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       # taz.de -- In der Corona-Warteschlange: Das Prinzip des Anstands
       
       > Menschen stehen derzeit oft in Warteschlangen. Immer wieder posten andere
       > Fotos davon und lästern darüber. Was steckt hinter diesem Phänomen?
       
   IMG Bild: Warten auf den Corona-Schnelltest vor dem Berliner Kitkat-Club
       
       Es ist ein altes Menschheitsphänomen, das dem mutmaßlich bald auf der Erde
       eintreffenden Besuch aus dem All dann wohl sehr possierlich vorkommen wird:
       Menschen, die in Schlangen stehen.
       
       Dabei auf dem Handy schieben, in der Nase popeln, die Uhr in einem nervösen
       Armruck nach vorn vom Gelenk schütteln, auf Ärsche starren oder Babys vom
       Boden ziehen. Kinder zählen dabei die Eissorten auf, die sie zu bestellen
       gedenken, während die Geldstücke in ihrer Hand zu schmilzen beginnen.
       Studis haben Tee dabei.
       
       Es gibt seit je nicht nur Warte-Stereotype, sondern auch Scherze dazu. Über
       die Deutschen etwa, die sich in jede Schlange stellen, die sich ihnen
       bietet, weil sie die Ordnung so sehr lieben, oder über die Engländer, die
       selbst an der Bushaltestelle in Reihe warten.
       
       Die Betrachtung und Ächtung der Schlangenbildung ist allerdings ein etwas
       neueres Phänomen. Denn Familienverliebte kannten das Anstellen aus
       Postämtern in der Vorweihnachtszeit, Vollidioten vor Apple Stores oder
       Sneakerläden.
       
       Aber nun kennt fast jeder eine Schlange aus so ziemlich allen Kontexten von
       Schnelltestzentrum bis Baumarkt, mal mit mehr, mal mit weniger Abstand. Und
       wenn sich mehr Warteschlangen bilden, nimmt auch das Fotografieren selbiger
       zu, samt Weiterverbreitung inklusive Bewertung.
       
       Das Schlangenfoto – sowohl von innerhalb als auch von außerhalb aufgenommen
       – ist ein Hit in den sozialen Medien. In denen, die sich der Empörung und
       des Diskurses widmen als nur der schnöden Schönheit, sind es öfter von
       außen aufgenommene. „Unfassbar“, „Wahnsinn“, „WTF“ steht dann daneben, oder
       ein Emoji schlägt sich gegen die Stirn.
       
       Wer Bilder aus einer Warteschlange heraus postet, braucht eher Mitgefühl
       oder will sich zugehörig machen. Wie die Bilder aus der Schlange [1][vor
       dem Berliner Kitkat-Club], in dem sich viele vor der Weihnachtsheimfahrt
       noch einen Soforttest in die Nase stecken ließen. Sie rufen nach Zuspruch,
       sollen zeigen, dass man die Pandemie irgendwie ernst genommen hat und
       deswegen Warteleid auf sich lud – oder andersherum.
       
       Mal gelten die Engländer, mal die Franzosen als Erfinder der Schlange, die
       als egalitär beschrieben wird, weil hier der Frühaufsteher zuerst mahlen
       konnte und nicht der Reichste. Woher also der Spott? Woher diese
       Faszination für die Menschenschlange?
       
       Die Antwort ist ebenso possierlich wie das Anstehen selbst, denn der Mensch
       interessiert sich vor allem für Warteschlangen, weil er sich für sich
       selbst interessiert. Ein Blick auf und in die Schlange ist ein Blick auf
       das Menschsein, die Sozialisation. Sie ist ein Gradmesser für den Zustand
       der Gesellschaft.
       
       Wer wofür ansteht – Klopapier im März 2020 oder Bananen im Jahr 1971 oder
       Butter im Jahr 1915 – das erzählt etwas über politische Zustände. Gerade
       zum Beispiel: die Bilder von Schlangen an blauen und orangen
       Food-Delivery-FahrerInnen vor den Restaurants der großen Städte. Sie
       erinnern daran, dass die Gewinner der Pandemie die Plattformkapitalisten
       sind und Menschen sich vor dem Virus schützen können, indem sie Ärmere als
       Boten arbeiten lassen.
       
       In so eine Menschenschlange lässt sich also viel hineindeuten. Es lässt
       sich aber auch einiges herauslesen. Die Betrachtung des Menschen in der
       Schlange ist eine Betrachtung seines Charakters. Sag mir, wie jemand in der
       Schlange steht, und ich sage dir, ob er ein Schwein ist. Wer in der
       Schlange steht, spricht nicht laut, am besten gar nicht, schaltet den
       Klingelton seines Telefons ab.
       
       Der Vordrängler gilt als ein besonders mieses Exemplar Mensch, derjenige,
       der Mutter und Kind vorlässt, Bonbons verteilt, beim Ausfüllen von
       Formularen hilft, anstatt die Unvorbereiteten einfach zu überspringen, kann
       sich dafür Applaus im Internet abholen.
       
       Der Tagesspiegel zitierte mal die Anthropologen Joseph Henrich und Robert
       Boyd, die das zivilisierte Anstehen als Fähigkeit der Krone der Schöpfung
       bezeichnen und wissen lassen, dass die „freiwillige Interaktion mit
       Fremden“ die „höchste Form kooperativen Gruppenverhaltens“ sei. Sich im
       Drive-in also nicht in die Stoßstange zu donnern, sich beim Bäcker nicht in
       die Backen kloppen, weil nur noch ein Stückchen Bienenstich da ist –
       Glückwunsch, Mensch, zu dieser Leistung!
       
       Allerdings, die Zivilisation ist dem Menschen ein hohes Gut, deswegen wird
       in der Schlange auch so viel gemaßregelt und Verhalten kontrolliert:
       Versucht da jemand vorzudrängeln? Ist der Abstand nah beziehungsweise in
       den letzten Monaten fern genug?
       
       Wie dünn das Eis unserer Zivilisation wirklich ist, zeigt sich in einem der
       passiv-aggressivsten Sätze, den der Mensch sagen kann: „Entschuldigung,
       stehen Sie an?“ Innerhalb der Schlange steht man sich eher feindselig
       gegenüber, zumindest dann, wenn man das, wofür man da ansteht, gar nicht
       unbedingt braucht.
       
       Wer in der Schlange ein lockeres Gespräch beginnt, das nicht damit zu tun
       hat, die Langsamkeit der MitarbeiterInnen zu beklagen, braucht schon einen
       eher expressiven Charakter. In Warteschlangen bei der Tafel e. V. aber,
       [2][so beschreibt es eine Kollegin auf jetzt.de], würde man plaudern und
       sich einander zuwenden. Das, wofür sie anstehen, ist Grundversorgung.
       
       ## Gemeinsam anstehen ist Zugehörigkeit
       
       Wer gemeinsam in einer Schlange steht, beginnt also nicht unbedingt soziale
       Kontakte, macht sich aber zugehörig zu einer Gruppe. Wer vor dem Louvre
       steht, hofft, sich zu den Kunstkennern zählen zu können, wer in schwarzer
       Kleidung vor dem Berliner Berghain steht, möchte Teil einer Jugendbewegung
       sein.
       
       Daher also auch der Spott. Denn nicht wenige stellen sich in Schlangen der
       Schlange wegen. Wer im Sommer über eine Stunde vor dem Kreuzberger
       Gemüsedönerstand von Mustafa anstand, tat das nicht wegen des Döners,
       sondern weil die Schlange so aussah, als sei das Essen besonders lecker.
       Und nach so langer Wartezeit redet man es sich dann auch einfach ein.
       
       Man muss die Schlange also von beiden Enden betrachten. Die Warteschlange
       steht für Warenknappheit, die DDR etwa wird auch als Unrechtsstaat erzählt,
       weil Menschen dort in Schlangen stehen mussten. Genauso aber wird sie
       eingesetzt, um Verknappung zu suggerieren und damit den Umsatz zu steigern.
       Feine Restaurants brauchen eine kleine Schlange, auch TürsteherInnen vor
       Clubs werden durchaus mal angehalten, sie künstlich herzustellen.
       
       Ein weiterer Grund für die Hassliebe für die Schlange liegt in der Scham.
       Sie ist uns ein bisschen unangenehm, weil sie unser Bedürfnis sichtbar
       macht. Und weil sie uns mit Fragen konfrontiert: Was brauche ich? Und was
       bin ich bereit zu geben?
       
       Wer spotthaft das [3][Foto der Schlange vor dem Münchner Delikatessenladen
       Dallmayr] teilte, die sich kurz vor Weihnachten über den Marienplatz reihte
       – der Boulevard berichtete von 200 Metern –, hat vermutlich auch nur mit
       seiner inneren Konsumscham zu tun.
       
       Und die so teils angeekelte Betrachtung der Warteschlange zeigt vielleicht
       auch, dass wir wissen, dass sie im Coronajahr nicht mehr nur egalitär ist.
       Wer sich anstellt, hat entweder zu viel Zeit, da er vorm Frischeparadies 40
       Minuten wartet, um eine Entenstopfleberterrine zu erwerben, oder zu wenig
       Geld, um outzusourcen. Dann doch lieber die Kamera draufhalten. Das schafft
       Distanz.
       
       11 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ueberlebenskampf-der-Clubs-in-Berlin/!5650104
   DIR [2] https://www.jetzt.de/alltag/wieso-bilden-wir-warteschlangen-und-was-macht-das-mit-uns
   DIR [3] https://www.bild.de/regional/muenchen/muenchen-aktuell/dallmayr-bis-marienplatz-muenchens-laengste-warteschlange-74592910.bild.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Ewert
       
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