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       # taz.de -- Bremer Literaturpreis: Eine überfällige Ehrung
       
       > Marion Poschmann bekommt den Bremer Literaturpreis für ihren grandiosen
       > Gedichtband „Nimbus“. Die Preisverleihung wurde allerdings verschoben.
       
   IMG Bild: Kann Lyrik und Prosa: Marion Poschmann kommt frühestens im Frühling nach Bremen
       
       BREMEN taz | Jetzt bekommt [1][Marion Poschmann] den Bremer Literaturpreis
       am Montag doch nicht – [2][die Preisverleihung wurde wegen der Pandemie auf
       unbestimmte Zeit verschoben]. Sie wird ihn noch bekommen, irgendwann, aber
       das stand ohnehin schon lange fest; lange sogar bevor die Jury im Herbst
       endlich die Entscheidung getroffen hat, dass es diesmal, im Jahr 2021, der
       Gedichtband „Nimbus“ hat sollen sein.
       
       Der hat sich in [3][Oden], [4][Elegien], aber auch völlig freien Formen die
       Aufgabe gesetzt, eine Sprache zu finden für etwas, „das über die
       Perspektive des Einzelnen klar hinausgeht“, wie Poschmann am Telefon
       erklärt. Denn wie spricht man über so etwas wie den Klimawandel?
       
       Pathos ist dafür nötig, denn ein Weltuntergang ist nun mal keine Petitesse,
       aber auch das glatte Gegenteil, Selbstironie, die den hohen Ton
       relativiert, ohne ihn zu zerstören. Es ist knifflig. Es ist schrecklich. Es
       ist grandios.
       
       Die Wahl hat dabei etwas Überfälliges. „Marion Poschmanns Werk hat jede
       Auszeichnung verdient“, hatte Literaturkritikerin Sigrid Löffler bereits
       2013 konstatiert, in Braunschweig, bei der Wilhelm-Raabe-Preisverleihung.
       
       Das war nicht nur so ein schöner und witziger Laudatio-Schlusssatz, sondern
       ein treffender Befund: Die Essener Autorin, die schon lange in Berlin lebt
       und eigentlich ständig irgendwelche Residenzen absolviert, mal in Husum,
       mal in Oldenburg, mal in Japan, nach Sibirien hat man sie auch geschickt,
       legt seit Beginn des Jahrhunderts gut jedes zweite Jahr ein Buch vor, das
       zu den besten der Saison gehört haben wird.
       
       ## Preise für Verlegenheitsmänner
       
       Und der Bremer Preis soll sich ja immer auf ein einzelnes Werk einer
       Autorin beziehen. Oder, wie in 68 Prozent der Fälle seit der Stiftung,
       eines Autors: Mehr als einmal war die Verwunderung dann doch groß, welchen
       Verlegenheitsmann die Preisrichter in jenem Jahr hervorgekramt und aufs
       Podest gehievt hatten.
       
       Aber das kann passieren. Literarische Qualität zeigt sich ohnehin wirklich
       erst beim Wiederlesen nach ein paar Jahren. Und Poschmanns Sachen haben
       sich gut gehalten, auch die Prosa. Da sind Expeditionen in giftige Städte,
       barocke Wende-Romane oder Bücher, in denen ein Bartforscher seinen Traum
       lebt.
       
       Sie beherrscht die Kunst, einen Menschen ganz durch die Tapeten der Räume
       zu charakterisieren, in denen er sein Leben zugebracht hat, und immerhin
       wird der Bremer Literaturpreis [5][jeweils zum Geburtstag des bedeutendsten
       Innenausstatters verliehen], den die Hansestadt je hervorgebracht hat. Das
       hätte doch gepasst. Zupackend erzählt sie, und das alles in einer Sprache,
       die klingt und die Rhythmus hat, sodass manche ihre Erzählungen als
       lyrische Balladen gelesen haben.
       
       Was es trifft, aber andererseits auch komplett daneben ist, genauso wie das
       verrufene Etikett der Naturlyrik, das man nicht erst jetzt ihren Gedichten
       angeklebt hat. Es ist richtig, weil das, was man unterm Mikroskop
       betrachtet, ja als wirklich natürlich gelten muss, genau wie auch der
       [6][barocke Farbton Seladon], dem Poschmann sechs antilyrische Oden widmet.
       
       Und es ist falsch, so wie falsch wäre, den Sonettenkranz „Die Große
       Nordische Expedition in 15 Dioramen“ als in den Band „Nimbus“ eingerückten
       historischen Roman zu lesen. Der er ja ist: Der Zyklus handelt von einer
       der bis heute kostspieligsten Expeditionen, die Erkundung von Sibirien und
       Jakutien.
       
       ## Abgebrannte Welt
       
       Erzählt wird hauptsächlich aus der Perspektive ihres wissenschaftlichen
       Leiters, [7][Johann Georg Gmelin], und die Handlung setzt ein drei Jahre
       nach Beginn der Unternehmung, also 1736, in einem Moment fundamentaler
       Krise. „Die Welt stand still, und Gmelin: abgebrannt“, so lautet, lapidar,
       der erste Vers des ersten, und ganz formkonform auch des letzten Sonetts.
       
       Und er ist wörtlich zu verstehen: Den [8][Brand hat es gegeben]. Am 8.
       November 1733, die Expedition hat Quartier in Jakutsk bezogen, 6.239 Werst
       vom Startpunkt entfernt, und man sitzt abends beim Stadtkommandanten zu
       Tisch, als Sturm geläutet wird. „Wir eilten alle dahin“, schreibt Gmelin in
       seinem Reisebericht, der 1752 in Göttingen erschienen ist, „aber alle Hülfe
       war vergeblich“, das Feuer ist zu heiß, um sich den Flammen nur zu nähern.
       
       Der Gelehrte sieht sich „aller Hülfsmittel zu künftigen Wahrnehmungen,
       vornehmlich der Bücher und Instrumenten, aller meiner vorher verzeichneten
       Beschreibungen und verfertigten Aufsätze auf einmahl beraubet“. Poschmann
       lässt zusätzlich noch die Schlittenhunde entkommen und ein Loch im Schnee
       graben, während sie das ganze Verhängnis ausbreitet: „Die Gelder der
       Akademie – verpufft, / trieben als Asche in der kalten Luft / und sanken
       sanft in seine leere Hand.“
       
       Über die Reime ist zu reden. Denn geradezu bösartig schief klingen manche,
       wie eine mutwillig in ein Symphoniekonzert eingeschmuggelte
       Plastikblockflöte zum Beispiel, noch um fiese Assonanzen ergänzt, im
       vermaledeiten 13. Sonett. Da heißt es dann: „Croyère kam vom Polarmeer /
       nie mehr zurück. In Tjumen stürbe Steller“, also Wilhelm Steller, der
       Naturforscher, der mit der Sehkuh, der wenig später ausgerotteten, denn der
       war auch im Team.
       
       Die vom Reim erzwungene Akzentverlagerung ist ein tolles Mittel, um Komik
       zu erzeugen. Und eine kluge Ironie, von der gar nicht gesagt werden kann,
       was sie denn ernst meint und wohin ihr Spott zielt, entspringt dem Umgang
       mit der historischen Form.
       
       Sie hat in etwa die Funktion, wie bei Daniel Kehlmann die penetrante
       indirekte Rede im Roman „Die Vermessung der Welt“, bloß macht es einen
       Heidenspaß, sich lesend in ihr zu bewegen. Und es sagt noch etwas mehr.
       
       „Ursprünglich“, sagt Poschmann am Telefon, „wollte ich ein längeres Gedicht
       schreiben, das mit der Formlosigkeit spielt.“ Warum es dann zum genauen
       Gegenteil gekommen ist, „kann ich auch nicht mehr rekonstruieren“. Ein
       Sonett ist ein Gedicht aus zwei Quartetten und einem Sextett, weiß man. Und
       reimt sich.
       
       Sonettenkränze aber gibt es in der deutschen Dichtung kaum. Im
       italienischen Barock entsteht die Form als „Corona di sonetti“, und dort
       und in England hat sie meist panegyrische Funktion: In ihrer strengen
       Variante, bei der jeweils der letzte Vers eines Gedichts auch der erste des
       nachfolgenden ist, besteht sie – logisch – aus 14 Gedichten plus einem
       weiteren, dem Magistrale, das sich aus den 14 Schlussversen seiner
       Vorgänger zusammensetzt. Ein raffiniertes Spiel für feierliche Anlässe: Es
       geht um Huldigungen toter oder Bejubelungen frisch geborener, um Krönungen
       halt: Corona halt.
       
       Dem vergessenen Pioniergeist, der einen Beginn der Aufklärung markiert,
       Kränze zu winden, das ist ein gerechtes Anliegen. Er täte irgendwo ja auch
       not – um das zu bekämpfen, was seine destruktiven, kolonialistischen
       Antriebe vollbracht haben, der Unterwerfungs-, Erschließungs- und
       Vernichtungsdrang: „Viel später würde Öl durch Röhren fließen“, weitet sich
       der Blick am Ende zur Vision, „der Wal des Tiefschlafs, schwerer Traum vom
       Fliegen. / Sibirien blieb weiß und unbekannt, / ein Ungeheuer, das den
       Raum, die Zeit / verschlang und wieder ausspie. Seid bereit.“ Im Grunde
       steht man wieder wie am Anfang da, das ist das Gesetz der Form, mit leeren
       Händen und Gmelin abgebrannt. Eine Katastrophe. Damals hieß sie noch
       Fortschritt.
       
       15 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.suhrkamp.de/autoren/marion_poschmann_8096.html
   DIR [2] http://www.rudolf-alexander-schroeder-stiftung.de/feierliche-verleihung-des-66-bremer-literaturpreises-im-bremer-rathaus-2-2/
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Gottlieb_Klopstock
   DIR [4] https://wortwuchs.net/elegie/
   DIR [5] /Geschichtsgutachten-ueber-einen-Autor-im-Dritten-Reich/!5127454
   DIR [6] https://astree.tufts.edu/_analyse/accueil.html
   DIR [7] https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Georg_Gmelin_(Entdecker)
   DIR [8] https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN249663929?tify=%7B%22pages%22%3A%5B502%5D,%22panX%22%3A0.458,%22panY%22%3A0.476,%22view%22%3A%22thumbnails%22,%22zoom%22%3A0.734%7D
       
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