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       # taz.de -- Neuer Roman von Julia Deck: Banale Ungeheuerlichkeit
       
       > Eigenheim ist nicht Glück allein. In „Privateigentum“ dekonstruiert Julia
       > Deck die Vorstellung vom perfekten Leben in der Pariser Vorstadt.
       
   IMG Bild: Zählt zu den Nachkommen des Nouveau Romane: Autorin Julia Deck
       
       „Ich habe dir sofort gesagt, dass es falsch wäre, den Kater zu töten.“ Ein
       Beginn in medias res, mit undurchsichtigem Ich, das sich an ein mysteriöses
       Du wendet – sämtliche Spielregeln des Nouveau Roman ploppen auf im neuen
       Roman der [1][französischen Schriftstellerin Julia Deck]. Unter dem Titel
       „Privateigentum“ ist er in der deutschen Übersetzung von Antje Peter bei
       Wagenbach erschienen.
       
       „Der schlechte Romancier konstruiert seine Figuren. Der wahre Romancier
       hört ihnen zu und lässt sie agieren“, notierte Nobelpreisträger André Gide,
       der als stilprägend für den Nouveau Roman galt, in seinem Journal.
       
       Zu den schöpferischen [2][Nachkommen des Nouveau Roman] zählt Julia Deck,
       die sich bereits in ihren ersten beiden Romanen „Viviane Élisabeth
       Fauville“ und „Winterdreieck“ als exzellente Beobachterin der Bizarrerien
       der „bobos“ – der französischen Bohemien-Bourgeoise – hervorgetan hat.
       
       In „Privateigentum“ bettet sie nun die Fantasievorstellung des Eigenheims
       in eine Szenerie des steten Verfalls: Ich-Erzählerin Eva Caradec, eine
       wohlhabende Stadtplanerin, zieht mit ihrem depressiven Ehemann Charles in
       ein Ökoviertel am Pariser Stadtrand, in ein Haus, in dem ihr gemeinsamer
       Traum von einem besseren Leben endlich Gestalt annehmen kann.
       
       ## Die Hölle, das sind die Nachbarn
       
       Dafür sorgen Solar- und Müllverwertungsanlage genauso wie Garten,
       Gemüsebeet und Kompost: „Ich dachte, dass wir wirklich Grund hatten,
       glücklich zu sein, es sprach einfach alles dafür.“
       
       Doch die Hölle, das sind die Nachbarn, und die Idee des neuen Zuhauses
       weicht zusehends dem Gefühl des Erstickens an einem Ort, an dem Minishorts
       so skandalträchtig sind wie bekleckerte Blusen und Menschen mehr Gefallen
       am malheur altrui finden als an der Verwirklichung des eigenen Lebens.
       
       Statt im [3][grünen Glück] finden sich die Caradecs in der Vorstadthölle
       wieder: Hinter dem Gediegenen lauert das Durchtriebene, sich liberal-sozial
       rühmende Nachbar*innen setzen die Nachbarstochter als Babysitterin ein,
       vergessen jedoch nicht, „ihr auch noch das Bügeln der Wäsche aufzutragen,
       damit sie nicht fürs Nichtstun bezahlt würde, sobald die Kinder im Bett
       waren“.
       
       Stück für Stück treibt die nachbarschaftliche Gerüchteküche die Handlung
       voran: Spätestens mit dem Einzug der Lecoqs bröckelt die Fassade der
       ethisch einwandfreien Neubausiedlung und mit ihr das Vertrauen in die
       Erzählerin, denn Eva entpuppt sich als fragwürdige Zeugin der Vorfälle, die
       sich in und um ihr Heim entspinnen: „Als ich nach Hause kam, warst du schon
       im Bett und gabst vor zu schlafen. Ich gab vor, es zu glauben.“
       
       ## Die unzuverlässige Autorin
       
       Neu ist das Konzept der [4][unzuverlässigen Erzählerin] nicht. Spaß macht
       es trotzdem. Wer je in das Vergnügen einer Nachbarschaft gekommen ist, wie
       sie Julia Deck hier beschreibt, weiß um die Kunst, eine Intrige zu
       konstruieren, um scheinbar belanglose Details. Was, fragt man sich als
       aufmerksame*r Leser*in, sollte mich mehr interessieren: was Eva erzählt
       oder was sie verschweigt?
       
       Es ist Decks Verdienst, jene Details groß zu machen, über die der*die
       eilige Leser*in gern hinwegsprintet: Ihr erzählerisches Augenmerk ruht auf
       den lächerlichen, zweitrangigen, banalen Ungeheuerlichkeiten, die sie wie
       nebenbei einstreut und zu denen sie ebenso leicht immer wieder zurückkehrt.
       
       18 Jan 2021
       
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