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       # taz.de -- Vorbilder für Belarus: Nawalny als Beispiel?
       
       > Wird auch Swetlana Tichanowskaja aus dem Ausland zurückkehren? Olga
       > Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 55.
       
   IMG Bild: Auf der Fahndungsliste: Wird Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja nach Belarus zurück kehren?
       
       Als der russische Oppositionelle Alexei Nawalny nach Russland zurückkehrte,
       wurde er am Flughafen festgenommen. Seit dem 29. Dezember 2020 war er per
       Haftbefehl wegen mehrfacher Verstöße gegen Bewährungsauflagen gesucht
       worden. Übrigens: Auch Swetlana Tichanowskaja (Kandidatin bei der
       belarussischen Präsidentenwahl, Anm. d. Red.) steht in Belarus und Russland
       auf der Fahndungsliste, gegen sie wurden zwei Strafverfahren eingeleitet.
       
       Nach Bekanntwerden der Nachricht aus Russland, verbreiteten sich in der
       belarussischen Öffentlichkeit Aufregung und die Erwartung, dass Swetlana
       Tichanowskaja etwas Ähnliches tun könne.
       
       „Vielleicht folgt Swetlana dem Beispiel von Alexei?“, war in der
       vergangenen Woche die am meisten diskutierte Frage in den sozialen
       Netzwerken und Medien. Doch eine Rückkehr Tichanowskajas in ihr Land unter
       den Bedingungen fortwährender Repressionen bedeuten ihre sofortige
       Festnahme und Haft.
       
       Auch der politische Beobachter Artjom Schraibman befasst sich auf seinem
       Telegramm-Kanal mit diesem Thema: „Diese Argumentation ignoriert die
       einfache Tatsache, dass Tichanowskaja und Nawalny in verschiedenen Ligen
       spielen. Er ist ein vollwertiger Politiker und will das auch bleiben. Sie,
       das ist eine Person, ein Symbol, ein Avatar des belarussischen Protests.
       Sie hat nie diesen Protest anführen wollen und hat das auch nicht getan.
       
       Für Swetlana hat fast niemand als künftige Präsidentin gestimmt. Die
       Menschen haben sie gewählt als eine Art Kompromiss, um sich vom Hier und
       Jetzt zu befreien. Sie hat keine eigene Wählerschaft. Sie – das ist die
       Summe der Wählerschaft ihres Mannes (Sergej Tichanowski, Blogger und seit
       Mai 2020 in Haft, Anm. d. Red.), Babarykas (Wiktar Babaryka, Banker,
       Präsidentschaftskandidat und seit Juni 2020 inhaftiert, Anm. d. Red.),
       Zepkalos (Waleri Zepkalo, wollte bei der Präsidentenwahl antreten, derzeit
       im Exil, Anm. d. Red.) und der traditionellen Opposition.
       
       Die Funktion Nawalnys, das ist der Kampf um die Macht, das heißt der Aufbau
       politischen Kapitals im Land. Aus der Emigration ist das praktisch
       unmöglich. Außer Lenin und Chomeni kennt die Geschichte hunderte vergessene
       politische Emigranten. Nawalny hat gezeigt, dass er zu maximalen Opfern um
       seines Kampfes willen bereit ist. Und Politik ist ein Willenskampf. Seine
       Anhänger und potenziellen Unterstützer wissen das zu schätzen. Das ist ein
       riskanter Weg – eine Investition in seine politische Karriere und das auf
       Jahre hinaus.
       
       Die Funktion von Tichanowskaja ist die Verkörperung des belarussischen
       Protests. Sie hat es nicht nötig, im Land eigenes Kapital anzuhäufen. Sie
       braucht nach dem Rückzug dieser Macht nirgendwo gewählt zu werden, sie
       braucht keine Zustimmung. Vor alle nicht um die Preis, ihre Kinder ohne
       beide Elternteile zurück zu lassen und das für viele Monate. Allein Ihre
       Ankunft und ihre Haft könnten zum Auslöser für tagelange Proteste werden.
       Im ganzen Land wird es Menschenketten als Zeichen der Solidarität geben,
       Sanktionen gegen die Staatsmacht werden verschärft. Wird das schwerer
       wiegen, als ihre internationalen Aktivitäten? Das bezweifle ich sehr. In
       diesem Sinne wäre ihre Rückreise ein Kamikadze-Flug, aber nicht einmal in
       einen feindlichen Flugzeugträger, sondern auf den Gipfel eines feindlichen
       Territoriums. Hell und schön, jedoch einfältig.
       
       Während eines Online-Treffens mit den Botschaftern der OSZE kam Swetlana
       Tichanowskaja auch auf dieses Thema zu sprechen, kommentierte die
       Bedingungen ihrer Rückkehr und rief internationale Organisationen dazu auf,
       ihr und anderen Führern der demokratischen Bewegung bei der Organisation
       einer sicheren Rückkehr nach Hause zu helfen.
       
       „Gegen mich wurden zwei Strafverfahren eingeleitet. Für meine Rückkehr muss
       es spezielle Garantien geben“, schreibt sie auf ihrer Seite. „Ich werde
       zurück kehren, wenn meine Sicherheit gewährleistet sein wird. Die Situation
       mit Nawalny hat gezeigt, dass wir die Hilfe der Internationalen
       Staatengemeinschaft brauchen, allem voran der OSZE.“
       
       Eine schöne Nachricht für die Belarussen war, dass dem Präsidenten sein
       liebstes Spielzeug weg genommen wurde – [1][die
       Eishockey-Weltmeisterschaft]. Jetzt sei das Eis mit Blut getränkt, merkte
       Swetlana Tichanowskaja an. Und die Weltmeisterschaft hätte zu weiteren
       Repressionen und Festnahmen geführt, wenn die Organe der inneren Sicherheit
       damit begonnen hätten „die Stadt vor Protestierenden zu schützen“.
       
       Derzeit gibt es in Belarus mehr als 190 politische Gefangene, mehr als 1000
       Strafverfahren sind anhängig. Mehr als 32.000 Menschen wurden [2][wegen
       ihrer politischen Haltung festgenommen]. Das entspricht der Größe der
       Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Einige gerieten für einen Tag zufällig
       in Haft – einfach so und nur, weil sie in der Nähe der Proteste spazieren
       gegangen waren.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       28 Jan 2021
       
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       disqualifiziert.