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       # taz.de -- CDU und Konservativismus in Deutschland: Gespenster der CDU
       
       > Die Niederlage von Friedrich Merz zeigt: Die gutbürgerliche Welt mit
       > ihrem festen Wertekanon taugt nicht mehr als Identitätsmarkierung für die
       > Union.
       
   IMG Bild: Zurück nach 1986? Das hat die CDU mit der Wahl von Armin Laschet jetzt abgewendet
       
       Die Wende der CDU nach rechts, zum Zackigen, auch Unberechenbaren fällt
       aus. Auch manche, die früher zum rechten Flügel gehörten, misstrauen der
       konservativen Versuchung, die [1][Friedrich Merz] verkörpert. Denn die
       andere Seite des schneidig Entschlossenen ist das Verstaubte, aus der Zeit
       Gefallene. Bei Merz kam das überdeutlich zum Vorschein, als er „die Sache
       mit den Frauen“ ansprach und gegen sein Image, „ein Frauenproblem“ zu
       haben, seine Gattin und Töchter anführte. 2017 haben nur 29 Prozent der
       Männer, aber 37 Prozent der Frauen die Union gewählt. Da kann man sich
       keinen Chef leisten, der klingt, als käme er aus dem Kegelclub in Brilon
       anno 1985.
       
       [2][Armin Laschet] hat suggestiv die Gefahren beschworen, die eine
       konservative Wende für die CDU bedeuten und die Polarisierung (also Merz)
       mit Trump und dem Sturm auf das Kapitol assoziiert. Die Merkel-Union ist
       international gesehen fast ein Unikat: Die Republikaner in den USA haben
       einen Pakt mit dem Rechtspopulismus geschlossen. Die Tories sind mit Boris
       Johnson auf regressiv-nationalistischem Kurs. In Frankreich und Italien
       sind die Konservativen und Christdemokraten an den Rand gedrängt worden.
       Das, so Laschets subtil eingeflochtene Drohung, blüht auch hier, wenn die
       CDU von Merkels Mitte-Kurs abweicht.
       
       Die Entscheidung für Laschet und gegen Merz fügt sich nahtlos in die
       Geschichte der Union ein. An historischen Wegmarken hat sie sich stets für
       das Pragmatische, Mittige entschieden – und gegen die konservative
       Richtung. Die CDU war von Beginn an eine Sammlungsbewegung von beachtlicher
       inhaltlicher Unschärfe. Ihr erstes Grundsatzprogramm verabschiedete sie
       1978, mehr als 30 Jahre nach ihrer Gründung. Unter Helmut Kohl blieb die
       geistig-moralische Wende ebenso aus wie die neoliberale Revolution von
       Thatcher und Reagan. Für Kohl war, was Merkels Kritiker heute gern
       vergessen, die Mitte der magische Ort bundesdeutscher Politik.
       
       Die Bedingungen für eine konservative Wende sind seit Kohls Zeiten nicht
       besser geworden. Denn die Konservativen brauchen zweierlei – einen Gegner
       und eine traditionelle Kultur, die es zu verteidigen gilt. Mit den Feinden
       sieht es seit dem Untergang des Realsozialismus 1989 und der Integration
       der 68er in das bundesdeutsche Selbstverständnis nicht gut aus. Alexander
       Dobrindts Versuch, eine „konservative Revolution“ anzuzetteln und die 68er
       doch noch zu besiegen, war ein PR-Gag, der im Altpapier landete. Für den
       Kampf gegen den rechtspopulistischen Angriff auf die Demokratie sind die
       Konservativen nur bedingt zu gebrauchen. Immerhin haben zwei intellektuelle
       Galionsfiguren der CDU-Rechten, Alexander Gauland und Konrad Adam, die AfD
       mitbegründet.
       
       Der tiefere Grund für Merz' Scheitern ist kultureller Art. Die
       gutbürgerliche Welt mit ihrem festen Wertekanon – Heimatliebe und
       Patriotismus, Kirchgang und Staatstreue – taugt nicht mehr als
       Identitätsmarkierung für die Christdemokraten. Das früher scharf zu
       Unterschicht und Proletariat abgegrenzte bürgerliche Milieu ist prekär
       geworden: Es existiert im Modus des Verfalls. Wie schwankend das
       bürgerliche Wertegerüst von Ehre und Tugend geworden ist, zeigte Kohl
       selbst, als er in der Spendenaffäre sein Ehrenwort über das Gesetz stellte.
       
       Auch die Klage der Konservativen, dass [3][Merkel] die Union an den
       rot-grünen Zeitgeist verraten habe, hat etwas Unscharfes. Als Beispiele
       werden meist der Mindestlohn, die Abschaffung der Wehrpflicht, der Ausstieg
       aus der Atomkraft und der Flüchtlingsherbst 2015 genannt. Doch auch
       CDU-Rechte wollten nach Fukushima die AKWs abschalten. Die Wehrpflicht hat
       ein CSU-Minister abgeschafft. Beim Mindestlohn waren die Konservativen
       gespalten. Verrat ist zudem ein Wort der Linken, die mannigfach Renegaten
       und Dissidenten produziert hat. Verrat setzt die Fallhöhe von Vision und
       Wirklichkeit voraus. Die CDU, deren Kernkompetenz die Anpassung an die
       Umstände ist, ist angesichts ihres Mangels an Idealen für Verrat eher
       ungeeignet. Eigentlich könnte sie sich in PPP umbenennen – „Partei für
       postideologisches Problemlösen“.
       
       Das kann sie natürlich nicht, auch wenn es eine korrektere Bezeichnung
       wäre. Die Antworten der Konservativen sind untauglich – aber ihre Frage,
       wer die CDU ist, trifft die Partei ins Mark. Deshalb hat fast die Hälfte
       Merz gewählt. Das ist Ausdruck eines heftigen Verlangens nach Identität,
       Abgrenzung und einer Zeit, die es so weder bei Adenauer noch bei Kohl gab.
       Die Frage, was die CDU ist, ist am Ende der Merkel-Ära offen. Und Laschet
       wird sie kaum beantworten können.
       
       Für Laschet geht der Stress nach diesem Sieg weiter. Gerade weil die
       inhaltlichen Bindekräfte in der Union so lose sind, ist die Figur an der
       Spitze entscheidender als etwa bei SPD oder Grünen. Merkel hat Herrschaft
       durch Moderation perfektioniert. Diese Technik erfordert Geduld,
       Verlässlichkeit und eine Unerschütterlichkeit, die man Laschet, der
       mitunter etwas nervös wirkt, nicht unbedingt zutraut.
       
       ## Unerfüllte Sehnsucht
       
       Friedrich Merz bleibt in diesem Bild der unerlöste Geist der Union, der nie
       gewinnt, aber auch seine Niederlagen nie akzeptiert. Jetzt will er
       Wirtschaftsminister werden – aus einem Misserfolg Karriereansprüche
       abzuleiten, ist ungewöhnlich, aber für Merz' Egozentrik typisch. Die
       Botschaft ist: Er gibt nie auf.
       
       Die nächste Regierung, vermutlich Schwarz-Grün, wird für die Union genau so
       funktionieren wie die mit der SPD: Der Koalitionspartner gibt die Richtung
       vor, die Union bremst und verwaltet. Endlich mal konservativ zu sein wird
       für die Union bleiben, was es jetzt ist: eine unerfüllbare, aber nagende
       Sehnsucht.
       
       Merz und die Konservativen in der CDU sind wie Gespenster. Diffus und
       schwer zu greifen. Bei Gespenstern weiß man oft nicht, ob sie nur arme
       Schattenwesen sind – oder doch gefährlich.
       
       17 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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