URI: 
       # taz.de -- Neues Album von Taylor Swift: Mehr böser Wolf wäre besser
       
       > Mit ihrem neuen Album „Evermore“ geht Taylor Swift unter die
       > Märchenerzählerinnen. Die Musik des US-Superstars ist orchestral üppig.
       
   IMG Bild: Definitiv kein Postergirl der Alt-Right-Bewegung: Taylor Swift
       
       Wer steigt aus einer Trauerweide, wohnt mit einem alten Klavier und einem
       Schaukelstuhl? [1][US-Sängerin und Songwriterin Taylor Swift], die vor
       einigen Tagen mit „Evermore“ innerhalb eines Jahres ihr zweites Album
       veröffentlicht hat, lebt in einem geschichtsträchtigen Haus auf einem Hügel
       im kleinsten Ostküsten-Bundesstaat Rhode Island. Im Video zum Albumauftakt
       „Willow“ allerdings ist Swift tatsächlich als Baummädchen zu sehen, das
       sich auf Brautschau macht und sein Publikum auf den Märchenpfad schickt.
       
       Der Song kommt mit seinem Kammerpop-Arrangement ausgesprochen wohlgefällig
       daher: Da sind elektrische und akustische Gitarre, Drumcomputer und
       Perkussion, Piano, Streicher, Flöte, French Horn und Glockenspiel. Ganz so
       zuckersüß, wie das klingt, ist Taylor Swifts Country-Pop-Entwurf dann aber
       doch nicht. Es ist die Sorte von Popmainstream, bei der es sich empfiehlt,
       mehrmals hinzuhören und hinzuschauen.
       
       Im „Willow“-Videoclip muss Swift mehrere Male abtauchen, in den Untergrund
       gehen, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Sie steigt in das Klaviergehäuse,
       gelangt von dort an ein Flussufer, taucht dem Spiegelbild ihres viele Male
       verschwindenden Geliebten hinterher, wird in ihre Kindheit zurückversetzt
       und findet sich im Schaukasten eines Jahrmarkts wieder.
       
       Nun konnte auch Schneewittchen im Märchen der Brüder Grimm den Glassarg
       verlassen und ihren Prinzen heiraten, bei Taylor Swift braucht es aber mehr
       als sieben Zwerge, von denen einer stolpert: Swift steigt ein letztes Mal
       hinab und schließt sich einem okkult anmutenden Ritualzug an, der in einen
       ekstatischen Ringtanz in einem Winterwald mündet. Sie ist die einzige der
       Kuttencrew, die keine Maske trägt, und zum glücklichen Ende gelangt sie,
       indem sie sich absondert. Nicht schlecht, wobei nicht alle der Songs auf
       „Evermore“ so gut ausgehen.
       
       ## Kerzen, Schreibhefte, eine Teetasse
       
       Was überhaupt ist mit den Popsängerinnen los? Taylor Swifts drei Jahre
       ältere [2][Landsfrau Lady Gaga] überraschte beispielsweise in diesem Jahr
       mit ihrem „911“-Video, das ausgiebig Motive des sowjetischen Verbotsfilms
       „Die Farbe des Granatapfels“ (1969) von Sergei Paradschanow zitierte. Bei
       Swift sind es Insignien der Innerlichkeit, mit denen die immerhin 15
       Lyrics-Videos zum kompletten „Evermore“-Album ausstaffiert sind: Kerzen,
       Schreibhefte, leere Bilderrahmen und eine Teetasse. Wenn der Blick nach
       außen geht, dann trifft er auf eine Winterlandschaft, ein verlassenes
       Riesenrad oder einen unmerklich zitternden Meereshorizont.
       
       Wenn sich in Swifts neuen Songs Menschen verlassen und Kindheitslieben
       enden, wird das von getragenen Pianoklängen umspielt. Geht es hier um
       Luxusprobleme, „Champagne Problems“, so der Titel des zweitem Songs? Es
       gibt Probleme, die verlangen nach Dom-Perignon. Und das Album hat seine
       Ausbrecher. „Closure“ beispielsweise, auch er ein Trennungssong, basiert
       auf einem nervösen, verschachtelten Maschinenbeat, über dem Swift lakonisch
       protokolliert: „Yes, I got your letter / Yes, I’m doing better.“
       
       Das muss reichen, und gerade darin scheint der Sturm und Drang verborgen.
       Es sind Momente wie dieser, in denen sich andeutet, dass es in dieser immer
       noch mehrheitsfähigen Musik um mehr geht.
       
       ## Der schleichende Verdacht
       
       Der beste Song des Albums ist sein unheimlichster: „No Body, No Crime“,
       unterstützt durch das kalifornische Poprock-Trio Haim. Die mit Lap Steel
       Guitar, Mandoline, Orgel und Harmonika gerahmte Geschichte berichtet von
       vier Frauen, einem untreuen Ehemann und zwei Morden. Swift umreißt das
       Geschehen mit kargen, treffenden Sätzen: den schleichenden Verdacht, die
       schreckliche Entdeckung und wie die Ich-Erzählerin zur Rächerin ihrer
       Freundin wird. Das Video dazu zeigt einen dunklen Tann mit Nebelschwaden,
       davor einen Waldsee. Er scheint sehr kalt und sehr tief zu sein.
       
       Wo „Evermore“ weniger lieb klingt, ist es ein vielversprechendes Album. An
       dieser Stelle einige Anmerkungen: Taylor Swift bezeichnet „Evermore“ als
       Schwester des ein halbes Jahr vorher erschienenen Albums „Folklore“ Eine
       gleichnamige Veröffentlichung gab es 2002 schon einmal, so hieß auch der
       Schwanengesang der 16 Horsepower. Countrymusik ist alles andere als
       zwangsläufig reaktionär. Die Liebe, die Vertreter der US-amerikanischen
       Alt-Right Taylor Swift angetragen haben, hat die Künstlerin nicht erwidert.
       
       Und weil sich auf „Evermore“ ein „Rotkäppchen und der böse Wolf“-Song mit
       der Indie-Band The National findet, sei Taylor Swift für die Zukunft noch
       ein Duett-Partner empfohlen, nämlich der schräge Songwriter und
       Umzugsunternehmer Johnny Dowd. Dessen Alben bevölkern proletarische
       Untergeher und Jazz- und Gospelklassiker wie Billie Holiday und Thomas
       Dorsey. Leute, die aus dem verstaubten Röhrenradio in Taylor Swifts
       Rumpelkammer in der Einsamkeit kommen könnten.
       
       17 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aktivismus-von-Taylor-Swift/!5619407
   DIR [2] /Neues-Album-Chromatica-von-Lady-Gaga/!5690958
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Mießner
       
       ## TAGS
       
   DIR Neues Album
   DIR Musik
   DIR Pop
   DIR Märchen
   DIR Country
   DIR Taylor Swift
   DIR Pop
   DIR Verfilmung
   DIR Musik
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Indie
   DIR Miley Cyrus
   DIR Musik
   DIR Popmusik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Pop-Superstar Taylor Swift: „It’s me, hi. I’m the problem“
       
       Die US-Sängerin Taylor Swift bricht zurzeit alle Rekorde. „Ich bin’s,
       hallo. Ich bin das Problem“, singt sie. Warum ist sie damit so erfolgreich?
       
   DIR Verfilmung eines Bestseller-Melodrams: Viel Romantik, ein bisschen Darwin
       
       Die filmische Adaption von „Der Gesang der Flusskrebse“ könnte ein
       leichtherziger Sommer-Blockbuster sein. Wäre da nicht die ideologische
       Färbung.
       
   DIR Porträt der Berliner Sängerin Mine: Diese ganze Zerrissenheit
       
       Das Private und das Politische verbinden sich in den Songs von Mine mit
       Hitqualitäten. Zu hören auf ihrem neuen Album „Hinüber“.
       
   DIR Korruptionsverdacht bei Grammys: Das bisschen Symbolpolitik
       
       Undurchsichtige Entscheidungen und Doppelmoral: Die Kritik an den Grammy
       Awards wird lauter. Nun wurden auch noch sinkende Einschaltquoten publik.
       
   DIR Tiñas „Positive Mental Health Music“: Sprechen, ohne sich zu schämen
       
       Es ist befreiend, als Mann in Pink aufzutreten. Mit ihrem neuen Album
       versucht die Londoner Band Tiña, in einer entfremdeten Welt Halt zu finden.
       
   DIR Neues Album von US-Sängerin Miley Cyrus: Engel mit Schmirgelpapierstimme
       
       US-Popstar Miley Cyrus macht auf ihrem neuen Album „Plastic Hearts“ in Rock
       – mit Joan Jett und Billy Idol als Gästen.
       
   DIR Neues Album von Rapper Weekend: Schmeckt nach Aschenbecher
       
       Kritik an der Szene: „Lightwolf“, das neue Album des Gelsenkirchener
       Rappers Weekend, ist ein Abgesang auf toxische Männlichkeitsbilder.
       
   DIR Neues Album „Chromatica“ von Lady Gaga: Selbstheilung durch Plastikpop
       
       Lady Gaga geht musikalisch ständig neue Wege. Auf ihrem neuen Album
       „Chromatica“ ist sie auf der Suche nach sich selbst im Eurotrash gelandet.