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       # taz.de -- Bezeichnung Arabischer Frühling: Irgendwie alles „Arabien“
       
       > Vor zehn Jahr begann der so genannte Arabische Frühling. Doch die
       > etablierte Bezeichnung zeigt eine vereinfachte Betrachtung komplexer
       > Verhältnisse.
       
   IMG Bild: Ende 2010 und Anfang 2011 gingen wie hier in Marokko die Menschen in Massen auf die Straßen
       
       In diesen Wochen jähren sich die arabischen Revolutionen zum zehnten Mal.
       Ende 2010 und Anfang 2011 gingen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Marokko, im
       Irak, im Jemen, in Bahrain, in Syrien und anderen Ländern im Nahen Osten
       und in Nordafrika die Menschen in Massen auf die Straßen. Millionen Stimmen
       riefen unter Lebensgefahr nach Würde, nach sozialer Gerechtigkeit, nach dem
       Sturz ihrer diktatorischen, teils von Europa, den USA oder Russland
       unterstützen Regime. Im Westen nannte man diese Protestbewegungen pauschal:
       Arabischer Frühling. Das war mindestens dumm.
       
       Ich habe „Arabischer Frühling“ in eine bekannte Suchmaschine auf Arabisch
       eingegeben, als erste Ergebnisse tauchten die Internetseiten der BBC, von
       France 24, von CNN, der Deutschen Welle, von Russia Today, der OECD, der
       UNO und der Nato (!) auf. Das illustriert, dass der sogenannte Arabische
       Frühling eine Projektion ist, die vor allem Orientalismen – also die
       westliche Imagination vom Orient – bedient.
       
       Die Bezeichnung „Arabischer Frühling“ unterschlägt nämlich die Diversität
       der Sprachen, Herkünfte und Identitäten südlich vom Mittelmeer. Dort wird
       mehr als nur Arabisch gesprochen und gedacht. Ich als „Nafri“ habe viel und
       dann wieder nicht so viel mit jemandem aus dem Libanon zu tun. Ich habe
       neulich in einem Tweet festgestellt, dass Marokko zum Beispiel eine große
       indigene Amazigh-Bevölkerung hat. Einige Almans und ihre Token haben sich
       daraufhin empört, weil in ihrer Imagination ab Sizilien alles irgendwie
       „Arabien“, „Morgenland“ und „Islam“ ist. Ya Allah, war das zum
       Fremdschämen.
       
       ## Mehr als nur zehn Jahre
       
       Und dann romantisiert „Arabischer Frühling“ mit dem Verweis auf diese
       schöne Jahreszeit einen politischen Kampf, der bereits viel länger andauert
       als nur zehn Jahre. Die lange Tradition des Widerstands, der spätestens mit
       den Unabhängigkeitskämpfen gegen den Kolonialismus begonnen hat, wird so
       negiert. Gegen das Assad-Regime in Syrien waren schon Menschen in den
       1980er Jahren politisch aktiv, in Ägypten wuchsen Arbeiter*innenkämpfe im
       Nil-Delta und mündeten dann in die Revolutionen von 2011, die Proteste im
       Jemen haben sehr alte, koloniale Wurzeln.
       
       Die Misshandlung eines Gemüsehändlers namens Mohamed Bouazizi im
       tunesischen Sidi Bouzid durch die Polizei und seine Selbstverbrennung im
       Dezember 2010 ist ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der ganzen
       Region. Bouazizis Tod ist aber nicht der Beginn von irgendetwas. Mehr
       sollte im Fokus stehen, was davor geschah und was danach alles verbockt
       wurde.
       
       Auf einen Frühling muss – rein sprachlich betrachtet und zwangsläufig – ein
       Winter folgen. Für den diktatorischen Frost sorgten regionale Akteure und
       Ideologien, aber auch politische Entscheidungsträger*innen in Berlin, Paris
       und Brüssel. Nur ein Beispiel: Ägyptens Regent Abdel Fattah al-Sisi, dessen
       Regime Menschenrechte mit Füßen tritt, bekam neulich von Emmanuel Macron
       feierlich in Paris eine Ehrenmedaille überreicht. Hobby-Orientalist*innen
       empören sich auf Twitter aber lieber über meinen Verweis auf die Vielfalt
       in der Region. Alles klar!
       
       23 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mohamed Amjahid
       
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