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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Manche nennen ihn Spinner
       
       > Als Stadtrat und Vorsitzender des Heimatvereins fühlt sich der Zugezogene
       > Günther Langer in Siegen längst wie ein Einheimischer.
       
   IMG Bild: Günther Langer in seinem Haus in Siegen
       
       Seit 20 Jahren ist Günther Langer Vorsitzender des Heimatvereins Achenbach
       in Siegen, obwohl er gar nicht von dort kommt. Doch seit mehr als 30 Jahren
       lebt Langer der Liebe wegen nun in der Stadt und fühlt sich verwurzelt.
       
       Draußen: Auf und ab fährt Langer in seinem Auto durch den Ort. Siegen ist
       hügelig, auf sieben Hügeln wurde es gebaut. Da, wo Langer schließlich hält,
       reihen sich Einfamilienhäuser mit Schieferfassaden aneinander.
       
       Oben und Unten: In Siegen gibt es ein „Oben“, so nennen die Einwohner
       Heidenberg, den Ort, der eben oben, auf einer Anhöhe, liegt. Hier gibt es
       Mehrfamilienhäuser, 40 Prozent Sozialhilfeempfänger, [1][30 Prozent
       AfD-Wähler]. So beschreibt es Günther Langer. Und ein „Unten“, das eher gut
       situierte Viertel im Tal, wo man von Gartenzaun zu Gartenzaun grüßt. Dort
       wohnt er mit seiner Frau, seiner Tochter und dem Schnauzer Blacky. Eine
       bürgerliche, konservative Gegend: Man müsse mitgehen mit dieser
       Spießigkeit, sagt Langer.
       
       Immer noch draußen: Der [2][Hausbesuch] findet an einem Sommertag statt.
       Langer war gerade im Sozialkaufhaus, einer Aktion des Heimatvereins. Sie
       liefern in Coronazeiten Essen aus, erzählt er, und lässt sich auf seinen
       Gartenstuhl fallen. Der Rasen ist auf wenige Zentimeter gestutzt. Am Ende
       der Terrasse parkt ein Rasenmähroboter. Blickdichte Hecke. Dies sei der
       Gästegarten, erklärt Langer, der, in dem er Besuch empfange. Hinterm Haus
       sei noch ein Garten, mit Unkraut, wilden Walderdbeeren und Grasfröschen.
       
       Der Mann: Langer, 58, kariertes Hemd und Kurzhaarschnitt, ist einer, den
       die Leute auf der Straße grüßen, wenn er mit dem weißen Wagen vorbeifährt.
       Er ist seit 20 Jahren Vorsitzender des Heimatvereins. Noch viel länger ist
       er Mitglied der Brüdergemeinde, einer freikirchlichen Bewegung. Seit 27
       Jahren unterrichtet er vormittags an einer Weiterbildungsschule für den
       Hotel- und Gaststättenbereich. Und täglich arbeitet er ehrenamtlich im
       Heimatverein und im Stadtrat. Manchmal müsse seine Frau unter alldem
       leiden. „Ich hol mal gerade den Kaffee“, sagt er – in niederrheinischem
       Dialekt.
       
       Die Wurzeln: Aufgewachsen ist er in Berlin-Wedding, als es dort noch Felder
       und Schweineställe gab: „Heute ist ja alles Grüne voll gebaut.“ In der
       Schule wurde noch geübt, sich unter dem Tisch zu verbarrikadieren, falls
       der Atomkrieg kommt: „Ich habe diese Krisen alle miterlebt.“ Die Eltern
       waren Zollbeamte und katholisch. Schon früh trat der Sohn aus der Kirche
       aus. Was er am katholischen Glauben nicht mochte: dass er Menschen
       ausgrenzt.
       
       Angekommen: Eigentlich ist Langer Gastronom, doch gereicht hat ihm das nie.
       Fünf Lehren und zwei Meistertitel absolvierte er, bevor er in Siegen
       landete. Was ihn dort schließlich hielt: seine Frau, die er bei der
       Brüdergemeinde kennenlernte. „Die Siegerländer ziehen nicht weg“, sagt er.
       
       Tradition: Eine Familie war erst nicht geplant: „Wir hätten nicht gedacht,
       dass da ein Kind kommt.“ So drückt Langer das aus. Dann aber seien sie doch
       der Tradition gefolgt, Langer zählt an einer Hand ab: „Hochzeit, Kinder,
       Haus.“ In der Wohnzimmervitrine steht eine Vase, ein Geschenk zur Silbernen
       Hochzeit. Familienbilder über dem Fernseher. Die Tochter,
       Einzelhandelskauffrau, 21, lebt in der dritten Etage. Der Schwiegervater,
       84, im Hinterhaus. Er fährt seine Enkeltochter jeden Tag zur Arbeit.
       
       Der Verein: Das Sozialkaufhaus ist ein Langzeitprojekt des Heimatvereins,
       der mehr machen möchte als „Bänke streichen und Blumen pflanzen“. Vor 20
       Jahren wurde Langer dort Vorsitzender. Damals hatte der Verein 179, heute
       460 Mitglieder. Das Durchschnittsalter sei auf 30 Jahre gesunken.
       
       Die Projekte: Für einen Euro kauften sie eine Kirche und funktionierte sie
       zum Wohnprojekt für Wohnungslose um. Gerade rufen sie eine etwas andere
       Lokalwährung ins Leben – einen Tauschhandel: Gartenarbeiten gegen ein
       geliehenes Fahrrad zum Beispiel. Während des ersten Coronalockdowns legte
       Langer mit Jugendlichen einen Selbstversorgergarten an. Dann bauten sie ein
       Baumhaus für Wohnungslose. „So was Verrücktes“, sagt er selbst. Manche
       nennen ihn wegen all seiner Ideen einen Spinner. Langer legt seinen Arm auf
       der Lehne ab und lächelt. Ein bisschen gefällt ihm das auch.
       
       Heimat: Ein Zugezogener als Vorsitzender des Heimatvereins? „Natürlich“,
       meint Langer. Heimat sei ja nicht „da, wo man geboren ist, sondern da, wo
       man sich wohlfühlt“. Oder auch: „Wo man die Verbindlichkeit der Menschen
       spürt, wenn man ihre Zuneigung gewonnen hat.“
       
       Viel zu tun: Er gratuliert persönlich zu jedem Geburtstag ab 70: „Eine
       Grenze muss man sich ja setzen.“ Alles andere wäre zu viel. Er schiebt sein
       Smartphone über den Glastisch. Eine Liste mit Geburtstagen und Adressen,
       aus dem Gemeindeblatt notiert, ist darauf gespeichert. Er kommt mit Blumen
       und Karten vorbei, nimmt sich die Zeit für Gespräche. Aus Nächstenliebe,
       sagt er. Zeit und Nächstenliebe, beides etwas, das heutzutage oft fehle.
       Die Bilder der Besuche stellt Langer ins Netz, auch um andere zu
       motivieren, selbst mal wieder Familienmitglieder und Nachbarn zu besuchen.
       
       Gegen die Vereinsamung: Langer steckt sein Handy wieder ein. Während
       [3][Corona] seien nicht nur viele an der Lungenkrankheit gestorben, sondern
       auch an der Einsamkeit, sagt er. Er habe von Leuten gehört, die allein im
       Krankenhaus gestorben seien. „Ich hätte das schon gerne alles stärker
       hinterfragt“, sagt er über die Maßnahmen. Dennoch: „Ich halte mich an die
       Verordnungen.“ Trotzdem besuchte er die Nachbarn, grüßte aus der Distanz,
       unterhielt sich an Türschwellen, schrieb Briefe und E-Mails, telefonierte
       stundenlang, hörte sich die Sorgen an. Während er das erzählt, kommt ein
       Auto in der Hofeinfahrt quietschend zum Stehen. „Jetzt kommt die Frau.“ Ein
       Küsschen auf den Mund, dann trägt sie ihren Einkaufskorb ins Haus.
       
       Drinnen: Durch die Terrassentür gelangt man ins Wohnzimmer. Von dort geht
       es in die Küche. Es sei die vierte Einbauküche, seit sie das Haus gebaut
       haben: „Es muss ja interessant bleiben.“ Eine Abzugshaube wie ein
       Bildschirm. Den Geschirrspüler auf Hüfthöhe gebaut, altersgerecht. Die
       Tischplatte aus Schiefer („auch ein Stück Heimat“). Die Einrichtung komme
       aus einem Möbelhaus ein paar Orte weiter.
       
       Verspieltes: Im Wohnzimmer wachsen Pflanzen aus Sektkübel: „Wir lieben das
       Verspielte.“ Couchgarnitur und Wand sind bordeauxrot und grau. Seine Frau
       habe die Farben ausgesucht, sagt Langer. Sie sei gut darin. „Und er gut im
       Reden“, entgegnet sie im Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen
       vergraben.
       
       Nicht nur Freunde: „Ich singe für mein Leben gerne und laut“, erzählt
       Langer. Er habe da ein Lieblingslied, genauer eine Lieblingsstrophe, in der
       es heißt: „Danke, wenn auch dem größten Feinde ich verzeihen kann.“ Das
       passe gut, denn er selbst habe viele Neider. Bei der letzten Stadtratswahl
       erreichte er in manchen Bezirken mehr als 75 Prozent. Das hätten ihm nicht
       alle gegönnt. „Natürlich, das knabbert an einem“, sagt er. Einer Partei
       gehört Langer nicht an.
       
       Lokalpolitik: Mit dem Bürgermeister reibt er sich schon seit Jahren. Denn
       dem gehe es weniger um das Wohl der Gesellschaft als um sein
       Parteiprogramm, meint Langer. Doch als er gefragt wurde, ob er selbst
       kandidieren wolle, verneinte er: „Ich will den Menschen nicht anonym
       begegnen“, nämlich nicht nur als Mandatsträger, sondern weiter als
       Privatperson. „Mit einem Gesicht“, sagt er, setzt die Brille ab und lauscht
       Richtung Hecke. Er hat es rascheln gehört – Mäuse im Garten.
       
       Die Zukunft: Angst vor dem Alter hat Langer nicht, aber: „Ich merke schon,
       dass ich nicht mehr 30 bin.“ Mit 61 wird er in den Vorruhestand gehen, an
       Aufgaben werde es ihm nicht mangeln. Und man wisse ja nie, wie es kommt:
       Wenn es etwa die Coronakrise nicht gegeben hätte, hätten die Jugendlichen
       heute nicht ihren Garten. Nur eines sei ganz klar: „Ich gehe hier nicht
       weg.“
       
       Das gute Leben: Er könnte gerade nicht zufriedener sein. Wegen Corona habe
       er viel Zeit für die Familie, genießt etwa das tägliche Abendessen. Dann
       ein Glas Wein mit einem Nachbarn, der mal auf der Terrasse vorbeikommt.
       „Das ist das gute Leben“, vieles andere sei überflüssig.
       
       ***
       
       Anmerkung der Redaktion, April 2023: Im September 2022 beging Günther
       Langer Suizid, nachdem eine Lokalzeitung ihn der sexuellen Belästigung
       beschuldigte. Den Fall haben die KollegInnen der Zeit [4][ausführlich
       recherchiert] und zuletzt in [5][einem Podcast] thematisiert.
       
       16 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-AfD/!t5495296
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   DIR [3] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
   DIR [4] https://www.zeit.de/2023/03/guenther-langer-suizid-siegen
   DIR [5] https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-03/guenther-langer-suizid-verbechen-podcast
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ann Esswein
       
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