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       # taz.de -- Ukrainischer Politiker gestorben: Populär und mit Hang zur Unterwelt
       
       > Der langjährige Bürgermeister der zweitgrößten ukrainischen Stadt
       > Charkiw, Gennadi Kernes, ist in Berlin gestorben – an den Folgen von
       > Covid-19.
       
   IMG Bild: Gennadi Kernes im Oktober 2015
       
       Kiew taz | Langweilig war es nie mit dem umtriebigen, charismatischen,
       undurchsichtigen, immer auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzenden,
       Oberbürgermeister der zweitgrößten Stadt der Ukraine, [1][Charkiw], Gennadi
       Kernes. Und wer den 61-Jährigen einmal gesehen hat, wird nie wieder die
       listigen Gesichtszüge des Mannes vergessen, der immer einen oder zwei Züge
       weiter dachte, als seine Gegenüber.
       
       Kernes wäre noch mehrere Jahre Bürgermeister der Stadt Charkiw geblieben,
       doch es sollte nicht sein. Am 17. Dezember starb er in der Berliner Charité
       an der Folgen einer Infektion mit dem Coronavirus.
       
       Der verheiratete Vater dreier Kinder war immer für Überraschungen gut.
       Unvergessen bleibt seine Bemerkung gegenüber seinem Vorgänger im
       Bürgermeisteramt Michael Dopkin, mit dem er ein Wahlkampfvideo
       aufzeichnete. Mitten in dem auf Youtube abrufbaren Video ist Kernes´
       verzweifelte Stimme zu hören: „Mischa, du hast ein langweiliges Gesicht.
       Dir wird niemand Geld geben.“
       
       Das war 2005. Fünf Jahre später wurde Kernes, der Dopkin noch wenige Jahre
       zuvor bereitwillig bei dessen Wahlkampf unterstützt hatte, selbst
       Bürgermeister. Seit seinem Amtsantritt sind die Präsidenten der Ukraine
       gekommen und gegangen, Kernes jedoch blieb.
       
       ## Auf der Seite der Sieger
       
       Während der Maidan-Revolte Ende 2013 und Anfang 2014 zeigte der listige
       Kernes, der sein Berufsleben als Uhrmacher und Näher begonnen hatte und
       sich dann zu einem der einflussreichsten Unternehmer von Charkiw
       hochgearbeitet hatte, dass er gerne auf der Seite der Gewinner steht: hatte
       er anfangs die russlandfreundliche „Anti-Maidan-Bewegung“ und
       Noch-Präsident Wiktor Janukowitsch unterstützt, wandte er sich von
       Janukowitsch ab, kaum dass dieser das Land verlassen hatte.
       
       Einmal hatte er einem Aktivisten, der Lenin-Denkmäler schliff, angedroht,
       ihm beide Hände und Beine zu brechen, wenn er derartiges auch in Charkiw
       vorhaben sollte. Doch als dann Lenin tatsächlich im Zentrum von Charkiw von
       seinem Podest gestoßen wurde, mischte sich Kernes nicht ein.
       
       Der wohl einschneidendste Tag im Leben des Hobby-Sportlers Kernes, der am
       12. April 2014 den Halbmarathon von Charkiw mit einer Stunde und 44 Minuten
       absolviert hatte, war der 28. April 2014. An diesem Tag traf ihn die Kugel
       eines bis heute flüchtigen unbekannten Täters.
       
       Seit diesem Tag war er an den Rollstuhl gefesselt. Mehrmals hatte er
       öffentlich vermutet, hinter diesem Attentat stehe sein langjähriger
       Widersacher, der ebenfalls aus Charkiw stammende amtierende Innenminister
       und einstige Gegenkandidat bei den Wahlen zum Bürgermeister, Arsen Awakow.
       
       ## Aufs falsche Pferd gesetzt
       
       Zwei Mal hatte Kernes aufs falsche Pferd gesetzt: Bei den
       Präsidentschaftswahlen 2019 hatte er offen den amtierenden Präsidenten
       Petro Poroschenko unterstützt, bei den Parlamentswahlen 2019 war er die
       Nummer Drei auf der Liste des russlandfreundlichen „Oppositionsblockes“.
       Doch der schaffte nicht einmal die Fünfprozenthürde.
       
       Am 25. Oktober 2020 wurde Kernes erneut im ersten Wahlgang wiedergewählt,
       mit 60 Prozent der Stimmen. Und dies, obwohl er im Wahlkampf
       krankheitsbedingt nicht in der Öffentlichkeit zu sehen war.
       
       Es ist erstaunlich, dass ein Mann, der wegen Betruges zwei Jahre in Haft
       gesessen und eine Vorliebe für vulgäre Ausdrücke und Ganovensprache hatte
       sowie als eiskalter Geschäftsmann mit Verbindungen zur Unterwelt galt,
       ausgerechnet in der Universitäts- und Akademikerstadt Charkiw zehn Jahre
       lang das Machtmonopol innehatte.
       
       Beliebt war Kernes nicht nur, weil er das Stadtbild mit Bauten und Parks in
       seiner Amtszeit verschönert hatte. An zahlreichen Medien besaß er
       entscheidende Anteile. Und diese Medien lobten Stadtvater Kernes gerne über
       den grünen Klee. Sie müssen sich jetzt einen neuen Helden suchen.
       
       17 Dec 2020
       
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