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       # taz.de -- Literaturhäuser im Lockdown: Was alles trotzdem geht
       
       > Einige Literaturhäuser im Norden wollen sich nicht in einen frühzeitigen
       > Winterschlaf begeben – und machen digitale Angebote. Ein Überblick.
       
   IMG Bild: Die Zuschauer*innen sind anderswo: Ingo Schulze (r.) gastiert unter Coronabedingungen
       
       Bremen taz | Draußen wütet pandemisch ein Virus, zum wenig märchenhaften
       Dornröschenschlaf ist das öffentliche Leben verdammt. Wenn Distanzierung
       der neue kategorische Imperativ verantwortungsvollen Handelns ist, drängt
       sich der intime Dialog mit einem Buch geradezu als Fluchtmöglichkeit auf.
       Ist 2020 das Jahr, in dem das Lesen wiederkam? Vielleicht. Bis zum August
       machte der Buchhandel laut Media Control zwar ein Minus von 21,1 Prozent
       gegenüber dem Vorjahr, aber dieses Defizit wurde bis zum 1. Advent auf
       rund sieben Prozent reduziert: Seit September ließ der Lesehunger
       kontinuierlich die Buchverkaufszahlen steigen.
       
       Hinderlich dabei, dass beispielsweise umsatzfördernde Veranstaltungen der
       Bibliotheken und Literaturhäuser derzeit unmöglich sind.„Der komplette
       Kulturlockdown seit dem 2. November war für uns alle ein Schock,“ sagt Anja
       Johannsen, Leiterin des [1][Literarischen Zentrums Göttingen]. Einige
       Institutionen verfielen daraufhin in eine Art frühzeitigen Winterschlaf.
       Andere zeigen seitdem, was alles trotzdem geht.
       
       Im Sommer veranstalteten Johannsen und ihr Team etwa ein
       Umsonst-&-Draußen-Spektakel: Aus Fenstern wurden Manifeste, Wutausbrüche
       und Mut spendende Sätze gegen die Vereinzelung rezitiert – bis heute wird
       der Göttinger Stadtraum mit Krisenzitaten von Schriftsteller*innen
       beschrieben, ganz altmodisch auf Plakaten.
       
       Die Krise als Brennglas für gesellschaftliche Fragen zu nutzen, auch das
       versuchte man in der so gern auf die Aufklärung sich berufenden
       Universitätsstadt: Im [2][Podcast „Göttinger Krisengespräche“] sprach etwa
       schon taz-Vizechefredakteurin Katrin Gottschalk mit dem Theoretiker Klaus
       Theweleit über Kriegsrhetorik und den Rückfall in alte Gender-Rollen durch
       Corona.
       
       Die Coronahilfsgelder von Bund und Ländern investierten fast alle Häuser –
       nicht nur in Desinfektionsmittel, sondern auch in Technik. „Wir wurden dazu
       genötigt und sind so zwangsläufig in die digitale Zukunft gebeamt worden“,
       sagt etwa Rainer Moritz, Leiter des [3][Literaturhauses Hamburg], „das war
       gar nicht so falsch.“ Vor allem wurde dort Video-Equipment angeschafft.
       „Kameraführung, Bildregie, Filmschnitt und das ganze technische Know-how,
       das müssen wir noch lernen“, ergänzt Johannsen: Man habe „ja keinen Etat,
       dafür dauerhaft Profis einzukaufen“. Es sei aber wichtig, dem wachsenden
       Anspruch des Publikums nachzukommen.
       
       ## Erst mal das Homeoffice ermöglicht
       
       Das [4][Literaturhaus Hannover] konnte keine Kameras kaufen, erst mussten
       Laptops her, um überhaupt das Arbeiten im Homeoffice zu ermöglichen. So
       kommt die Weihnachtslesung, zu der sonst Lebkuchen und Apfelpunsch mit
       einem Schuss Calvados gereicht wurden, als Audiodatei ins Netz. Die
       „Buchlust“, die Messe für unabhängige Verlage, musste Literaturhausleiterin
       Kathrin Dittmer komplett absagen; stattdessen kann sie gerade mal die
       Lesetipps der (verhinderten) Aussteller*innen in den sozialen Medien
       teilen. Fixiert ist allerdings die [5][„Literatour Nord“-Lesereise],
       coronabedingt als Web-Serie, gestaltet von werdenden
       Fernsehjournalist*innen der Hochschule Hannover – in bemerkenswert
       bieder-sterilem Studio-Setting.
       
       Inhaltlich spannender: die in Göttingen initiierte Stream-Reihe
       [6][„Unbehagen in der Fiktion“]. Aus dem kleinen Hype um Autor*innen wie
       Karl Ove Knausgaard, Didier Eribon, Margarete Stokowski, Annie Ernaux und
       Saša Stanišić, die „autofiktional“ schreiben, also etwa semidokumentarische
       Memoiren oder persönliche Essays, wird da die These abgeleitet, es gebe ein
       neues Verlangen nach Authentischem in der Literatur.
       
       Wer einfach nur fabuliere, habe vielleicht Angst, sich mit den
       „alternativen Fakten“ eines Donald Trump gemein zu machen, sagt Anja
       Johannsen. Bei den Veranstaltungen habe man online mehr Zuschauer*innen
       gehabt als analog im Haus möglich gewesen wären. „Wir wollen das Internet
       auch nutzen, Live-Übersetzungen anzubieten“, sagt Johannsen. Abgefilmte
       Lesungen findet sie entschieden weniger relevant: „Lesen kann man
       schließlich selber.“
       
       Dass man derzeit ohne Einnahmen klarzukommen hat, wird überall bedauert.
       Nicht positiv machte sich in der Kasse des Literaturhauses Hamburg auch
       bemerkbar, dass vom 3. Juni bis Ende Oktober das Live-Prinzip
       aufrechterhalten wurde, man aber nur für 40 der 140 vorhandenen Plätze auch
       Karten verkaufen durfte. „Jede Lesung war ein Verlustgeschäft“, sagt Rainer
       Moritz. „Die Honorare sind ja nicht geringer, die Kosten für Technik aber
       viel höher.“ Man komme aber „bis Anfang 2021 mit einem blauen Auge davon“.
       
       Seit September bot das Haus für jede Veranstaltung Streaming-Tickets an,
       Preis: 5 Euro – und zuletzt die einzige Möglichkeit überhaupt,
       teilzunehmen. „Das Publikum macht tapfer mit“, sagt Moritz, „etwa 150
       Menschen haben sich online eingebucht, als wir kürzlich im leeren Saal
       Buchempfehlungen aufgenommen haben.“ Auch bei einer Zoom-Konferenz mit
       Fachleuten in Zürich, Berlin und Hamburg über philosophisch wichtige Bücher
       des Jahres sei die Nachfrage groß gewesen. Ab Januar will man bei beiden
       Formaten das Publikum per Chat oder Zoom-Freischaltung zum Mitreden
       einladen. Bereits jetzt ist ein Format online gegangen, das fortgeführt
       werden soll: Bei „Zugabe“ laden Autor*innen drei Wochen nach einer Lesung
       15 Menschen ein, Fragen zu stellen.
       
       Besonders vielfältig sind die Angebote in Bremen, schließlich will sich die
       Hansestadt um die Unesco-Auszeichnung „City of Literature“ bewerben. Das
       [7][virtuelle Literaturhaus] ist bereits seit 2005 online und kann mit
       einem Audioarchiv prunken – vor allem von Radio Bremen produzierte
       Podcasts, Lesungen und Gespräche. Zum Lesen und Gucken lädt wiederum das
       [8][Online-Stipendium „Netzresidenz“] ein, das die Greifswalder Autorin
       Berit Glanz gewonnen hat – die nun Computer dichten lässt.
       
       ## Künftig mehr Internet-Angebote
       
       In der Coronazeit hat das auch physisch in Bremen verortete
       [9][Literaturkontor] „nicht weniger gemacht als sonst“, sagt
       Geschäftsführer Jens Laloire, „die Arbeit ist nur aufwendiger“: Anfang
       April antizipierte sein Team den Streaming-Overkill und setzte auf andere
       Formen. „Bei Anruf Lyrikrezitation“, das war so ein Angebot. Und
       Schriftstellerin Betty Kolodzy lud ein, ihr Briefe zu schreiben – über 50
       Zusendungen wurden damals beantwortet.
       
       Richtig gedruckt wurde derweil die neue Ausgabe einer Buchreihe mit
       frischen Texten von Bremer Autor*innen. Einige schreiben auch im
       [10][Corona-Blog], andere leiten Schreibwerkstätten per Zoom oder
       beteiligen sich am [11][Podcast „Bremen liest“]. Autorinnen-Lesungen der
       ausgezeichneten Reihe „Out loud“ gibt es als Video-Livestream oder zum
       Nachhören. „Zukünftig werden wir mehr im Internet machen als vor Corona“,
       resümiert Laloire. Als nachhaltigen Start in die Digitalisierung hat die
       Coronakrise bei den Literaturhäusern also vielleicht sogar auch etwas
       Positives.
       
       NaN NaN
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.literarisches-zentrum-goettingen.de/
   DIR [2] https://www.literarisches-zentrum-goettingen.de/programm/reihen/#gottinger-krisengesprache-podcast
   DIR [3] https://www.literaturhaus-hamburg.de/
   DIR [4] https://www.literaturhaus-hannover.de/
   DIR [5] https://www.literaturhaus-hannover.de/projekte/literatour-nord.html
   DIR [6] https://www.literarisches-zentrum-goettingen.de/programm/2020-3/hauptprogramm/item-47/
   DIR [7] https://www.literaturhaus-bremen.de/
   DIR [8] https://www.beritglanz.de/netzresidenz/
   DIR [9] https://literaturkontor-bremen.de/
   DIR [10] https://literaturkontor-bremen.de/corona-blog/
   DIR [11] https://literaturkontor-bremen.de/category/bremen-liest-audio/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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