit einer Gruppe lokaler Näherinnen entwirft und gestaltet sie
       Einzelstücke, oft aus gefundenen oder schlicht gekaperten Materialien, um
       Ah Chao kümmern sich die Frauen gemeinsam.
       
       ## Genähter Anarchogeist
       
       Inzwischen ist man eine Kooperative, zu der weitere Mütter hinzustoßen –
       oder, wie es im Ausstellungskatalog heißt, sich als solche identifizieren.
       Denn biologische Mutterschaft ist keine Voraussetzung: Zur weiteren
       Gemeinschaft gehört unter anderem auch Miaos Muse Abao, der ob seiner
       Care-Arbeit quasi eine weitere „Mother of Ultra“ stellt.
       
       Manche Stücke aus dem so entstandenen Kunst-Mode-Konvolut erinnern an den
       Anarchogeist des belgischen Labels Wild & Lethal Trash, das in den 90er
       Jahren eine ganze Generation an Raverinnen und Ravern ausstattete: Wie das
       Set aus Reißverschlussverzierter Hose, Top und Tasche, das in seinen
       glänzenden Ketchup-Senf-Farben jeder Loveparade zur Ehre gereicht hätte –
       gefertigt aus Plastikbannern, die zum Beispiel Politisches oder
       Luxusapartments bewarben, von denen nur mehr Schlagworte wie
       „Verantwortung“ oder „Risiko“ übrig bleiben. Die Künstlerinnen reißen sie
       ab und funktionieren sie zu Kleidung oder Handtaschen um.
       
       So sind der Kollektion nicht nur universale Fragen nach Mutterschaft, gutem
       Leben und kollektiver (Kunst-) Produktion eingeschrieben, sondern qua
       Materialsuche und Arbeitsprozess auch das massive Stadt-Land-Gefälle Chinas
       und politische Repressionen. Selbst Probleme des urbanen Raums als
       Investmentanlage werden thematisiert.
       
       Neben Mode- zeigt die Ausstellung Videoarbeiten; kurze Clips, auf denen die
       Künstlerin ihre (manchmal rabiate) Materialbeschaffung dokumentiert, den
       Vorstellungsfilm zur Heiratsaktion und ein 90-minütiger Videoessay, den
       Synnika auch online zeigt. Als die Sache mit dem deutschen Ehemann nicht
       klappt, entschließt sich Miao zu einer Hochzeit mit sich selbst und ihren
       fantastisch kostümierten Freundinnen und Freunden. Es wurde ein großes,
       kunstsinniges Fest.
       
       7 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina J. Cichosch
       
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