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       # taz.de -- Linken-Chefin Kipping über R2G: „Diejenige mit mehr Substanz“
       
       > Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping hält Grünenchefin Annalena Baerbock
       > für eine geeignete Kanzlerkandidatin. Etwas Entscheidendes fehle Grünen
       > und SPD jedoch.
       
   IMG Bild: Katja Kipping, Parteivorsitzende der Partei Die Linke
       
       taz: Frau Kipping, im Sommer haben Sie erklärt, Sie werden den
       Parteivorsitz abgeben. Nun sind Sie immer noch Parteivorsitzende der
       Linken. Wie fühlt sich das an? 
       
       Katja Kipping: Emotional ist dieses Jahr eine ganz schöne Achterbahnfahrt
       gewesen. [1][Ich hatte mich schon auf den letzten Tag im Büro vorbereitet],
       auf die Schlüsselübergabe und die Abschiedsfeier mit dem engsten Team. Und
       dann mussten wir kurz vorher nochmal alles umplanen. Aber ich will mich
       nicht beschweren. Die größte Herausforderung bestand ja darin, dass wir
       eine Lösung für den Parteitag finden, die auch mit Corona und Lockdown
       kompatibel ist. Das ist uns ohne öffentlichen Streit gelungen. Da muss ich
       gleich mal auf Holz klopfen, dass der Parteitag dann auch Ende Februar
       läuft.
       
       Sie planen nun eine zentrale Wahlarena und 15 kleinere Präsenzparteitage.
       [2][Die CDU hat sich für eine rein digitale Variante entschieden.] Wäre es
       nicht vernünftiger, ebenfalls darauf zu setzen? 
       
       Die CDU wählt ja nur einen Vorsitzenden neu und macht anschließend eine
       Briefwahl. Wir wählen den gesamten 44-köpfigen Vorstand. Per Briefwahl
       würde sich das über drei Monate ziehen. Und deswegen haben wir uns für die
       Kombination aus digital und dezentral entschieden, ein bisschen so wie beim
       European Song Contest.
       
       Sind Sie zuversichtlich, dass das klappt? 
       
       Ja, da sind wir sehr sicher, weil in keinem Saal über 100 Leute sein werden
       und die Fahrtwege nicht weit sind.
       
       Wissenschaftler:innen haben gefordert, den jetzt geltenden strengen
       Lockdown zu verlängern. Würde das den Linken-Parteitag betreffen? 
       
       Nein, weil wir Teil der demokratischen Willensbildung sind.
       
       Stellen Sie sich hinter die Forderung, den strengen Lockdown durchzuhalten? 
       
       Ich teile den Ansatz, den das Max-Planck-Institut entwickelt hat. Es muss
       schnell gelingen, die Infiziertenzahlen wieder auf unter 1.000 am Tag zu
       drücken, um so die Nachverfolgung von einzelnen Infektionsketten möglich zu
       machen. Das Ziel muss sein, soziales und kulturelles Leben wieder zu
       ermöglichen und dafür lieber einmal einen konsequenten und gerechten
       Lockdown durchzuführen.
       
       Was meinen Sie mit gerechtem Lockdown? 
       
       Der Staat soll nicht nur gegenüber Privatleuten konsequent sein, sondern
       auch gegenüber großen Unternehmen und Arbeitgebern. Dort wird immer noch
       enorm geschlampt beim Infektionsschutz. Wir brauchen jetzt ein Recht auf
       Homeoffice und mehr Busse und Bahnen im Berufsverkehr, damit dort der
       Abstand eingehalten werden kann. Und wir brauchen eine verlässliche
       Abfederung von sozialen Härten.
       
       Sollten Schulen und Kitas geschlossen bleiben? 
       
       Ich bin sonst sehr energisch, aber bei den Schulen fällt mir die Forderung
       nach Schließung menschlich und politisch am schwersten. Und zwar
       zuallererst mit Blick auf die Kinder, die zu Hause weniger Unterstützung
       erfahren. Wir wissen ja aus dem letzten Lockdown, dass jedes vierte bis
       fünfte Kind nicht durch die Angebote erreicht wurde. Selbst wenn sich die
       digitalen Angebote verbessert haben, es gibt nach wie vor eine digitale und
       soziale Spaltung. Deshalb sollte es das erste Ziel sein, die Schulen wieder
       zu öffnen.
       
       Als Mutter einer neunjährigen Tochter wären Sie auch persönlich betroffen,
       wenn die Schulen länger geschlossen blieben. 
       
       Für uns wird das zwar stressig, aber wir sind in der privilegierten
       Situation, dass beide Großmütter selber Lehrerinnen waren. Sie springen zur
       Not per Skype ein.
       
       Im Frühjahr hofften viele noch, die Krise könnte zur Chance werden. Am Ende
       des Jahres muss man sagen: Verändert hat sich wenig. Die Arbeitsbedingungen
       in den systemrelevanten Berufen sind hart, der Verdienst schlecht. Woran
       liegt das? 
       
       Die jetzigen Mehrheiten im Bundestag werden immer verhindern, dass das
       getan wird, was jetzt notwendig ist, um nicht nur sicher durch die Krise zu
       kommen, sondern um danach auch ein echtes gesellschaftliches
       Wohlstandsmodell zu erreichen.
       
       Sie plädieren für einen New Deal nach dem Vorbild von Franklin D. Roosevelt
       in den 30er Jahren: Mit sozialen Hilfen, staatlichen Investitionen und
       einer Regulierung der Finanzkräfte. Zumindest die staatlichen Hilfen sind
       doch aber schon sehr großzügig. Die Krise wird den Staat wohl 1,5 Billionen
       Euro kosten, wie Ihre Fraktion selbst erfragt hat. Ist das zu wenig? 
       
       Das ist ja nicht nur eine Frage der Summe, sondern auch der Richtung. Die
       neun Milliarden, die bedingungslos an die Lufthansa geflossen sind, haben
       nicht den Arbeitsplatzabbau verhindert und haben auch nicht dazu geführt,
       dass es jetzt ein ökologisches, neues Mobilitätskonzept gibt. Und
       Kleinstunternehmer und viele Freischaffende haben das Problem, dass ihre
       größten Ausgaben ihre eigenen Lebenshaltungskosten sind. Und die sind in
       der Regel nicht gedeckt durch die Hilfen. Sie sind auf Hartz IV verwiesen
       und zu den Tücken gehört, dass das Partnereinkommen mit angerechnet wird.
       Einem Künstler, dem alle Einnahmen wegbrechen, kann komplett der
       Grundsicherungsanspruch verweigert werden, weil seine Frau in der Pflege
       arbeitet.
       
       Ist das ein theoretischer Fall? 
       
       Nein, mehrere Kunstschaffende haben mich darauf hingewiesen.
       
       Sie plädieren dafür, den Lockdown sozial gerechter zu machen und solche
       Menschen besser zu stellen. Wie viel würde das kosten? 
       
       Um die gesamte Summe auszumessen, bräuchte man einen Regierungsapparat. Wir
       schlagen aber eine einmalige Vermögensabgabe für die reichsten 0,7 Prozent
       vor, mit der wir zu Einnahmen im dreistelligen Milliardenbereich kommen
       würden.
       
       Sie wollen Millionäre richtig abzocken.
       
       Bei Menschen ab zwei Millionen Euro Privatvermögen oder ab fünf Millionen
       Euro Betriebsvermögen wollen wir eine einmalige Vermögensabgabe von 10
       Prozent erheben, die auf 30 Prozent ansteigt ab 100 Millionen. Die Abgabe
       kann auch über mehrere Jahre hinweg gestundet werden. Aber es ist nicht
       allein Geld. Während der Weltwirtschaftskrise in den USA hat ja Roosevelt
       sich nicht nur dafür entschieden, viel Geld in die Hand zu nehmen, sondern
       auch auf eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte gesetzt. Jetzt haben
       wir durch Corona wieder eine enorme Krisensituation. Es liegt wieder ein
       Roosevelt-Moment in der Luft, es ist Zeit umzusteuern.
       
       [3][Sie werben in Ihrer Partei für eine künftige Regierung mit Grünen und
       SPD.] Gibt es denn Sympathien bei diesen Parteien für Ihren Vorschlag einer
       Vermögensabgabe? 
       
       Bei der SPD sehe ich sehr wohl, dass sie sich auch Gedanken machen, wie die
       Krisenkosten zu decken sind. Bei den Grünen glaube ich, dass die das gerne
       über poetische Formulierungen lösen, aber nicht offensiv die Frage
       beantworten, wie man verhindert, dass die Krisenkosten auf die Ärmsten und
       die Beschäftigten abgewälzt werden oder auf Kosten des Klimaschutzes gehen.
       
       Sehen Sie derzeit überhaupt eine Dynamik für Rot-Rot-Grün? 
       
       Ich sehe eine Notwendigkeit für soziale Mehrheiten.
       
       Das ist noch keine Dynamik. 
       
       Wenn uns die letzten Monate eins gelehrt haben, dann dass Dynamiken ganz
       schnell entstehen können. Und welche Dynamik entsteht, wenn klar ist, wer
       bei der CDU auf Angela Merkel folgt, ist offen.
       
       Ihr Wunschkandidat? Friedrich Merz? 
       
       Egal, wer von den Jungs das wird, keiner wird in der Lage sein, die
       Bindekraft bei den Wähler:innen zu entfalten, wie sie Merkel gerade
       aufgrund ihrer Krisenpolitik hat.
       
       Kann sich eine rot-rot-grüne Dynamik nur aus einer Gegenbewegung zum neuen
       CDU-Vorsitzenden oder -Kanzlerkandidaten heraus entwickeln? 
       
       Nein, es gibt auch eine Chance, wenn nämlich die drei Parteien deutlich
       machen würden, was es alles zu gewinnen gäbe für die Vielen im Land.
       
       Was denn? 
       
       Ein garantierter Schutz aller vor Armut. Ein Gesundheitswesen, das nicht
       immer am Limit arbeiten muss, sondern das gut ausgestattet ist. Dass wir
       Menschen mit mittleren Einkommen deutlich entlasten. Und natürlich,
       Zukunftssicherung durch Klimaschutz, Friedenspolitik und aktiver
       Abrüstungspolitik. Es gibt ganz viel zu gewinnen. Wenn sich alle Akteure
       diesem Ziel verpflichtet fühlten, könnte man auch dafür eine Begeisterung
       entfachen. Ich merke nur, dass aus den verschiedensten Gründen gerade bei
       vielen der Mut für dieses Werben fehlt.
       
       Fehlt bei den Grünen der Mut oder fehlt die Begeisterung? 
       
       [4][Am Ende des Tages werden sich die Grünen von Fridays for Future harte
       Fragen gefallen lassen müssen.] Wenn es für soziale Mehrheiten links der
       Union reichen würde und sie trotzdem auf Schwarz-Grün setzen und damit vier
       weitere Jahre für den Klimaschutz verloren sind. Dann sind die Grünen in
       echter Erklärungsnot.
       
       Die Skepsis vieler Grüner ist ja nicht unbegründet. [5][In der
       Verteidigungspolitik, in der Außenpolitik gibt es relevante Differenzen]
       zwischen Grünen und Linkspartei. Stichwort Aufrüstung, Stichwort Verhältnis
       zu Russland. 
       
       Das sind Felder, wo in der Tat unterschiedliche Dinge in unseren
       Wahlprogrammen stehen. Und es gibt auch Gründe, warum wir das
       Zwei-Prozent-Ziel ablehnen. Es ist doch offensichtlich, dass unsere
       Sicherheit nicht mit Armeen oder Bombern zu verteidigen ist, sondern wir
       gerade durch ein Virus bedroht werden. Das heißt, wir sollten eher unsere
       Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation aufstocken, anstatt auf
       Aufrüstung zu setzen. Und was Russland anbelangt: Vielleicht gibt es ja
       einen Punkt, wo man sich trifft. Nämlich in der Erkenntnis, dass bei aller
       Meinungsverschiedenheit Entspannungspolitik und Abrüstung wichtig sind.
       
       Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock hat Ende Dezember getwittert, sie
       traue sich auch das Kanzler:innenamt zu. Würden Sie ihr das auch zutrauen? 
       
       Warum soll es sich in einer gemischten Doppelspitze nur der Mann zutrauen?
       Da sage ich als Feministin: Es ist total legitim und richtig, dass die Frau
       das für sich auch in Anspruch nimmt. Annalena hat stark aufgeholt in den
       letzten Monaten. Eigentlich sagen alle: Robert Habeck ist der Bekanntere,
       sie ist diejenige mit mehr Substanz.
       
       28 Dec 2020
       
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